Mad World

David Kreisl
23. Juni 201511:53
Jetzt heiß es zuschauen! Neymar wurde nach seinem Aussetzer für vier Spiele gesperrtgetty
Werbung

Ein Ausraster auf dem Platz sowie eine Attacke auf den Schiedsrichter in den Katakomben nach dem Spiel gegen Kolumbien kosten Brasiliens Nationalheiligtum Neymar die Copa America. Es ist nicht erst der jüngste Eklat um den Superstar, der zeigt: Neymar zu sein ist nicht nur nicht einfach - es ist unmöglich.

Weit oben auf Neymars Facebook-Seite springt einem der kleine Werbe-Clip entgegen. Eine brasilianische Kleinfamilie ist da zu sehen, Mutter, Vater, Kind. Der dunkelgraue Kombi vor der schicken Stadtwohnung geparkt, vorfreudig auf dem Weg zum Familienausflug. Doch der Autoschlüssel dreht sich vergebens im Zündschloss, irgendetwas ist hier kaputt.

Doch keine Panik! Für solche Fälle sind ja zum Glück Neymar und seine fachkundigen Kumpels von "Heliar Baterias" da. Die tauschen so eine kaputte Autobatterie einfach aus. 24-Stunden-Notservice, versteht sich. Am Ende gibt's sogar noch ein Selfie mit dem Superstar. Laune, Auto und Ausflug sind gerettet.

Man muss nicht viel weiter scrollen, bis Neymars Trikot in der Timeline auftaucht. Geformt von einem kroatischen Künstler aus Red-Bull-Dosen. Das trifft sich besonders gut, wenn man den Brausehersteller ohnehin seinen Werbepartner nennen darf. Auch auf dem Cover des neuesten Pro Evolution Soccer ist der 23-Jährge zu sehen, wie er virtuell mit Stolz verkündet. Guarana Antarctica trinkt Neymar sowieso seit jeher mit großer Begeisterung und wenn man sich schnell genug bei Pokerstars mit dem Passwort "NEYMARJR11" anmeldet, dann gibt es sogar ein Meet and Greet zu gewinnen.

Bald wird Neymar 53 Millionen Fans auf Facebook haben. Seinen Followern hat der 23-Jährige in den letzten neun Posts fünfmal Werbung vorgesetzt. Mit ihm als Testemonial. Ein skurriles Schauspiel, das zeigt, dass Vater Neymar senior keine Sprüche klopft, wenn er seinen Sohn nicht als Fußballer oder Popstar betitelt, sondern als Firma.

Ein Akt der Aggression

Zumindest in den sozialen Medien wurde es in den vergangenen Tagen ruhig um Neymar da Silva Santos Junior. Keine neuen Werbe-Clips, keine der zahlreichen gottesfürchtigen Einzeiler mehr, keine Bilder von Toren und Trophäen. Dafür türmten sich in der echten Welt die Schlagzeilen über ihn.

Ausgerechnet er. Das Idol, der Triple-Sieger, derjenige, der seit Jahren die Hoffnung von 200 Millionen fußballverrückten Brasilianern auf seinen schmalen Schultern trägt, hatte sich einen derartigen Aussetzer erlaubt. Ein Frustschuss in den Rücken von Kolumbiens Pablo Armero und einen angedeuteten Kopfstoß gegen Jeison Murillo noch auf dem Feld, ein Griff in den Nacken und die Worte "Du willst auf meine Kosten berühmt werden, du Hurensohn" gegen den Schiedsrichter Enrique Osses nach Ende des Spiels im Bauch des Estadio Monumental David Arellano.

Von einem "Akt der Agression" und einer glimpflichen Strafe sprach Alberto Lozada vom CONMEBOL-Disziplinarkomitee, das Neymar für vier Spiele aus dem Verkehr zog: Das vorzeitige Copa-Aus für den Kapitän der Selecao.

