Christian Ziege im Interview: "Ich habe den Hörer gleich meinem Vater gegeben"

Jonas Rütten
29. Dezember 201714:06
Christian Ziege spielte in seiner Karriere für den FC Bayern, Tottenham Hotspur, den FC Liverpool und den AC Mailandgetty
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Von München über Mailand auf die Insel und zurück: Mehr als 15 Jahre tourte Christian Ziege durch die Metropolen Fußball-Europas. Nach dem Ende seiner aktiven Karriere ist er nun Fußballehrer und seit kurzem neuer Trainer in Thailand. Im Interview spricht Ziege über Telefonstreiche, seine spektakuläre WM-Frisur, die schönste Zeit seiner Karriere und die Verletzung, die ihn fast das Leben gekostet hätte.

SPOX: Herr Ziege, eine kleine Quiz-Frage zum Einstieg: Wie nennt man eine halbhohe Flanke ins Nichts?

Ziege: Keine Ahnung.

SPOX: 11Freunde gab einer solchen Hereingabe den Beinamen "Christian-Ziege-Gedächtnisflanke" und hat gerätselt, ob Sie wüssten, dass Sie dadurch auf Fußballplätzen in Deutschland immer noch präsent seien.

Ziege (lacht): Nein, das wusste ich nicht. Aber so ist das, wenn du als Profi in der Öffentlichkeit gestanden hast. Wenn den Leuten das Spaß macht, sollen sie es weiterhin so nennen. Ich habe damit kein Problem.

SPOX: In der Öffentlichkeit standen Sie zum ersten Mal, als Sie 17 Jahre alt waren und noch bei Hertha Zehlendorf spielten. Ein Anruf von Uli Hoeneß und Ihr Leben änderte sich schlagartig. Stimmt es eigentlich, dass Sie sich am Telefon als jemand anderes ausgegeben haben?

Ziege (lacht): Ja.

SPOX: Wie haben Sie sich Hoeneß vorgestellt?

Ziege: Zu der Zeit habe ich mich entweder als Carl Lewis oder Ben Johnson gemeldet. Bei diesem Anruf war es Carl Lewis.

SPOX: Warum gerade diese beiden Namen?

Ziege: Einfach so, das hatte keinen bestimmten Hintergrund. Ich fand das damals einfach witzig. Aber dann war eben Uli Hoeneß auf der anderen Seite.

SPOX: Und das war dann nicht mehr ganz so witzig?

Ziege: Ich habe den Hörer gleich meinem Vater gegeben, weil ich nicht mehr reden konnte. Ich war einfach völlig perplex.

SPOX: Aus einem Gespräch, das mit einem Telefonstreich begann, wurde eine ziemlich erfolgreiche Zusammenarbeit: Stammspieler, 46 Tore in 227 Spielen, UEFA-Cup-Sieger, Europameister. Waren die sieben Jahre beim FC Bayern Ihre beste Zeit?

Ziege: Es war schon eine super Zeit. Bei Bayern München zu spielen schaffen nicht viele. Ich habe aber gerade die Zeit in England sehr genossen, auch wenn es da nicht so einfach für mich war. Nehmen wir zum Beispiel mein Engagement beim FC Liverpool: Da habe ich wenig gespielt, es war aber trotzdem richtig schön.

SPOX: Denken Sie da vor allem an die Stimmung?

Ziege: Nicht unbedingt. Die Stimmung in europäischen Stadien ist komplett unterschiedlich. Englische Stadien sind immer voll, da ist immer Stimmung. Aber du hast halt nicht die Ultras wie in Italien oder Deutschland, die zum Teil eine ganz andere Atmosphäre verbreiten. Zu meiner Zeit in Italien waren die Stadien zwar noch besser gefüllt, aber da war es stimmungsmäßig entweder ganz oder gar nicht.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Ziege: Wenn du gewonnen hast, warst du der Beste und wenn du verloren hast, warst du der Schlechteste. Dazwischen gab es nichts. Das hatte alles seinen Reiz, aber ich muss schon zugegeben: In der Premier League, da hast du Spaß.

SPOX: Im Rückblick auf Ihre Karriere haben Sie über Hoeneß einmal gesagt, dass er Sie in Ihrem Leben nach Ihrer Mutter am meisten geprägt habe. Inwiefern?

