"Wir sind das Bananenschalen-Team"

Stefan Petri
02. September 201522:10
Travis Nicklaw (r.) trifft zum 2:0 für Guam gegen IndienGuam Football Association
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2005 verlor die Nationalmannschaft Guams noch mit 0:21 gegen Nordkorea. Zehn Jahre später führt die winzige Insel im Westpazifik ihre WM-Qualifikationsgruppe mit der Maximalpunktzahl an und schickt sich an, Geschichte zu schreiben. Vater des Erfolges ist Trainer Gary White, der den Matao in nur drei Jahren ein neues Gesicht gegeben und dafür einige Bonusmeilen gesammelt hat. Vor dem Spiel gegen den Iran am Donnerstag hat SPOX mit dem 41-jährigen Engländer gesprochen.

Bevor das WM-Qualifikationsspiel angepfiffen wird, versammeln sich die Matao erst einmal zum Inifresi, einem Haka-ähnlichen Sprechgesang. In einem engen Kreis wird der Text rezitiert. Das im Kreis versammelte Team spricht ihn nach.

"Aus tiefstem Herzen und mit all meiner Kraft gelobe ich, dass ich beschützen und verteidigen werde: den Glauben, die Kultur, die Sprache, die Luft, das Wasser und das Land der Chamorro, welche uns von Gott gegeben wurden. Das schwöre ich auf die Bibel und auf die Flagge Guams."

An diesem 16. Juni 2015 trifft Guam auf Indien, es geht um die Teilnahme an der Endrunde 2018 in Russland. Die Vorzeichen könnten nicht unterschiedlicher sein. Indien ist mit seinen über eine Milliarde Einwohnern zwar vergleichsweise noch immer ein Fußball-Entwicklungsland, wird jedoch von der FIFA schon zu den "schlafenden Riesen" gezählt. 2007 zählte der Weltverband in Indien bereits 265 Millionen Fußballer und Fußballerinnen - mittlerweile dürften es noch ein paar mehr sein.

Guam, der Marianen-Archipel im Westpazifik, 2.600 Kilometer südlich von Japan und 2.500 Kilometer östlich der Philippinen, bringt es auf rund 185.000 Einwohner. Das externe Territorium der USA bietet seinen Bewohnern 545 Quadratkilometer. Zum Vergleich: Luxemburg ist fast fünfmal so groß. Einmal zuvor war der Fußballzwerg in seiner Geschichte bereits bei der WM-Qualifikation vertreten: 2000 gab es ein 0:19 gegen den Iran, wenig später ein 0:16 gegen Tadschikistan.

Lizenz(en) zum Trainieren

Aber Indien ist nicht automatisch haushoher Favorit an diesem 16. Juni, und tatsächlich: Durch Tore von Mittelfeldmann Brandon McDonald und Verteidiger Travis Nicklaw geht Guam mit 2:0 in Führung, den Gästen gelingt vor tausenden begeisterten Zuschauern im GFA National Training Center nur noch der Anschlusstreffer in der Nachspielzeit. Guam gewinnt. Und setzt sich mit nunmehr sechs Punkten nach zwei Spielen - zuvor war gegen Turkmenistan der erste Quali-Sieg überhaupt errungen worden - an die Spitze der Gruppe D. Ausnahmezustand auf den Rängen!

An der Seitenlinie jubelt ein gewisser Gary White mit seinen Matao. 41 Jahre alt, geboren in Southampton. Er ist der Architekt des Fußballwunders in Guam.

Als SPOX Gary White ein paar Tage später erreicht, ist er gerade in Tokio. Und büffelt. "Ich bin in Japan, weil ich dort die japanische Pro-Trainerlizenz mache", verrät er. Dabei lernt er erst seit zwei Jahren japanisch. Die Lizenzen von UEFA und CONCACAF hat er schon in der Tasche, der Trainerschein des asiatischen Fußballverbandes AFC ist also der dritte des passionierten, fußballverrückten Weltenbummlers. "Ich bin erst der vierte Ausländer, der die Klasse-S-Lizenz in Japan macht. Einer der vorherigen drei war Pierre Littbarski."

"Brauche zehn Jahre Vorsprung"

2012 fängt White in Guam an. Da hat er bereits Stationen auf den British Virgin Islands, den Bahamas und bei den Seattle Sounders in der MLS hinter sich. Die eigenen Treter hat er schon mit Anfang 20 an den Nagel gehängt, auch weil er merkt: Seine eigentliche Leidenschaft ist das Coaching. "Damals habe ich die Entscheidung getroffen, dass ich zehn Jahre Vorsprung auf die großen Spieler brauche. Wenn die aufhören, kann ich sie nur überholen, wenn ich schon jetzt anfange und mir die Erfahrung hole - meine Spielerkarriere wird mich schließlich nicht ins Rampenlicht bringen", erklärt er gegenüber thesefootballtimes.com.

