El Salvador und Honduras duellierten sich um ein Ticket für die WM 1970. Im Anschluss brach ein Krieg zwischen den Nachbarn aus. Mit tausenden Toten.
Dieser Artikel ist bereits im August 2019 erschienen
Tegucigalpa in der Nacht des 7. Juni 1969. Eine krakeelende Menge zieht durch die Straßen der honduranischen Hauptstadt. Vor einem Hotel macht sie abrupt Halt. Der Mob hat sein Ziel erreicht. Der Lärmpegel wird mithilfe von Trommeln und Trompeten hochgeschraubt, auch Böller werden gezündet, Augenblicke später durchschneidet das Geräusch zerberstenden Glases die Dunkelheit. Im Inneren des Gebäudes residiert eine Fußballmannschaft, die aufgrund der Krawalle keine Ruhe findet. Doch was steckt dahinter, warum diese aufgeheizte Stimmung?
Es geht dieser Tage um viel. Darum, die Chance zu wahren, sich als erstes mittelamerikanisches Land sportlich für eine Weltmeisterschaft zu qualifizieren. Um damit verbundene Ehre und großen Ruhm. Da scheinen alle Mittel recht, um dem Gegner das Leben schon vor dem ersten von zwei Quali-Spielen zur Hölle zu machen. Vor allem, wenn der Kontrahent aus dem Nachbarland kommt: El Salvador. Und offenbar tragen die nächtlichen Krawalle Früchte. Honduras bezwingt El Salvador dank eines Last-Minute-Tores von Roberto Cardona mit 1:0.
gettyBeging ein salvadorianisches Mädchen Selbstmord?
Ein Treffer, der laut Angaben des mehrfach für seine nichtfiktionalen Werke ausgezeichneten Starjournalisten Ryszard Kapuscinski verheerende Auswirkungen hatte. Der Pole, der sich mit den damaligen Geschehnissen intensiv auseinandersetzte und diese in "Der Fußballkrieg: Berichte aus der dritten Welt" zusammenfasste, berichtete von einem salvadorianischen Mädchen namens Amelia Bolanos.
Kapuscinski zufolge habe sich die 18-Jährige die Begegnung zwischen Honduras und El Salvador vor dem heimischen Fernseher angeschaut, sei im Moment des niederlagenbringenden Tores aufgestanden, habe sich die väterliche Pistole aus dem Schrank geholt und Selbstmord begangen. Weil sie die Schmach nicht ertragen konnte, wie die hiesige Zeitung El Nacional tags darauf titelte. Bolanos, die junge Patriotin, wurde gefeiert wie eine Märtyrerin. Ihre Beerdigung, bei der Regierungsvertreter sowie die komplette Nationalmannschaft anwesend gewesen sein sollen, nahm demnach staatsbegräbnisartige Züge an.
Bis heute findet sich die Geschichte in zahlreichen Artikeln über den Fußballkrieg, selbst in wissenschaftlichen Arbeiten wird der Tod von Amelia Bolanos aufgegriffen. Mittlerweile gibt es allerdings berechtigte Zweifel an der Darstellung. Der deutsche Autor Dr. Klaus Ehringfeld sowie die beiden polnischen Journalisten Maria Hawranek und Szymon Opryszek hatten sich auf Spurensuche begeben, versucht, den Mythos, der sich um Bolanos rankt, zu verifizieren. Es sollte ihnen nicht gelingen. Weder die Nationalspieler, die bei der Beerdigung mitmarschiert sein sollen, noch andere potenzielle Zeitzeugen konnten sich erinnern. Auch die Suche im Zeitungsarchiv brachte keinen Aufschluss. Weil es ein Blatt namens El Nacional offensichtlich nie gegeben hat. Darüber hinaus wurde in jener Nacht kein Selbstmord bei den Behörden dokumentiert.
Rodrigo Arias, ehemaliger Journalist bei La Prensa Grafica, einer der vier bedeutendsten Zeitungen El Salvadors, verbrachte rund zwei Jahre mit der Suche nach dem Mädchen - um letztlich zu dem Schluss zu kommen: "Ich denke, sie hat nie existiert. Vielmehr glaube ich, dass Kapuscinski sich die Geschichte ausgedacht hat, um sein Buch besser verkaufen zu können. Daran habe ich nicht den kleinsten Zweifel. Aber das ist bloß meine persönliche Meinung." Kapuscinski kann zu den Vorwürfen keine Stellung mehr beziehen. Er verstarb 2007, noch bevor sich diesbezügliche Skepsis breitgemacht hatte.
gettyGriffin: "Ansonsten hätten wir das Ganze nicht überlebt"
Was allerdings in der Folge geschah, ist keine urbane Legende. Am 15. Juni stieg das Rückspiel. Diesmal waren es die Nationalspieler von Honduras, die am Vorabend der Partie kein Auge zumachen sollten. Salvadorianische Fans hatten die Unterkunft belagert. Wieder gingen Fensterscheiben zu Bruch, Eier, selbst tote Ratten und Fäkalien sollen in die Zimmer geflogen sein.
