Als Manchester Citys Trainer Pep Guardiola im vergangenen November nach einem der unzähligen Kantersiege des abgelaufenen Kalenderjahrs zur Presse sprach, sorgte er mit einer Aussage über einen gegnerischen Spieler von West Ham United für Verwunderung bei den anwesenden Journalisten: "Declan Rice ist ein außergewöhnlicher Nachwuchsspieler und wird über Jahre hinweg ein bedeutender Spieler für England sein." Für England?
Der defensive Mittelfeldspieler, der trotz der 0:4-Klatsche einen bleibenden Eindruck bei Guardiola hinterlassen hatte, durchlief bis dato sämtliche Auswahlteams der Republik Irland und absolvierte kurz zuvor sein drittes A-Länderspiel für die "Boys in Green". Für jenes Land, in dem seine Großeltern väterlicherseits einst als erste Generation nach der irischen Unabhängigkeit aufgewachsen waren.
Declan Rice: Der Erbe von Bobby Moore?
Dass Rice, der aufgrund besagter irischer Abstammung sowie seines Geburtsorts London die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, wenige Monate nach Guardiolas freudschem Versprecher tatsächlich für England im Halbfinale der Nations League auflaufen und inbrünstig die englische Nationalhymne mitschmettern würde, war für viele Iren zum damaligen Zeitpunkt ein abartiger Gedanke. Als Rice schließlich im Februar verkündete, dass er künftig für die "Three Lions" auflaufen wolle, war das Entsetzen entsprechend groß.
Zum einen waren da die Vorwürfe des Verrats gegenüber dem Geburtsland seiner Großeltern sowie die Unterstellung, Rice würde ausschließlich aus opportunistischen Beweggründen handeln. Das liegt durchaus auf der Hand, denn die Aussichten auf sportlichen Erfolg sind mit Englands Nationalelf de facto größer als beim 29. der FIFA-Weltrangliste - das schien allgemeiner Konsens zu sein.
Zum anderen war es aber auch der schiere sportliche Wert, den viele zu verlieren fürchteten - immerhin handelt es sich um einen frühreifen Leader, der im Team des neuen Irland-Trainers Mick McCarthy eigentlich das Herzstück bilden sollte.
Ein Spieler, der sogar nach seinem Nationenwechsel im März abstruser Weise noch die Auszeichnung für den besten Jungnationalspieler Irlands erhielt und der nun, nach drei Spielen Seite von Seite mit Raheem Sterling, Harry Kane und Co., bereits als Erbe des legendären Bobby Moore (West-Ham-Ikone und Kapitän des englischen Weltmeisterteams von 1966) auserkoren wurde.
Früher Rückschlag und John Terry als Motivator
Angefangen hat alles kurz vor der Jahrtausendwende, als Rice etwa zehn Meilen südwestlich des Charing Cross im Londoner Staddteil Kingston upon Thames das Licht der Welt erblickte. Im wohlsituierten Bezirk Richmond aufgewachsen, reichen die fußballerischen Anfänge von "Deccers" bis ins junge Kindesalter zurück: Als Siebenjähriger durfte er mit einigen anderen talentierten Jungs an einem Probetraining der Chelsea Football Academy teilnehmen und wurde als einer von wenigen Kameraden prompt in die Jugendabteilung aufgenommen.
Sein Weg schien schon früh geebnet, ehe er als 14-Jähriger unerwartet abgewiesen wurde. "Es war gegen 15 Uhr an einem Dienstagnachmittag", erinnerte Rice sich im Interview mit der Evening Standard. "Mein Vater erhielt einen Anruf von Chelsea und wurde darüber informiert, dass sie mich nicht behalten wollen - ich war ungemein enttäuscht."
Die Enttäuschung blieb jedoch nicht von langer Dauer, denn aufgrund seiner körperlichen Anlagen und der technischen Beschlagenheit zeigten mit Fulham und West Ham zwei weitere London-Klubs Interesse an Rice, der sich letztlich für die Hammers entschied und folglich ans andere Ende der Stadt zog. In diesem Alter aus seinem gewohnten sozialen Umfeld herausgerissen zu werden, sei "am Anfang sehr schwer gewesen", beschrieb er. "Aber ich habe mich durchgebissen und letztlich hat es sich ausgezahlt."
Großen Anteil an seinem Durchhaltevermögen hatte auch John Terry, den Rice während seiner Zeit bei Chelsea kennenlernen durfte. "John war eine große Hilfe. Nachdem ich den Verein verlassen hatte, traf ich ihn zufällig in Kingston, aber er wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts von meinem Wechsel.