Also bewirbt er sich auf der ganzen Welt - und wird mit 24 Nationaltrainer der British Virgin Islands. Sein Nachfolger auf den Bahamas wird später übrigens ein gewisser Andre Villas-Boas. White weiß, was er tut: Beiden Teams verhilft er zu großen Sprüngen in der Weltrangliste.

Klein für einen Football-Spieler

Dann ist Guam an der Reihe. Über die Sounders wird der Kontakt hergestellt, finanziert wird der Deal, genau wie das hervorragende Trainingszentrum vor Ort mit Entwicklungsgeldern der FIFA. Ehre, wem auch einmal Ehre gebührt. "Der Verband hat mich verpflichtet, weil er einen Profi-Coach für seine besten Spieler haben wollte", sagt White. "Jugend und Klubs waren gesund, aber sie hatten noch nie ein Elite-Entwicklungsprogramm umgesetzt. Man wollte die Herren-Nationalelf unbedingt verbessern."

Zu diesem Zeitpunkt weiß White nicht einmal, wo Guam liegt. "Als ich 2012 ankam, sagte ich bei der Einreise stolz, dass ich der neue Head Coach des Football-Nationalteams bin. Da wurde mir gesagt, dass ich für einen ehemaligen NFL-Spieler ganz schön klein wirke", schildert er im Guardian seine ersten Eindrücke. SPOX

Dann macht er sich ans Werk - und krempelt den Verband um. Der war bis dahin eine Art Protegé Japans, die letzten drei Nationaltrainer vor White stammten allesamt vom nördlichen "Nachbarn". "Wir hatten drei Ziele, als ich angefangen habe: Wir wollten die Männer-Elf verbessern und sie wettbewerbsfähig machen. Wir wollten ein Konzept für die besten Nachwuchsspieler entwickeln, wofür wir die National Academy gegründet haben. Und wir wollten die übrigen Coaches auf dem Klublevel ausbilden und verbessern", beschreibt er seine Arbeit, die weit über reines Training hinausgeht. White ist vielmehr eine Art Entwicklungshelfer auf allen Ebenen.

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Recruiting in aller Welt

Auf dem malerischen Eiland gelingen ihm und seinem Team in kurzer Zeit große Fortschritte - unter anderem bringt er eine Reihe von Spielern in größeren Ligen aus aller Welt unter. Um die Nationalmannschaft jedoch entscheidend nach vorn zu bringen, braucht er jeden guten Spieler, den er kriegen kann. Vor allem in den USA wird er fündig - doch diese potenziell spielberechtigen Akteure von einer Karriere im Guam-Dress zu überzeugen, ist ein hartes Stück Arbeit - wer reist schon gerne um die halbe Welt, nur um sich dann regelmäßig zweistellig aus dem Stadion schießen zu lassen?

"Ich bin losgezogen um diese Spieler zu finden", erinnert er sich im Gespräch mit SPOX. "Spieler, die eigentlich aus Guam stammen, aber auch sonstige Spielberechtigte, aufgrund ihrer Eltern oder Großeltern." Seine früheren Kontakte aus der MLS helfen ihm dabei. "Ich habe die Spieler persönlich getroffen und ihnen genau erklärt, was wir in Guam machen. Es war wichtig, das von Angesicht zu Angesicht zu tun. Damit sie sehen, dass wir es ernst meinen."

Ein Unterfangen, welches ihm eine schöne Stange Bonusmeilen einbringt. Bei Ryan Guy von den New England Revolution etwa dauert es sechs Monate, bis White ihm vom Konzept des Archipels irgendwo im nirgendwo überzeugt. "Kleinigkeiten wie ein Anruf an ihrem Geburtstag, selbst wenn sie in den USA und du selbst in Guam bist. Das macht einen Unterschied."

Vorsprung durch Kultur und Qualität

Einen Unterschied macht White auch nach Anpfiff. Wo die früheren Coaches vor allem darauf bedacht sind, haushohe Niederlagen zu vermeiden, implementiert der Engländer ein neues Bewusstsein in der Mannschaft. "Als ich ankam, brauchten die Spieler etwas, woran sie glauben können. Das sah man ihnen an", so White gegenüber der BBC. Er schlägt eine Brücke zwischen den Spielern, viele schon seit ihrer Kindheit im Ausland, und der indigenen Chamorro-Kultur. Auch durch den Inifresi-Gesang vor dem Spiel. "Die Fans und das Team lieben ihn, er schafft einen Bund und macht uns einzigartig."