Ziege: Das lag an seiner Art und wie er mit vielen Dingen umgegangen ist. Er hat sich immer vor uns Spieler gestellt und man musste sich vor ihm nicht verstellen. Man konnte offen seine Meinung vertreten und mit ihm diskutieren. Er war nie nachtragend. Wenn man ein Problem hatte, konnte man immer zu ihm kommen. Sowohl als Spieler, als auch in der Zeit danach. Das hat mich unglaublich geprägt.

Kennen sich auch privat sehr gut: Christian Ziege und Uli Hoeneßgetty

SPOX: Wieso ging Ihre Zeit beim Rekordmeister dann so plötzlich vorbei, wenn es persönlich und sportlich doch so gut gepasst hat?

Ziege: Ich habe mir immer gesagt, wenn ich mal gut genug bin, will ich ins Ausland gehen. Die Möglichkeit kam dann durch den AC Milan. Das war bestimmt keine leichte Entscheidung, aber ich wollte diese Herausforderung. Unter dem Strich wollte ich ein anderes Leben und auch Dinge über mich selbst herausfinden.

SPOX: Welche Dinge?

Ziege: Im Nachhinein wollte ich wohl herausfinden, ob ich das alles hinbekomme oder nicht. Eine neue Liga, eine neue Sprache und alles, was damit zusammenhängt.

SPOX: Was mit Ihrer Karriere oft in Zusammenhang gebracht wird, ist der Europameister-Titel 1996. Sie standen aber auch im UEFA-Cup-Finale 1996 und im WM-Endspiel 2002. Welches war für Sie das größte Spiel?

Ziege: Mit Sicherheit das EM-Finale.

SPOX: Warum?

Ziege: Ganz einfach: Weil wir es gewonnen haben. Bei der Europameisterschaft hast du dieses Happy End dabei, an das du dich gerne zurückerinnerst und sagst: Wow! Was für ein Turnier, was für ein Sieg! Dass du bei einer Weltmeisterschaft im Finale stehen darfst, ist natürlich auch etwas ganz Großes. Aber ich habe einfach noch den negativen Eindruck, dass wir es verloren haben. Das bleibt haften.

SPOX: Wenn wir über die WM 2002 sprechen: Schicke Frisur hatten Sie da. Sind Sie froh darüber, dass es damals noch kein Facebook, Instagram oder Twitter gab?

Ziege: Ich war zumindest ziemlich überrascht von dem ganzen Hype, der darum entstanden ist, weil ich mir ehrlich gesagt gar nichts dabei gedacht habe. Wir hatten drei Tage Pause in der WM-Vorbereitung und dann waren plötzlich beim ersten Training danach alle Fotografen da. Zum Teil haben die Leute mehr über meine Frisur diskutiert als über andere, wichtigere Dinge.

SPOX: Wer hatte die Idee dazu?

Ziege: Meine Frau und ich. Ich saß zu Hause, sie hat mir aus Spaß die Haare geschnitten und in der Mitte etwas stehen gelassen. Dann haben wir gesagt: Jetzt machen wir's noch schwarz-rot-gold.

SPOX: Was hat jemand wie Oliver Kahn zu Ihrem Irokesenschnitt gesagt?

Ziege: Eigentlich nichts. Die Reaktionen gingen von Kopfschütteln über Augenverdrehen. Nach einem Tag hatte es sich dann aber auch schon wieder. So wie das eben bei fast allen neuen Dingen ist.

Zog mit seinem schwarz-rot-goldenen Irokesenschnitt bei der WM die Blicke auf sich: Christian Ziegegetty

SPOX: Wir haben über große Spiele gesprochen, über das EM- und das WM-Finale. Welchen Platz in dieser Reihe nimmt der 27. Mai 2004 ein?

Ziege: Was war da?

SPOX: Ein Testspiel zwischen Deutschland und Malta vor der EM.

Ziege: An das Spiel kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern.

SPOX: Es war ein besonderes Spiel für Sie. Stichwort: Rückkehr.

Ziege: Ach so. Das war mein erstes Länderspiel nach 13 Monaten Verletzung. Ich kann mich noch erinnern, dass es eine riesige Diskussion gab, warum ich überhaupt noch nachnominiert wurde. Für mich war das tatsächlich ein Highlight.

SPOX: Die Verletzung, mit der Sie damals so lange ausgefallen sind, war am Anfang gar nicht so schlimm. Und plötzlich ging es dann nicht mehr nur um Ihre Karriere.