Via Militäreskorte ging es für die Gäste in den Hexenkessel Estadio Nacional Flor Blanca in San Salvador, als Symbol der Abneigung wurde anstatt der honduranischen Flagge ein löchriger Lumpen gehisst. El Salvador entschied das zweite Aufeinandertreffen mit 3:0 für sich. Im Anschluss brach sich das Chaos Bahn. Autos gingen in Flammen auf, etliche Menschen mussten verletzt ins Krankenhaus gebracht werden, zwei Gästefans kamen bei den Ausschreitungen ums Leben. "Wir können glücklich darüber sein, heute verloren zu haben", resümierte Honduras-Trainer Mario Griffin die Ereignisse damals. "Ansonsten hätten wir das Ganze nicht überlebt."
Bemüht man die heutigen Regularien, wäre die Sache eindeutig zugunsten der Salvadorianer ausgefallen. Ende der Sechzigerjahre bedeutete eine derartige Ergebniskonstellation allerdings, dass ein Entscheidungsspiel auf neutralem Boden ausgetragen wird. Dieses stieg in der Hauptstadt des späteren WM-Ausrichters, im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt. Tausende Schlachtenbummler machten sich auf den Weg, um ihr jeweiliges Team zu unterstützen und den Gegner im Idealfall niederzubrüllen.
El Salvador siegt im Entscheidungsspiel - dann bricht der Krieg aus
Passend zur Dramatik, die sich bereits im Vorfeld entwickelt hatte, fand sich nach 90 Minuten kein Sieger. Am Ende der regulären Spielzeit stand ein 2:2 auf der Anzeigetafel. In der elften Minute der Verlängerung schlug El Salvador einen langen Ball in die Hälfte der Honduraner, von wo die Kugel letztlich bei Rechtsaußen Pipo Rodriguez landete, der per Grätsche unhaltbar einschob. Honduras hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Der Moment, der die vorangegangenen Spannungen der beiden Länder zum Zerreißen brachte. Trotz eines riesigen Polizeiaufgebots gingen Flaggen in Flammen auf, Gegenstände flogen, erneut waren Tote zu beklagen. Wenige Tage später brach der Krieg aus.
Rückblickend wurde Rodriguez' Treffer zum Auslöser des bewaffneten Konflikts hochstilisiert. Tatsächlich aber kam das Entscheidungsspiel für die Regierungen der beiden Staaten zu einem "willkommenen" Zeitpunkt, um schon länger schwelende sozioökonomische Streitereien auf dem Schlachtfeld auszutragen. "Die Spiele haben den Krieg nicht ausgelöst", sagte der Torschütze im Interview mit 11Freunde. "Es waren zwei Sachen, die parallel passierten. Fußball auf der einen und Politik auf der anderen Seite. Wir wurden für politische Zwecke benutzt. Unser Sieg war nur ein Element mehr. Der Krieg war nicht aufzuhalten, er wäre so oder so gekommen."
Wie sich später herausstellte, sollte Rodriguez mit seiner Einschätzung richtig liegen. Die beiden Parteien hatten schon vor dem Entscheidungsspiel paramilitärische Verbände in Stellung gebracht, die sich an den Ausschreitungen in San Salvador und später in Mexiko-Stadt beteiligten. Das metaphorische Fass war somit längst mit Schießpulver gefüllt worden.
Der Grund für den Disput: In den Dreißigerjahren hatte die weltweite Depression El Salvador weitaus schlimmer erwischt als das flächenmäßig fünfmal größere, einwohnertechnisch aber vergleichsweise winzige Nachbarland. Zehntausende Salvadorianer hatten die Missstände in ihrer Heimat als Anlass genommen, nach Honduras überzusiedeln und sich ein neues Leben aufzubauen. Dabei handelte es sich vornehmlich um Kleinbauern, die brachliegendes Ackerland bewirtschafteten. Honduranische Bauern waren den Neuankömmlingen, die bisweilen ganze Dörfer gegründet hatten, traditionell feindlich gesonnen, forderten von der Militärregierung, die ungeliebten Nachbarn zu vertreiben.
