Mit Autokratie in die Weltgruppe

Andreas Inama
12. Juni 201516:49
Antonio Conte ist seit August 2014 Trainer der italienischen Nationalmannschaftgetty
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Antonio Conte hat die Squadra Azzurra übernommen, nachdem man in der Weltmeisterschaft sang- und klanglos untergegangen war. Nun liegt es an ihm, den italienischen Calcio wieder in die Weltspitze zu führen. Der Weg erweist sich zwischen Systemschwierigkeiten, einen bescheidenen Start in die EM-Qualifikation sowie vermeintlich falschen Schlüsselspielern als sehr schwierig.

Am 19. August 2014 wurde Antonio Conte als der neue Chef der italienischen Nationalmannschaft vorgestellt. Und gleich zum offiziellen Beginn seiner Amtszeit sorgte er wie gewöhnlich für Zündstoff: "Wer Antonio Conte als Profi und als Mensch kennt, weiß, dass niemand außer ich die Entscheidungen trifft. Niemals!"

Uneingeschränkte Macht war schon immer Contes Maxime - und auch der Knackpunkt bei Juventus, der ihn schließlich zum Rücktritt bewegte und einen Bruch mit seiner Herzensmannschaft bedeutete.

Contes uneingeschränkte Macht

Nun kann der eigenwillige Süditaliener selbst bestimmen, wie er Italien nach der Schmach in Brasilien neu aufbauen will. Überraschenderweise änderte er, zumindest anfangs, gar nichts. "Die Mannschaft wird im Großen und Ganzen die gleiche bleiben, wie die von Cesare Prandelli. Vielleicht passe ich einige Kleinigkeiten an, damit mein System funktioniert, aber sonst ändere ich wenig."

Prandelli, der in die Nationalmannschaft einen Ethik-Kodex festgelegt hatte, scheute nicht davor zurück, gestandene Namen nach Disziplinlosigkeiten zuhause zu lassen und zog diese Linie rigoros in seiner Amtszeit durch. Auch Contes Machtanspruch lässt wenig Spielraum für etwaige Undiszipliniertheiten seiner Spieler. Er ist der Boss - wer sich nicht anpasst und bedingungslos hingibt, bekommt keine Chance.

Keine Freifahrtscheine

"Ein paar Minuten in der Liga oder ein, zwei Tore in einem Spiel bringen gar nichts. Die Nationalmannschaft muss man erobern, es ist eine Auszeichnung," forderte Conte bei einer Pressekonferenz. "Man muss dafür leiden können. Eine potentielle Nominierung soll jeden beim eigenen Ehrgeiz kitzeln. Wenn man nicht nominiert wird, soll es einem zu grübeln geben und ein weiterer Ansporn sein. Bei mir zählen Prinzipien mehr als Statistiken."

In der Tat scheut auch Conte nicht vor großen Namen zurück. Gianluigi Buffons Monopol auf die Torhüterposition hat schon Risse bekommen, Salvatore Sirigu macht dem italienischen Idol den Posten streitig. Auch Andrea Pirlo gilt nicht mehr als unentbehrlich.

Mario Balotelli steht mit bisher nur einer Einladung als das beste Beispiel für diese neue Linie. Bei Prandelli immer wieder begnadigt, wird bei Conte beim hochveranlagten Exzentriker keine Ausnahme gemacht. "Wenn ich die Wahl zwischen einem guten Spieler, aber ausgezeichneten Menschen und einem großartigen Spieler mit schlechter Persönlichkeit habe, dann wähle ich immer ersteren."

Das Dogma des 3-5-2

Das System von Conte ist seit vier Jahren in Italien bekannt und steht für drei Meistertitel in Folge. Das 3-5-2 ist mittlerweile eine Marke im Stiefelstaat, die in der Serie A zahlreiche Nachahmer gefunden hat.

"Im Gegensatz zu Juve, wo auf den Außen jeweils ein Verteidiger und ein Mittelfeldspieler aufgelaufen sind, möchte ich nun aber zwei Außenspieler, einen auf der Halbposition und einen auf dem Flügel, die sich immer in die Offensive einschalten können. Defensiv soll schließlich ein 4-4-2 entstehen, der Sechser lässt sich in die Verteidigung zurückfallen und die restlichen Mittelfeldspieler bilden eine Viererkette."

Italien soll Contes absoluten Machtanspruch auf den Platz übertragen. In seiner typisch direkten Art gibt er schon bei den ersten Pressekonferenzen vor, was die Gegner erwarten wird: "1. Nur wir machen das Spiel. 2. Wir spielen intensiv und aggressiv, auf engen Räumen. 3. Die Gegner dürfen nicht den Ball haben."

Gesagt, getan: In seinem ersten Spiel als Trainer für Italien traf man auf die Niederlande. Das Zentrum besetzte Daniele De Rossi, neben ihn füllten Emanuele Giaccherini und Claudio Marchisio die Halbpositionen, auf den Flügeln agierten die gelernten Außenverteidiger Matteo Darmian und Mattia De Sciglio. Das Spiel wurde ohne große Probleme mit 2:0 gewonnen, das System schien auf Anhieb zu greifen.