Ein paar Tage später rief er mich an und hat mir eine halbe Stunde lang Mut zugesprochen: "Tu alles erdenklich mögliche, um der Beste zu sein. Hör' niemals auf", sagte er. Solch einen Anruf von einem meiner großen Idole zu bekommen, war sehr besonders. Ab und zu treffen wir uns noch zum Kaffeetrinken. Seine Ratschläge sind von unvergleichlichem Wert für mich", so Rice.
Rice: Starke Selbstzweifel nach schnellem Aufstieg
Die folgende Entwicklung bei West Ham erlebte Rice quasi im Schnelldurchlauf. Innerhalb von zwei Jahren durchlief er die klubinternen Auswahlteams der U18 und U23, ehe Slaven Bilic ihm am letzten Spieltag der Saison 2016/17 zum Debüt in der Premier League verhalf - im zarten Alter von 18 Jahren. Im anschließenden Sommer erhielt er seinen ersten Profivertrag und kam auf Anhieb auf 26 Einsätze in der englischen Beletage.
Zu dieser Zeit wurde Rice, der vom spielerischen Naturell eher einem Abwehrspieler gleicht und auch als solcher ausgebildet wurde, auf sämtlichen Positionen in der Viererkette eingesetzt. Auch Bilic-Nachfolger David Moyes wusste nicht so recht, wo Rice am besten aufgehoben ist, bot ihn in der Schlussphase der Saison 2017/18 jedoch zumeist als Innenverteidiger auf.
Manuel Pellegrini übernahm im Mai 2018 das Traineramt von Moyes und beorderte Rice am ersten Spieltag der neuen Saison gegen den FC Liverpool neben Kapitän Mark Noble auf die Doppel-Sechs. Aufgrund einiger Nachlässigkeiten, vermehrten Stellungsfehlern, und einem 0:2-Pausenrückstand wurde Rice jedoch bereits nach der ersten Hälfte vom Platz genommen.
"Als ich ausgewechselt wurde, dachte ich mir anschließend, dass ich nicht für die Premier League geschaffen bin", sagte Rice zuletzt auf einer Pressekonferenz und gestand im gleichen Atemzug, dass er nach diesem einschneidenden Erlebnis gar einen Wechsel in Erwägung gezogen hatte: "Das Transferfenster war zu dieser Zeit noch offen und ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, mit dem Trainer zu sprechen, um vielleicht an ein anderes Team ausgeliehen zu werden."
In der Folge häuften sich die Stimmen, die Rice' Tauglichkeit für die höchste englische Spielklasse anzweifelten. Auch die Debatte darüber, ob das defensive Mittelfeld für ihn tatsächlich der geeignetste Einsatzbereich sei, wurde neu entfacht.
"Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das seine Position ist. Wenn er mit dem Rücken zum Tor steht und der Ball auf ihn zukommt, wirkt er auf mich unsicher - als ob er ein Innenverteidiger ist, der notgedrungen im zentralen Mittelfeld spielen muss", urteilte beispielsweise der ehemalige Nationalspieler und heutige TV-Experte Gary Neville.
Rice als Sechser: Die Perfektion der Sicherheit
Es folgten drei Spiele ohne Kaderberücksichtigung, ehe Rice zunächst im League Cup gegen den AFC Wimbledon wieder erste Gehversuche unternehmen durfte.
Am fünften Spieltag erhielt er letztlich eine erneute Chance in der Liga, stand bei der Partie gegen Everton über die vollen 90 Minuten auf dem Platz und war mit daran beteiligt, dass West Ham im Goodison Park den ersten Saisonsieg einfuhr. "Das war ein Wendepunkt", sagte Rice rückblickend. Im Anschluss an diesen Nachmittag stand er in 31 Spielen in Folge in der Startelf und verpasste während dieser Zeit keine einzige Spielminute.
Die Frage nach der Tauglichkeit als Sechser löste sich schnell in Luft auf, auch Rice selbst war sichtlich angetan von der Tatsache, dass Pellegrini ihm wahlweise als alleinigem Sechser oder als Pendant zu Noble das Vertrauen schenkte.
"Dort fühle ich mich am wohlsten, denn ich habe dadurch mehr Freiheiten, kann das Spiel aufbrechen und Tacklings anbringen. Ich besinne mich am liebsten auf die einfachen Dinge und versuche, diese richtig gut zu machen und den Ball laufen zu lassen", sagte er.