Die Staatsgewalt erhörte die einheimischen Landwirte und beschloss in einer sogenannten Bodenreform, dass die Einwanderer Honduras binnen 30 Tagen verlassen müssten. Diese Umgestaltung fiel ausgerechnet in den Zeitraum der Qualifikationsspiele. Insbesondere nach dem Rückspiel, das El Salvador souverän gewann und zwei Honduras-Anhänger das Leben kostete, machten Meldungen von Vertreibungen und Folterungen der salvadorianischen Minderheit in Honduras die Runde.
gettyBerichte über Vergewaltigungen und Deportationen
"Wir konnten uns dem gar nicht entziehen", erinnert sich Rodriguez später und schiebt nach: "Es gab in den Medien kein anderes Thema. Die Zeitungen in El Salvador berichteten von vergewaltigten Frauen, von salvadorianischen Familien, die in Honduras aus ihren Häusern geprügelt und deportiert wurden. Das lasen wir natürlich alle."
"Dabei sind Honduraner und Salvadorianer eigentlich wie Brüder", erklärt Walter Hernandez, ein Dokumentarfilm-Regisseur im Gespräch mit dem ORF. "Wir sprechen nicht nur dieselbe Sprache - es gibt mehr Verbindendes als Dinge, die uns trennen." Allerspätestens am 14. Juli 1969 war alle Brüderlichkeit jedoch begraben worden. Um die Ausweisung seiner emigrierten Bauern zu verhindern, flog das militärisch überlegende El Salvador Luftangriffe gegen den Flughafen in Tegucigalpa, startete zudem eine Bodenoffensive.
Nicht mit dem Bestreben, Honduras dauerhaft zu besetzen, sondern lediglich, um ein Bleiberecht der Salvadorianer zu erwirken. Weil eine Rückkehrwelle das ohnehin schon - aus ökonomischer Sicht - strauchelende Land in noch größere Probleme gestürzt hätte. Nach wenigen Tagen hatten sich die salvadorianischen Truppen ins Landesinnere des Kriegsgegners vorgearbeitet, der sich zwar in Vergeltungsschlägen übte, seine militärische Stärke aber heillos überschätzte. Eine Tatsache, die die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zum Einschreiten bewog. Sie versuchte, den Konflikt mittels Sanktionen gegen das von seinen Nachbarstaaten enorm abhängige El Salvador zu entschärfen.
Die Maßnahme zeigte Wirkung. Nach nur fünf Tagen sah El Salvador von weiteren Aktionen ab. Ohne die genannten Forderungen durchgebracht zu haben, stimmte die Regierung einem Rückzug ihrer Truppen zu. Der 100-stündige Krieg, wie die Schlacht bezeichnet wird, hatte Berichten zufolge zwischen 2000 und 6000 Tote, abertausende Verletzte gefordert. 50.000 Menschen waren obdachlos geworden. Jahrelang wirkte der vergleichsweise kurze bewaffnete Kampf nach. Tausende Immigranten sahen sich gezwungen, Honduras zu verlassen, kehrten nach El Salvador zurück, trieben die Überbevölkerung an und lösten die befürchteten sozialen Spannungen aus, die 1981 in einem Bürgerkrieg mit 70.0000 Todesopfern mündeten.
gettyTorschütze Rodriguez: "Ich würde es nochmal so machen"
Beigelegt wurde der Konflikt der beiden Länder erst 1992, Unstimmigkeiten bezüglich der Grenzen im Golf von Fonseca blieben sogar bis 2006 bestehen. Und was war der sportliche Triumph El Salvadors über den Feind letztlich wert? Die Seleccion Cuscatleca, wie die Mannschaft genannt wird, räumte in einer weiteren Quali-Runde Haiti (auch hier ging es ins Entscheidungsspiel, Anm. d. Red.) aus dem Weg und erfüllte sich den Traum von der WM 1970. Dort schied die Mannschaft um Stürmerstar Rodriguez allerdings als schlechtestes aller Teilnehmerländer sang- und klanglos in der Vorrunde aus, ohne einen einzigen Treffer erzielt zu haben. Zu übermächtig präsentierten sich die Gegner aus Belgien, Mexiko und der Sowjetunion.
Kultstatus genießt Rodriguez dennoch nach wie vor in seiner Heimat. "Die Alten" würden ihn auf der Straße immer noch erkennen, sagt er. "Manchmal bleiben auch Eltern oder Großeltern stehen und sagen dann zu ihren Kindern oder Enkeln: 'Schau, das ist der Pipo Rodriguez, der uns zur ersten Weltmeisterschaft geschossen hat.'" Ob er in dem Wissen über die Tragweite seines Tores noch einmal zur Grätsche ansetzen und den Ball im Netz versenken würde? "Ich würde alles nochmal so machen. Ich war doch Stürmer, das war doch meine Aufgabe."