SPOX: Herr Kistner, wie haben Sie reagiert, als Sie von Joachim Eckerts Bericht zu den Ermittlungen von FIFA-Chefermittler Michael J. Garcia gehört haben?
Thomas Kistner: Ich hatte mit einer Farce gerechnet, aber nicht mit einer solchen. Die erste Überraschung wurde dann relativiert durch den Vorstoß von Garcia: Dass Eckerts Bericht falsch und unvollständig sei. Er hätte das auch intern kommunizieren können, doch er hat bewusst den lärmenden Weg über die Medien gewählt. Das war eine öffentliche Demonstration.
SPOX: Wie ist Eckerts Rolle zu bewerten? Ein hochangesehener Richter, der die Ermittlungsergebnisse von Garcia derart falsch interpretiert?
Kistner: Eckert ist ein klassischer deutscher Strafrichter. Er klebt an Paragraphen, für ethische und politische Konflikte hinter den Dingen hat er offenkundig kein Gespür. Und damit ist er aus meiner Sicht für die Rolle als Vorsitzender dieser FIFA-Kammer nicht geeignet. Ein Richter muss in seinen Urteilen auch ein Minimum öffentlicher Glaubwürdigkeit wahren...
SPOX: ...die in diesem Fall kaum gegeben ist.
Kistner: Genau das meine ich. Es wimmelt nur so von Ermittlungsdefiziten oder Interpretationsdefiziten. Das führt dazu, dass die WM-Vergabe nach Katar und Russland von jeglicher Korruption freigesprochen wurde. Doch obendrauf kommt etwas wirklich Unverzeihliches: Eckerts Einschätzung von FIFA-Präsident Sepp Blatter, den er in seinem Bericht ausdrücklich gelobt hat. Auf den Freispruch auch noch diese Lobpreisung Blatters zu satteln, ist in meinen Augen die ultimative Bankrotterklärung. Eckert beschreibt Blatter als einen echten Reformer. Das ist ein Beweis, dass Eckert überhaupt keine Ahnung hat, in welcher Welt er sich da bewegt.
SPOX: Garcia hat genau diese Passage besonders angeprangert, weil er in seinem eigenen Bericht dazu keinerlei Anlass sah. Wer der beiden ist nun im Recht?
Kistner: Es wäre ja auch denkbar, dass Garcia mit seinen Aussagen nur viel Wind macht. Trotzdem ist eines ist klar: Eckert kommt aus dieser Nummer nicht mehr raus. Denn falls er Garcias Bericht tatsächlich richtig interpretiert hat, dann müsste dieser ja komplett substanzlos sein. Und dann hätte er ihn Garcia kräftig um die Ohren hauen müssen, nach den jahrelangen und Millionen Euro teuren Ermittlungen. Das wäre nicht hinnehmbar. Und es ist Eckerts Aufgabe, Ermittlungen wieder aufleben zu lassen oder selbst zu führen, wenn er sie für unvollständig hält. Es war zudem klar, wo Garcia ermitteln musste. Ganz viele dubiose Dinge sind bekannt. Jeder, der seit Monaten Zeitung liest, ist besser informiert als der Leser dieses Schlussberichts. Doch all diese Korruptionsaspekte tauchen in Eckerts Report nicht auf oder werden als harmlos wahrgenommen. Diesen Bericht muss man in der Luft zerreißen - gerade unter ethischen Aspekten.
SPOX: Es wirkt, als wolle oder könne Eckert bestimmten Hinweisen nicht nachgehen. FIFA-Richter Eckert - blind, taub und stumm?
Kistner: Das kann man durchaus so sehen. Denn man muss aus bestimmten Hinweisen einfach Konsequenzen ziehen. Wenn Russland behauptet, sie hätten bei der Bewerbung mit geleasten Computern gearbeitet, die nun zerstört seien und man deshalb auf die Daten keinen Zugriff mehr habe, ist das hanebüchen. Es geht um ein Milliardenprojekt Putins und die leasen sich irgendwo irgendwelche Computer? Solchen Blödsinn kann man nicht einmal einem Grundschüler verkaufen. Das ist lächerlich. Da muss doch ein Eckert stutzig werden und sagen: "Veralbern kann ich mich selber!" Stattdessen hat er es grußlos durchgewinkt.
SPOX: Es scheint, als würde Eckert die Spielarten im Hause FIFA nicht kennen, oder?
Kistner: Das ist jedenfalls die günstigste Erklärung für ihn, denke ich. Eckert stellt es in dem Bericht ja auch so dar, als würden die Mitglieder ins Exekutivkomitee ohne Blatters Einfluss gewählt werden. Stimmt, rein formal ist es so. Aber wie ist es wirklich? Stellen Sie sich das vor: Der arme Blatter, der die FIFA im vierten Jahrzehnt an der Spitze lenkt und alles und jeden kontrolliert - er sitzt da in seinem Büro, die Tür geht auf und 24 wildfremde Gesellen marschieren herein, mit denen er jetzt vier Jahre lang irgendwie zurechtkommen muss. Das ist natürlich kompletter Unfug. Blatter selbst dreht an den Stellschrauben bei den Kontinentalverbänden, die formal in der Tat bestimmen, wer ins Exekutivkomitee kommt. Und das tat er schon immer. Ohne ihn hätte Platini nie Uefa-Chef gegen Amtsinhaber Johansson werden können. Und genau deshalb kamen Leute wie Bin Hammam, Warner, Temarii, Blazer, Teixeira und andere rein und konnten sich die Taschen vollstopfen.
SPOX: Woher rühren Eckerts abwegige Interpretationen?
Kistner: Es gibt für mich zwei Möglichkeiten: Entweder Eckert spielt in Verkennung der wesentlichen Unterschiede zwischen einem Straf- und einem Ethikrichter mit seinem Namen. Oder er ist nicht der alleinige und völlig unabhängige Autor dieses Berichts.
SPOX: In England, das sich auch für die WM 2018 beworben hatte und der FIFA sehr kritisch gegenübersteht, wird die Veröffentlichung des Garcia-Berichts gefordert. Dabei würde zwangsläufig entweder Eckert oder Garcia sein Gesicht verlieren, oder?
Kistner: Absolut. Nur einer der beiden kann richtig liegen. Aber eigentlich könnte nur Garcia ein bisschen Gesicht wiedergewinnen. Man kann sich ja ungefähr vorstellen, wie subtanzlos sein Bericht sein müsste - auf 430 Seiten, basierend auf einem 200.000-seitigen Dossier - wenn Eckert daraus auch noch das stärkste Exzerpt herausgefiltert hat. Wenn dem wirklich so ist, dann verlieren beide ihr Gesicht. Dann hätte Garcia eben ungenügend ermittelt und Eckert hätte es nie hinnehmen dürfen.
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