Diese Fähigkeit, die Einfachheit des Fußballs in Perfektion zu betreiben, spiegelte sich letztlich auch in den entsprechenden Zahlen der abgelaufenen Spielzeit wider: Rice' Passquote beträgt 86,4 Prozent bei über 3000 Spielminuten. Zudem kommt der Abräumer in der gesamten Saison auf 288 Balleroberungen, nur Wilfred Ndidi von Leicester City hatte in dieser Hinsicht noch die Nase vorn (324, Daten von Opta).
Aus rein sportlicher Sicht hätte das vergangene Jahr für Rice also kaum besser verlaufen können - wäre da nicht die Kontroverse um seinen umstrittenen Verbandswechsel gewesen.
Rice erhält viel Gegenwind
Am 13. Februar gab Rice per offiziellem Statement, welches er auf seinen sozialen Netzwerken veröffentlichte, bekannt, dass er bei der FIFA um einen Wechsel gebeten hatte und künftig für England auflaufen möchte. Ein Vorgang, der aus sportrechtlicher Sicht im Einklang mit den Statuten des Weltverbands steht, da der dreifache irische Nationalspieler bis dato noch kein offizielles Pflichtspiel, sondern lediglich Freundschaftsspiele absolviert hatte.
Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, löste dieser Schritt teils heftige Reaktionen seitens Fans, (Ex-)Spieler und Experten aus. "Wenn du doch so ein stolzer Engländer bist, warum spielst du zuerst für uns?" lamentierte etwa der 110-fache irische Nationalspieler Kevin Kilbane via Twitter und schob nach: "Da bin ich doch lieber 150. in der FIFA-Weltrangliste und qualifiziere mich nie für ein Turnier, als jemand zu sein, der erst einmal überlegen muss, für wen er spielt."
Rice selbst rechtfertigte seine Entscheidung mit der Tatsache, dass er sich schlichtweg zwei Nationen zugehörig fühle. Er sei einerseits "ein stolzer Engländer, der in London geboren und aufgewachsen ist. Trotzdem bin ich gleichermaßen stolz auf die irische Herkunft meiner Familie sowie meine Verbundenheit mit diesem Land. Letztendlich ist es eine persönliche Entscheidung, die ich mit Herz und Verstand im Hinblick auf meine Zukunft getroffen habe."
"Viele irische Zeitungen haben über mich geschrieben, einige Spieler über mich gesprochen", sagte Rice wenige Wochen später, als er im EM-Qualifikationsspiel gegen Tschechien für Dele Alli in die Partie kam und der "Wechsel" sozusagen endgültig vollzogen wurde.
Im Hinblick auf die Opportunismus-Vorwürfe gab er sich im gleichen Atemzug entspannt: "Dahingehend bin ich gelassen, das wird vorübergehen. Ich versuche, dem Ganzen nicht zu viel Beachtung zu schenken. Dazu benötigt es natürlich eine gewisse mentale Stärke, über die ich aber bereits seit meiner Kindheit verfüge."
Carragher: "Wäre nicht überrascht, wenn er als Kapitän aufläuft"
Vermutlich ist es diese Mixtur aus Selbstbewusstsein und einer gewissen Spielintelligenz, die nicht nur Gareth Southgate zu imponieren scheint. "Ich denke, dass er sich innerhalb der nächsten zwölf Monaten auf dieser Position (im defensiven Mittelfeld, Anm. d. Red.) etablieren und dort Englands bester Spieler sein wird. Es würde mich nicht überraschen, wenn er in zwei oder drei Jahren sogar als Kapitän aufläuft", sagte ein überschwänglicher Jamie Carragher zuletzt bei Sky Sports und eröffnete damit indirekt den Konkurrenzkampf mit Eric Dier von Tottenham.
Im 4-3-3 System von Gareth Southgate, welches für gewöhnlich einen klassischen Sechser vorsieht, schickt sich Rice jedenfalls nun an, Dier bis zum Auftakt der Europameisterschaft 2020 den Rang abzulaufen.
Und auch wenn es bis dahin noch nicht zu einem unumstritten Stammplatz reichen sollte, ist Rice dann immer noch 21 Jahre jung und wird mit aller Voraussicht trotzdem "über Jahre hinweg ein bedeutender Spieler für England sein", wie ein gewisser Pep Guardiola bereits im November prophezeite - als Rice noch grün trug.
Declan Rice: Die Leistungsdaten der Saison 2018/19
Declan Rice gehörte in der abgelaufenen Spielzeit zu den absoluten Stammspielern von West Ham United.
Wettbewerb | Spiele | Tore | Vorlagen | Gespielte Minuten |
Premier League | 34 | 2 | - | 3.004 |
EFL Cup | 3 | - | 1 | 260 |
FA Cup | 1 | - | - | 90 |