Zwei Tage nach der EM 2016 in Frankreich griff Julian Draxler zum Hörer und wählte die Nummer von Dieter Hecking. Der Grund des Anrufs war schlicht. Unverblümt wollte er dem damaligen Wolfsburger Trainer mitteilen, dass er den Verein im Sommer verlassen wolle. Obwohl er erst ein Jahr zuvor zum VfL gewechselt war. Obwohl sein Vertrag bis 2020 lief. Und obwohl in Wolfsburg eigentlich alles besser werden sollte.
Er, das junge und aufstrebende deutsche Megatalent, sollte ein zentraler Bausteine der neuen zweiten Macht im deutschen Fußball werden. Noch ohne Draxler hatte der VfL 2015 den DFB-Pokal gewonnen und beim 4:1-Sieg zumindest einmal leise am Elfenbeinturm der Bayern angeklopft. Der im gleichen Sommer nach England abgewanderte Kevin de Bruyne hatte ein scheinbar gemachtes Nest hinterlassen, in das sich Draxler lediglich hineinsetzen musste.
Ein nachvollziehbarer Schritt
Eine neue Erfahrung für den Youngster. Bei Schalke war er derjenige, der Nestbau plante, organisierte und am besten gleich noch selbst umsetzte. Das schien das Umfeld zumindest von ihm zu verlangen. Ehrlich gab Draxler zu, dass ihn das stark belastete. "Selbst nach sechs Monaten Verletzungspause spürte ich, dass ich Spiele fast im Alleingang entscheiden sollte. Da habe ich gemerkt, dass es an der Zeit ist, andere Wege zu gehen", erinnert er sich. Bei Wolfsburg wäre er ein Neuzugang und nicht mehr der Schalker Jung, der Stolz der Region. Theoretisch ein nachvollziehbarer Schritt, der vielversprechend klang. In der Praxis hakte der Plan jedoch erheblich.
Durch namhafte Abgänge entstand in der Offensive des VfL ein kilometerweites Loch. "Wir konnten den Verlust von Kevin de Bruyne und Ivan Perisic nicht auffangen. Das hat zu einem Qualitätsverlust geführt", erklärt der damalige Manager Klaus Allofs rückblickend.
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Auf den viel umjubelten Vizemeister-Titel folgte lediglich ein achter Platz. Schlichtweg zu wenig für das umworbene Talent, das mit ansehen musste, wie das Wolfsburger Projekt deutliche Risse bekam. Ein Jahr ohne internationale Beteiligung stand an. Ein Worst-Case-Szenario, mit dem weder Draxler noch der Verein gerechnet hatte.
Draxlers drastischer Weg
Der 23-Jährige musste seine Karriereweichen deshalb neu justieren. Die starken Auftritte im CL-Viertelfinale gegen Real Madrid und die explosiven Dribblings bei der EM 2016 spielten ihm in die Karten. Zahlreiche Topklubs wedelten in der Folge noch mal etwas intensiver mit den Geldscheinen und lockten mit einer besseren sportlichen Perspektive. Die Entscheidung, dem VfL Wolfsburg den Rücken zu kehren, fiel schnell. Da weder eine innige Bindung zum Verein bestand, noch die Zukunft besonders verlockend aussah, schaute er legitimer Weise auf sich und seine Karriere.
Einzig der VfL Wolfsburg machte ihm einen dicken Strich durch die Planung und pochte auf den Vertrag bis 2020. Draxler reagierte verschnupft und wählte einen ungewöhnlich drastischen Weg. In einem denkwürdigen Interview mit der Bild stellte er den Verein öffentlich an den Pranger und sprach von "Wortbruch". Der Klub habe ihm bei der Vertragsunterzeichnung mündlich zugesagt, ihm keine Steine in den Weg zu legen, wenn ein Topklub anklopfe. Aus der Diskussion heraus gingen zwei Verlierer: Ein angesäuerter Spieler und ein Verein, der nach einem kurzen Ausflug in der bitteren Realität angekommen war.
Für Draxler begann trotz der anschließenden Bekundungen pro VfL ein Spießrutenlauf. Plötzlich war der 23-Jährige der Vorzeige-Söldner schlechthin. Statt im Ausland den nächsten Schritt auf der Karriereleiter zu machen, ging er in Wolfsburg zwei zurück.
Mehrheit: Absteiger der Saison
Sein SPOX-Notenschnitt brach innerhalb von einer Saison von 3,17 auf 3,71 ein. Eine Umfrage unter Bundesliga-Spielern ergab, dass über 50 Prozent den Weltmeister als Absteiger der Saison sahen. 13 Spiele und 2 Assists standen am Ende der Hinrunde zu Buche. Zu sagen, er habe nicht mehr alles für den Verein gegeben, wäre einfach und reine Spekulation. Auch die Zahlen aus Draxlers beiden VfL-Jahren zeigen in Sachen Engagement keinen deutlichen Unterschied.