Doch im März folgte schließlich die große Ernüchterung. Nachdem man gegen Kroatien eher schlecht als recht ein Unentschieden erreichen konnte und erstmals die taktischen Defizite der Mannschaft offengelegt wurden, erreichte man gegen den Underdog aus Bulgarien auch nur ein schmeichelhaftes 2:2.

Die Mannschaft agierte wie schon unter Prandelli in der Offensive ideenlos und die Idee des defensiven 4-4-2 wurde vollends ins Nirwana verbannt. Man agierte klassisch-italienisch und schob mit einer Fünferkette in der Verteidigung den Abwehrriegel vor. Schließlich konnte das Spiel nur durch einen Genie-Streich von Eder noch gerettet werden.

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Seite 2: Die Erbsünde des Calcios und der Weg zurück

Antonio Conte im Steckbrief

Die Erbsünde des Calcios

Italien scheint auch unter dem neuen Trainer seine Kinderkrankheiten nicht ablegen zu können. In Drucksituationen tendiert man immer zur einfachen, aber ineffektiven Lösung, wie den Ball blind lang in die Spitze zu spielen. Die Angst davor, Fehler zu machen, ist ein ständiger Begleiter der Spieler. Das sture Festhalten an der strikt vorgegebenen Taktik hemmt sie in ihrer Kreativität.

Diese Last, die von den Spielern wie eine Erbsünde an die jeweils nächste Generation weitergereicht wird, überträgt sich nicht nur auf die allgemeine Spielweise der Italiener. Auch Spieler der modernen Sorte kämpfen mit der statischen Fußball-Ideologie des Calcios.

Verratti: Schlüsselspieler - und doch nicht

Marco Verratti gilt als der Spieler der Zukunft in Italien, fand aber bisher noch keinen Zugang zum System von Conte. Das liegt aber nicht daran, dass es Verratti etwa an fußballerischen Fähigkeiten mangelt. Der Mittelfeldspieler entspricht nur in keinster Weise dem, was Conte auf der Sechser-Position oder dem Halbfeld erwartet.

Verratti ist ein Kämpfer und Taktiker. Er schreckt vor keinem Zweikampf zurück und befindet sich oft am Rande eines Platzverweises. Außerdem interpretiert er sein Spiel anders als der risikoreiche Pirlo oder ein Spieler von der Dynamik eines Claudio Marchisio.

Verrattis Pässe sind kurz und wohlüberlegt. Er öffnet seinen Mitspielern Räume, gibt ihnen die Bälle mit auf dem Weg nach vorne. Außerdem schaltet er sich selten entscheidend in die Offensive mit ein. Zusammengefasst entspricht er einem Hybrid aus Sergio Busquets und Gennaro Gattuso. Zwei Spielertypen, die auf der Position Verrattis in Contes System total obsolet wären.

Conte hat genaue Vorstellungen seines Mittelfeldes: "Ich brauche dort Spieler wie Vidal, Marchisio oder Pogba, Spieler die in die Tiefe gehen und auch den Abschluss suchen." Speziell Marchisio gilt als deshalb als unantastbar.

Spieler und System nicht vereinbar

Grundsätzlich steht der Nationaltrainer im Zwist mit seinem System und den Spielern, die ihm zur Verfügung stehen. Im Sturm benötigt er spielstarke Spitzen, die sich auch ins Spiel mit einschalten. Seine derzeitigen Stammstürmer, Ciro Immobile und Simone Zaza, weisen dafür zu große technische Defizite auf. Der ideale Kandidat für diese Position hingegen gehört der Kategorie "Dauerverletzte" an: Giuseppe Rossi.

Ebenso gibt es Probleme auf den Flügeln: Darmian und De Sciglio sind zwei exzellente Verteidiger, aber offensiv wirken sie überfordert. Umgekehrt ist Antonio Candreva offensiv eine Waffe, aber in der Rückwärtsbewegung kaum zu gebrauchen.

Contes Ausrichtung stieß daher - mit Ausnahme des Oranje-Spiels - seit seiner Übernahme auf Grenzen, die er zwar selbst ausmerzen könnte, aber nicht will. Sein System hat bisher immer funktioniert und ihn zu einem der erfolgreichsten Trainer in Italien gemacht - bis jetzt gibt es noch keinen Grund für ihn, an seine Art des Fußballs zweifeln.

SPOXMit Struktur und Hierarchie zurück

An sich ist er nicht auf einem falschen Weg: Er will der Mannschaft wieder Struktur und Kontinuität geben sowie durch die klare Vorgabe von Hierarchien dazu beitragen, dass sowohl sportliche als auch menschliche Stabilität bei den Azzurri Einzug finden. Er will eine Mannschaft formen, die sich zu hundert Prozent mit sich selbst, dem Trainer und dem Land, für das sie spielt, identifiziert und individuelle Allüren hinten anstellt. Aber irgendwann wird er nicht drum herum kommen, seine Einstellung anzupassen, sonst könnte die Ära Conte ein jähes Ende finden.

Italien und sein Trainer haben noch einen weiten Weg vor sich. Vielleicht ist er zu lang, um schon 2016 in Frankreich wieder eine große Rolle zu spielen. Aber sollte Conte bleiben, sich flexibler geben und es wird seiner Forderung nach Förderung von italienischen Talenten nachgegangen, so steht einer Rückkehr Italiens vom europäischen Mittelmaß zu den besten Mannschaften der Welt wenig im Weg.

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