Begonnen haben soll alles aber schon früher am Abend, mit Juan Zuniga. Jener Spieler, der Neymar bei Brasiliens Heim-WM mit einem ungestümen Foul den dritten Lendenwirbel brach. Es folgten Anfeindungen, Morddrohungen - eine Hexenjagd schaurigen Ausmaßes gegen den Kolumbianer. Allerdings sahen 73.429 Zuschauer wenige Monate später, wie sich Neymar und Zuniga bei einem Freundschaftsspiel in Miami mit einer herzlichen Umarmung aussöhnten. Der Brasilianer trieb sogar seine Späße mit dem vermeintlichen Peiniger und nominierte Zuniga für die Ice Bucket Challenge.

Und jetzt? "Ruf mich nachher an, um dich zu entschuldigen, du Hurensohn", soll Neymar seinem Gegenüber vor wenigen Tagen mehrfach an den Kopf geworfen haben.

Die größtmöglich Bürde

Es sind Momente wie dieser, die zeigen, wie unmenschlich groß der Druck ist, dem sich der 23-Jährige aus Mogi das Cruzes ausgesetzt sieht. Neymar ist die Blaupause des Idols für eifernde Hinterhof-Kicker auf der ganzen Welt, eine Figur, die man sich für die Generation Playstation nicht besser ausdenken hätte können. Doch ist Neymar auch ein junger Mensch, der sich einer Welt ausgesetzt sieht, die auf ihre Weise extremer nicht sein könnte. Polarisierend, wertend, jeden Schritt observierend. Jederzeit kurz davor, zu explodieren.

Randnotizen oder kleine Zwischenfälle? Die gibt es bei Neymar nicht. Als letzter schillernder Star der brasilianischen Nationalmannschaft ist der Angreifer längst ein nationales Heiligtum. Und trägt damit nicht nur eine fußballerische Bürde, die größer nicht sein könnte. Immer der unbekümmerte, zu Späßen aufgelegte Neymar zu sein, das ist unmöglich. Richtig oder falsch gibt es nicht, wenn es um Neymar geht. Es gibt nur beides, in den extremsten Formen. Anbetung und Ablehung, Verehrung und Hass.

Als Neymar bei der WM vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Mexiko während der Hymne in Tränen ausbrach, spalteten sich die Fußball-Fans in zwei Lager. In die einen, die ergriffen waren von der Identifikation und Leidenschaft des jungen Brasilianers. Und in die, die ihm gute schauspielerische Künste und Effekthascherei unterstellten.

Auch bei seinem aktuellen Verein Barcelona ist das nicht anders. Als Neymar im Saisonendspurt gegen Sevilla in der 73. Minute für Xavi ausgewechselt wurde, reichte eine abfällige Geste mit der Hand, um die Gazetten Land auf, Land ab verrücktspielen zu lassen. Neymar kennt den versammelten medialen Irrsinn um seine Person. Doch ist der Copa-Skandal nicht der erste Vorfall in der jüngeren Geschichte, der dem Wunderkind plötzlich Wind aus dem eigenen Lager entgegen wehen lässt.

Seite 1: Mad World

Seite 2: Ronaldo, Xavi und Baccas Mama

"Ich bin echt angepisst, wenn Schiedsrichter nicht richtig pfeifen", schimpfte der Brasilianer selbst nach dem verhängnisvollen Spiel gegen Kolumbien. Das ganze Theater käme doch nur heraus, wenn man einen schwachen Referee einsetze. "Dann endet ein Spiel mit einer Rauferei!"

Mitstreiter und Befürworter waren selbstredend schnell gefunden. Das mit der langen Sperre sei doch alles nicht normal, polterte der brasilianische Verband. Sogar Vereinskamerad Lionel Messi vom Erzrivalen Argentinien "hätte es gerne gesehen, dass er bis zum Ende des Turniers dabei ist". Und für Dani Alves war die Sache ohnehin sonnenklar: "Schuld sind die Schiedsrichter. Sie wissen, dass Neymar Persönlichkeit hat."