Dazu schlägt der Mix aus dem japanisch-technischen Spiel und den Neuzugängen amerikanischer Prägung an. Und so verbessern sich auch die Resultate. "Ich hatte schon immer die Hoffnung, dass wir mit dem richtigen Trainer und dem richtigen Konzept etwas erreichen können - aber in der WM-Qualifikation? Das ist fantastisch", zeigt sich etwa Kapitän Jason Cunliffe begeistert. Er spielt seit 2006 für das Nationalteam, hatte die Insel aber schon mit 14 verlassen. "Damals gab es keine National Academy, der Verband hatte nicht die gleichen Ressourcen wie heute. Ich hatte keine andere Wahl." Mit White habe sich alles geändert: "Er hat einen unglaublichen Einfluss auf alles, was wir erreicht haben."

Erfahrung sammeln in Teheran

Die ultimative Herausforderung steht dem sympathischen Underdog, derzeit die 146 der Weltrangliste, am Donnerstag bevor. Um 16.30 Uhr deutscher Zeit geht es in die Höhle des Löwen - das Azadi Stadion in Teheran. Gegen den großen Favoriten Iran müssen die Matao zeigen, wie weit sie wirklich sind. "Sie sind das beste Team in Asien, und das aus gutem Grund. Sie haben Spieler, die auf der ganzen Welt aktiv sind", zeigt sich White gegenüber SPOX vorsichtig.

Man freue sich auf diese Erfahrung, vor über 128.000 fanatischen Fans aufzulaufen: "Unser Ziel ist es, dort gegenzuhalten - und dann schauen wir mal, wie weit wir vom besten Team Asiens noch entfernt sind." Das Ziel ist dennoch klar: "Wir sind Spitzenreiter der Gruppe D und wollen das auch nach diesen Länderspielterminen noch sein." Da dürfen auch Visa-Probleme der letzten Wochen keine Entschuldigung sein.

Wie weit reicht das neue Selbstbewusstsein Guams? Guam bei der Endrunde in Russland - in einer Gruppe mit dem Titelverteidiger? "Der Druck liegt auf dem Iran, für uns ist jedes Spiel wie ein WM-Finale", wehrt White verfrühte Ansprüche bei footballchannel.asia ab. "Wir sehen uns selbst als Bananenschalen-Team. Wir wollen viele andere auf uns ausrutschen lassen."

Es wäre verfrüht, im Übereifer Tickets für Jekaterinburg oder Nowgorod zu ordern. Um eine Chance auf die WM zu haben, müsste Guam Gruppenerster bleiben oder zu den besten vier Zweitplatzierten gehören - und selbst dann gilt es noch eine weitere Gruppenphase zu überstehen. Whites Kader ist klein, die Reisestrapazen gerade in Asien enorm. Es ist wahrscheinlich, dass Cunliffe und Co. bald wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden.

Erst Guam, dann Japan - dann England?

Wie weit der Underdog es am Ende auch bringen mag: Guam wird nicht die letzte Station in der Trainerlaufbahn von Gary White bleiben. Aus ursprünglich nur einem Jahr werden wohl vier, dann ist Schluss. "Ich habe vor, nach der WM-Qualifikation mit Guam weiterzuziehen", gibt er zu. Dabei gefalle es ihm im Pazifik außerordentlich gut: "Ich habe hier ein Apartment, einen Sportwagen, einen Deal mit Lacoste, das Leben ist also fantastisch. Das Wetter ist wunderbar und die Strände sollen der Hammer sein. Ich hoffe nur dass ich sie eines Tages zu Gesicht bekomme...", scherzt er.

Als nächstes soll es dennoch ein Klub werden. Sein Ziel in den nächsten Jahren: entweder die koreanische K-League oder die japanische J-League. Irgendwann soll es den Weltenbummler, der bei der englischen FA bereits einen zweijährigen Kurs für Elite-Coaches absolviert hat, auch wieder in die Heimat verschlagen. "Ich will zurückgehen und allen zeigen, was ich kann. Warum holen die Klubs niemanden, der etwas zu beweisen hat? Wäre diese Mentalität nicht gut für den Klub und die Fans?"

Ein ultimatives Ziel hat der selbstbewusste Übungsleiter bereits offensiv formuliert: Nationaltrainer der Three Lions. "Wie man an meinen bisherigen Stationen sehen kann: Ich liebe Herausforderungen."

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