Ziege: Das war der Boxing Day 2002, wir haben mit Tottenham gegen Charlton Athletic gespielt. Irgendwann Anfang der zweiten Halbzeit bin ich mit jemandem zusammengestoßen, aber das war nicht mehr als ein Pferdekuss. Ich habe ja sogar noch fast zu Ende gespielt, bin aber kurz vor Schluss vom Platz geflogen. Ich ging ganz normal nach Hause, habe noch etwas gegessen und merkte dann im Laufe des Abends, dass mein Oberschenkel immer weiter anschwoll. Mein Glück war, dass mich meine Frau überredet hat, ins Krankenhaus zu fahren. Gott sei Dank, denn ein paar Minuten später konnte ich nicht mehr selbstständig aus dem Auto aussteigen.

SPOX: Was haben die Ärzte gesagt?

Ziege: Die meinten, wenn ich 30 bis 45 Minuten später gekommen wäre, hätten sie mir entweder das Bein abnehmen müssen, um mir das Leben zu retten oder es wäre generell zu spät gewesen.

SPOX: Die Horrorverletzung bedeutete das Ende Ihrer Zeit bei den Spurs. Danach ging es noch für eine Saison zu Borussia Mönchengladbach, wo Sie Ihre Karriere beendeten. Insgesamt haben Sie 66 Mal in 394 Profispielen getroffen. Ist Ihnen ein Tor besonders in Erinnerung geblieben?

Ziege: Es gibt zwei Tore, an die ich immer gerne zurückdenke. Das eine ist mein erstes Tor für die Bayern, als wir in Dortmund gespielt haben. Da bin ich eingewechselt worden und habe kurz vor Schluss das 3:2 geschossen.

SPOX: Und das andere?

Ziege: Definitv das Tor gegen Arsenal und David Seaman.

SPOX: Als Sie zum AC Milan gewechselt sind, haben Sie angeblich eine Dienstag-Tradition eingeführt. Was hatte es damit auf sich?

Ziege: Ich fand das damals eine super Idee. Jeder Spieler hat die Mannschaft mit Spezialitäten aus seinem Herkunftsland oder seiner Herkunftsregion in Italien verköstigt. Dadurch saß man öfter in einer lockeren Runde zusammen, lernte sich besser kennen und hatte eine gemeinsame Grundlage.

SPOX: Ihr ehemaliger Teamkollege Mehmet Scholl holte jüngst zum Rundumschlag gegen die neue Trainer-Generation aus. Können Sie ihn verstehen?

Ziege: Ich verstehe, was Mehmet sagen wollte. Es hat einen faden Beigeschmack, wenn in der Presse immer von der neuen, modernen Trainer-Generation gesprochen wird. Das kommt so rüber, als würden die Trainer, die früher selbst Fußball gespielt haben, nicht mit den neuesten Techniken und Methoden arbeiten.

SPOX: Die Ausbildung zum Fußballlehrer bezeichnete er als "Gehirnwäsche".

Ziege: Das ist natürlich ein hartes Wort. Es braucht selbstverständlich gewisse Vorgaben im Lernstoff, aber für uns ehemalige Profis ist es schwieriger als beispielsweise für einen Sportstudenten, der es gewohnt ist, von morgens bis abends im Schulraum zu sitzen. Dieser theoretische Block war Mehmet offenbar zu ausgedehnt. Es gibt auch zu vielen Themen 100 verschiedene Meinungen. Von diesen Diskussionen habe ich am meisten gelernt, nicht vom vorgegebenen Stoff. Klar ist allerdings auch: Wenn du die elf Monate in der Ausbildung hinter dir hast, kannst du trotzdem nicht alles zu 100 Prozent. Du lernst ja nicht automatisch, wie du eine Mannschaft führen musst.

SPOX: Besonders die Nachwuchsarbeit wurde von Scholl kritisiert. Können Sie das als ehemaliger Jugendtrainer nachvollziehen?

Ziege: Es wirkt schon alles sehr roboterartig. Jeder fragt nach Typen auf dem Platz, aber die gehen immer mehr verloren. Es gibt sehr wenige Freiheiten für die Nachwuchsspieler. Die Jungs müssen heute nur noch von Montag bis Sonntag funktionieren. Wenn das einer nicht tut und mal ausschert, gibt es sofort einen riesen Aufschrei.