Einen Spitznamen wie "shop steward", also Vertrauensmann, bekommt man nicht einfach so. Dazu braucht es Menschenkenntnis und eine Gabe zur Kommunikation. 27 Titel mit Manchester United gewinnt man nicht im Vorbeigehen, sondern eher, weil man ein Weltklasse-Fußballer ist. Und man wird auch nicht einfach so hochgeschätzter TV-Analyst, nein, man muss schon Hirn und Ahnung davon haben, was da auf dem Platz passiert.
Auf Gary Neville trifft das alles zu. Und noch eins: Neville ist seit Anfang Dezember Trainer beim FC Valencia.
Als der 40-Jährige bei seiner Vorstellung gefragt wurde, was denn der Experte Neville davon halte, dass der Fußballer Neville komplett ohne jegliche Vorerfahrung jetzt zum Trainer Neville werde, sagte er mit einem Schmunzeln: "Ich wäre skeptisch." Ehrlich war das und offen, und Neville flogen als Nachfolger des verhassten Vorgängers Nuno Espirito Santo die Sympathien zu.
Doch das Umfeld in Valencia gilt als explosiv mit Hang zum Größenwahn. Und so ist es wenig verwunderlich, dass sich der Wind aus dem Umfeld mittlerweile auf unangenehme Art gedreht hat. Denn die Bilanz, die Neville knapp zwei Monate nach seiner Amtsübernahme vorzuweisen hat, sie liest sich verheerend. Und das Projekt, das sich so spannend und frisch anhörte, es entpuppt sich langsam aber sicher zum Himmelfahrtskommando für den FC Valencia.
Surreale 88 Tage
Surreale 88 Tage ist es her, dass der, nach eigenem Selbstverständnis, Spitzenklub das letzte Mal in der Liga gewonnen hat. Anfang November war das. Elf sieglose Spiele - das gab es zuletzt 1986 -, acht davon unter der Federführung von Neville, sind seitdem vergangen. Gegen Kellerkinder wie Getafe, Sociedad, Rayo, zuletzt Gijon. Platz zwölf in der Liga ist lediglich dem generell überschaubaren Niveau der unteren Tabellenhälfte geschuldet. Nach dem Aus in der Königsklasse gab es wenigstens in der Copa eine Hand voll Siege gegen Granada und Las Palmas. Im Halbfinale geht es jetzt ausgerechnet gegen Barcelona.
Nicht nur die sind für den FC Valencia mittlerweile außer Reichweite. Real Madrid und Atletico sowieso, Villarreal heißt aktuell die vierte Kraft in der Liga. Es kommen Teams wie Sevilla, der Athletic Club, Eibar. Das kann für die Fledermäuse kein Dauerzustand sein, klagt Klublegende Gaizka Mendieta im Gespräch mit SPOX. "Das Ziel muss sein, wieder unter die besten Vier kommen, da wo der Klub hingehört", sagt er. Unter Neville ist das gerade Utopie.
Instabil wirkt die Mannschaft seit der Übernahme durch den Engländer. Dabei ist der Kader stark, viel zu gut eigentlich für eine derartige Krise. Mit Paco Alcacer hat man einen treffsicheren Stürmer (wettbewerbsübergreifend elf Tore) im Kader. Mit Shkodran Mustafi ist ein Weltmeister Chef der Defensive, im Mittelfeld glänzt Andre Gomes als eine der großen Überraschungen der Saison. Doch es fehlt etwas. Eine Grundidee. Ein Konzept hinter dem Großen und Ganzen, Mechanismen.
Dominanter Ballbesitzfußball oder auf Umschaltsituationen lauern? Hoch attackieren oder tief die Räume dicht machen? Es kommt eher konfus als variabel daher, was Valencia auf dem Rasen darbietet. Die Abhängigkeit von Individualisten und Einzelaktionen ist gravierend.
"Er spricht auch die Sprache nicht, das ist noch einmal eine große Herausforderung", sagt Mendieta über den Umstand, den Neville selbst bereits als das "mit Abstand größte Problem" bezeichnete. Zwar kann Co-Trainer und Bruder Phil, der bereits ein halbes Jahr länger im Mestalla weilt, ein paar Brocken Spanisch. Dabei helfen, ausführliche Ansprachen und Anweisungen in ein paar Minuten Halbzeitpause verständlich zu machen, tut das freilich nicht.