Prügel mit High Heels

Eine aufbrausende Persönlichkeit mag eine Erklärung sein. Eine überdurchschnittlich harte Spielweise mit vielen Fouls gegen den Brasilianer eine andere. Doch sind es keine Rechtfertigungen für ein derart "aggressives" Verhalten, wie es Brasilien-Legende Ronaldo bei einer kleinen Schimpftirade im TV nannte: "Er akzeptiert nicht, was geschieht. Das ist etwas, das unter keinen Umständen toleriert werden darf. Wenn man das brasilianische Trikot trägt, darf man sich nicht so verhalten."

Auch die rügenden Worte des sonst nicht als Lautsprecher bekannten Xavi im Rahmen der Triple-Parade des FC Barcelona passen in das momentane Bild des Superstars. "Er sollte ernsthaft darüber nachdenken, wie er sich zu verhalten hat", sagte der Spanier über den feierwütigen Neymar. "Vielleicht werden solche Dinge in Brasilien akzeptiert, aber in Spanien ist das eine haarige Angelegenheit. Es ist ok, drei oder vier Bier zu trinken, aber die Busparade ist für die Fans, um ihnen zu danken und du kannst nicht einfach in deiner eigenen Welt sein."

Die Spitze des skurrilen Treibens - und der letzte Beweis dafür, in welcher wahnsinnigen Welt sich Neymar bewegt - bildete ein Interview im Heraldo, in der die Mutter von Kolumbiens Carlos Bacca Neymar Prügel mit ihren High Heels androhte. "Wäre ich im Stadion gewesen!" SPOX

Nur Bouchard steht über Neymar

Doch so geht es für Neymar - der sich mit den pathetischen Worten, er würde "sterben", wenn er weiter mit der Mannschaft trainieren, aber nicht spielen dürfte, endgültig von der Mannschaft und der Copa verabschiedet hat - unversehrt weiter. Für den, nach Tennis-Schönheit Eugenie Bouchard, vermarktbarsten Athleten der Welt, wie das Magazin SportsPro in seinem jährlichen Ranking festlegte. 2012 und 2013 stand er sogar an der Spitze dieser Liste - dank Werbedeals und Partnerschaften mit Nike, Red Bull, Beats, Castrol, Panasonic oder Volkswagen. Und Tenys Pe Baruel, dem offiziellen Fußdeo des Superstars. Eine komplette Liste ist das nicht, natürlich.

Dem Draht zu seinen Anhängern schadet das alles aber nicht. Die Unterstützung für den Brasilianer ist ungebrochen - in der Heimat und beim FC Barcelona. Neymar ist eben perfekt inszeniert. Er dokumentiert sein Fußballer-Leben bis ins Detail, gibt so viele private Einblicke, wie nötig sind, um seine Follower und Fans bei Laune zu halten.

Auch der Rattenschwanz, den sein Transfer vom FC Santos nach sich zog, der die Katalanen ins Chaos stürzte und bedeutende Köpfe rollen ließ, werden ihm nicht als Hypothek ausgelegt. Schließlich kann Neymar nichts für die dunklen Machenschaften hinter seiner Person, sagen dann die Fans. Er soll spielen, tricksen, Tore machen, deswegen ist er in Katalonien, deswegen schauen ihm die Leute gerne zu.

So gerne sogar, dass Neymar im August angeblich ein neues Arbeitspapier unterschreiben soll. Bis 2020, mit zwölf Millionen Euro Netto-Gehalt und einer festgeschriebenen Ablöse-Summe von 250 Millionen Euro. So macht sich der Brasilianer im Schatten des nichtsportlichen Wahnsinns, der den 23-Jährigen umweht, drauf und dran, in die oberste Riege der Fußballer aufzusteigen.

Unter dem Strich ist Neymar ja auch nicht dazu da, den Familienurlaub mit einer neuen Autobatterie zu retten, zu pokern oder Modell zu stehen. Sondern, um Fußball zu spielen. Und - das geht bei der perfekten Marke Neymar gerne unter: Das kann er so gut wie wenig andere.

Seite 1: Mad World

Seite 2: Ronaldo, Xavi und Baccas Mama