Der Nationalspieler hielt in der Hinrunde lange die Füße still und äußerte sich nicht mehr zum Thema. Erst kurz vor der Winterpause witterte er die nächste Chance, seinen Willen durchzusetzen. Ohne erneut ein großes Fass aufzumachen, brachte er sich auf dem Transfermarkt mit einem schlichten Satz ("Zum Wechselthema habe ich im Sommer ja schon alles Wesentliche gesagt") bewusst in Position.
Da der Verein nach dem Weggang von Dieter Hecking und Klaus Allofs sowieso den Reset-Knopf drückte, erwischte Draxler den richtigen Zeitpunkt. Schnell sahen sämtliche Parteien ein, dass es keinen Sinn mehr hatte, Draxler weiter in einem Käfig einzusperren. "Natürlich bedauere ich einerseits den Weggang von Julian, denn er ist ein herausragender Fußballer. Andererseits denke ich, dass dieser Schritt für alle Seiten der richtige ist", sagte VfL-Trainer Valerien Ismael.
Eintrittskarte statt Last
Inzwischen wiederholt sich die Geschichte aus dem Sommer 2015. Wiederum erwartet den Nationalspieler eine komplett neue Situation mit anderen Herausforderungen. Erstmals befindet sich der 23-Jährige jedoch in einem stabilen Umfeld, das über Jahre mehr oder weniger gesund gewachsen ist. Der Stempel des Hochbegabten ist erstmals keine Last mehr, sondern lediglich die Eintrittskarte für das pompöse PSG-Orchester. Mehr als noch in Wolfsburg ist er dort einer unter vielen, der ohne großen Talent-Bonus ins Rennen um die Startplätze geht.
Eine erste Duftmarke konnte Draxler in Frankreich bereits hinterlassen. Beim Pflichtspieldebüt im Pokal lupfte er sich beim 7:0-Kantersieg gegen Bastia direkt in die Herzen des Pariser Operettenpublikums und zauberte den gierigen Fans erstmals ein "Ooooh" auf die Lippen. "Es war eine fantastische erste Woche für mich. Danke für den herzlichen Empfang gestern Abend im Parc des Princes", gab er im Anschluss zu Protokoll.
In Paris scheinen sie einen Plan für Draxler und dessen Entwicklung zu haben. "Wir holen einen jungen Spieler, der uns in der vertikalen Ausrichtung und beim letzten Pass helfen wird", erklärte PSG-Trainer Unai Emery nach der Verpflichtung. An der Seite von fertigen Megastars wie Edinson Cavani und Angel di Maria soll am Diamanten Draxler weiter gefeilt werden. Dass er dabei hie und da auf der Bank sitzen wird, ist bei einem derartigen Starensemble programmiert.
"Käfige sind Käfige"
An seinem Image wird Draxler in Deutschland so schnell nichts ändern können. Das Etikett Söldner klebt an ihm und wird sich durch einen Wechsel zu einem Scheich-Klub nicht in Luft auflösen. Dennoch wird er in Paris größtenteils unter dem deutschen Radar fliegen. Sobald er ab und an mal ein Tor erzielt, wird man kurzzeitig hellhörig werden - mehr aber auch nicht. Spätestens in einem Jahr wird der am Scheideweg seiner Karriere stehende Draxler letztlich der sein, der es bei einem internationalen Big Player "geschafft hat" oder eben nicht.
Dass ein Wechsel ins Ausland einen jungen Spieler allerdings auch menschlich auf eine ganz andere Ebene hieven kann, wird im hektischen Sportbusiness meist komplett ausgeblendet. Ein fremdes Land, fremde Kulturen und eine andere Sprache - anders als in Wolfsburg oder auf Schalke wird sich der Weltmeister des Öfteren weit außerhalb seiner Komfortzone bewegen müssen.
Das ruft einen nötigen Reifeprozess hervor, der prägend für den Charakter eines 23-Jährigen sein kann. Ein gewisser Toni Kroos wird das bestätigen. Auch Draxler hat bereits erste Erfahrungen gesammelt. Zum Einstand musste er vor versammelter Mannschaft ein Liedchen trällern. Ein tiefgründiger Hintergedanke war bei seiner Songwahl "Aicha" sicherlich nicht dabei. Auch wenn es in der Originalversion des französischen Chansons heißt: "Käfige sind Käfige, selbst wenn sie aus Gold sind." Das weiß Draxler nur zu gut.
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