"Der Klub ist vollkommen am Ende"
Selbst das lange fast schon verdächtig gute Verhältnis zur aufbrausenden spanischen Presse glitt Neville mittlerweile aus den Händen. Als es vor knapp drei Wochen gegen den Vorletzten Rayo Vallecano zuhause ein 2:2 setzte, brach ein Sturm über den Engländer herein. "Was soll schon schiefgehen, wenn man mitten in der Krise einen Fernsehkommentator als Trainer einstellt, der nicht einmal fähig ist, seinen Spielern Anweisungen zu geben?", fauchte der valencianische Journalist Vicente Bau. "Der Klub ist vollkommen am Ende, Neville hat nicht mehr gebracht als eine Dosis Konfusion."
Doch ist Neville als Günstling, Freund und Wunschkandidat von Klubbesitzer Peter Lim sicher vor den Naturgesetzen der Branche, die für einen Fall wie jenen längst eine krachende Entlassung vorgesehen hätten. Noch. 19 Punkte sind es zu einem Champions-League-Platz, fünf bis zu den Abstiegsrängen. Fragen zu einem Rücktritt seien "lächerlich", sagt Neville.Das Vertrauen in den Engländer scheint intakt zu sein. Mit Leihspieler Denis Cheryshev von Real Madrid bekam Neville zur Winterpause hochkarätige Verstärkung. Sportdirektor Suso Garcia Pitarch wird nicht müde, der Journalie einzubläuen, wie gut Neville arbeite. Dass er der disziplinierteste Mensch sei, den er jemals im Fußballgeschäft gesehen habe.
Den Klubbesitzer zum Kumpel
Hauptsächlich hängt Nevilles Schicksal aber an Lim, seines Zeichens singapurischen Geschäftsmann und als Besitzer des Klubs der Mann mit der alleinigen Entscheidungsgewalt. Den lernte Neville vor knapp zehn Jahren auf einer Werbetour von Manchester United durch Asien kennen. Der Kontakt brach nie ab. Mittlerweile sind sie Freunde.
Skrupellos und öffentlichkeitsscheu sind die Adjektive, die einem in Sachen Lim als erstes über den Weg laufen. Vor gut eineinhalb Jahren übernahm Lim den Verein, der ob des stockenden Stadionbaus in den finanziellen Ruin schlitterte und auf der Suche nach Geld schließlich auch den Kader herunterwirtschaftete.
Mit einem dreistelligen Millionenkredit rettete Lim Valencia vor dem Bankrott und hält 70,4 Prozent der Anteile. Der Geschäftsmann und Investor, der sich als Taxifahrer, Koch und Kellner durch sein Studium in Australien plagte, und nach dem gescheiterten Kaufversuch des FC Liverpool 2010 endlich das erträumte Großprojekt auf europäischem Boden sein Eigen nennen kann.
Was, wie das in so einem Fall immer so ist, einen Keil in Umfeld und Fanszene getrieben hat. Viele Stimmen erhoben sich, der Klub sei zu einem reinen Unternehmen geworden. "Nein", sagt Mendieta dazu. "Valencia braucht diese Ambitionen." Los Xes gehören in die Spitzengruppe von LaLiga und in die Königsklasse, da, wo er selbst 2000 und 2001 zweimal mit ihnen im Endspiel stand. "Sie müssen die Herausforderung annehmen und den Klub wieder dahin bringen, wo er hingehört."
Ein Spielervermittler regiert
Zweifel über die baldige Rückkehr in höhere Sphären gibt es unter der Anhängerschaft aber zur Genüge. Und das nicht nur wegen 88 Tagen ohne Sieg oder wegen eines Berufsneulings als Trainer.
Spielervermittler Jorge Mendes soll, so erzählt man sich in Spanien, in sportlicher Hinsicht freie Hand beim FC Valencia haben. Der Spanier ist - Überraschung - einer der besten Freunde von Peter Lim. Alvaro Negredo, Aymen Abdennour, Santiago Mina, Matthew Ryan - bei fast allen jüngeren Transfers soll er seine Finger im Spiel gehabt haben. Die Gerüchte brodelten so sehr, dass sich der Klub gar zu einem Dementi gezwungen sah.Doch braucht es keine seherischen Fähigkeiten, um zu erahnen, wie es hinter den Kulissen abläuft. Der Spielerberater brachte Lim erst auf die Idee, den Klub von der Mittelmeerküste zu übernehmen. Nevilles Vorgänger Nuno ist schon lange Klient von Mendes. Dass Mint Media, eine Firma, die zu Lims Imperium gehört, kürzlich die Fotorechte an Real Madrids Cristiano Ronaldo kaufte, passt in das dubiose Geschäftstreiben. Warum? Der Superstar wird von Mendes beraten, Lim bezeichnete er bei der Verkündung als "good friend".
Wenigstens die Geschäfte laufen also rund beim FC Valencia und seinem Besitzer. Ob sich das Blatt auch sportlich wendet? Neville hat mal gesagt: "Ich wäre skeptisch."
Der FC Valencia in der Übersicht