Domenico Tedesco im Interview: "Hey, was ist da los? Bitte schau den Stürmer an, das ist wichtig"

Domenico Tedesco ist neuer Cheftrainer bei RB Leipzig.
© imago images
Cookie-Einstellungen

 

Der Erfolg in Aue führte dazu, dass Sie die Chance als Cheftrainer auf Schalke erhielten. Wir haben schon über einige besondere Momente gesprochen. In Ihrer Zeit auf Schalke sticht natürlich das magische 4:4 im Derby in Dortmund heraus - nach einem 0:4 zur Pause. Leon Goretzka sagte dazu später einmal: "In so einer Situa­tion hat ein Trainer zwei Mög­lich­keiten. Ers­tens: Er tritt auf die Mann­schaft ein. Unser Trainer hat sich für die zweite ent­schieden." Was haben Sie mit der Truppe gemacht?

Tedesco: Ich habe auf jeden Fall nicht draufgekloppt in der Kabine. Wir hatten in den ersten 45 Minuten genügend Prügel bekommen, da brauchte die Mannschaft nicht noch einen brüllenden Coach. Wir hatten vor dem Derby ja eine gute Phase. Wenn dann von fünf Schüssen vom Gegner vier drin sind, kann trotzdem nicht plötzlich alles schlecht sein. So etwas passiert im Fußball. Als wir in der Kabine waren, wussten wir: Wenn wir jetzt gleich wieder rauskommen, werden die Dortmunder Fans und Spieler total euphorisiert sein. Und wir werden die Lachnummer sein. Wir hatten zwei Optionen: Entweder wir ergeben uns und hoffen, dass die Nummer schnell vorbei ist, oder wir drehen die beschissene Situation in eine spannende. Schaffen wir es, hier jetzt die zweite Halbzeit für uns zu entscheiden? Das war unser positives Ziel, das wir formulierten. Der Rest ist Geschichte.

Um noch bei Goretzka zu bleiben: Er ist im Moment sicher einer der Männer der Stunde im deutschen Fußball, aus sportlichen Gründen, aber auch wegen seiner Haltung, die er außerhalb des Rasens immer wieder zeigt. Wie sehen Sie seine Entwicklung?

Tedesco: Ich bin extrem stolz auf Leon. Aber ich bin keinesfalls überrascht von seiner Entwicklung. Wer mit Leon Gespräche führt, erkennt schnell, wie der Junge tickt. In erster Linie ist er ein super Mensch. Er ist intelligent, hochprofessionell, er denkt auch mal ums Eck und er ist sozial extrem sensibel. Das merkst du als Trainer sofort, wenn du siehst, wie er mit seinen Mitspielern umgeht. Und dazu will er jedes Spiel gewinnen - das ist seine Mentalität, die er auf alle anderen überträgt. Deshalb war es für uns auch nie eine Frage, ihn nicht mehr zu bringen, nachdem er seinen Wechsel nach München verkündet hatte. Dafür war er viel zu wichtig. Er hat sich bis zum Ende komplett sauber verhalten, das rechne ich ihm hoch an.

Und fußballerisch?

Tedesco: Leon ist der Prototyp eines modernen Achters. Jeder Verein kann sich so einen Spieler wünschen. Weil er einfach alles mitbringt, was ein Spieler auf dieser Position braucht. Er ist laufstark, technisch top in engen Räumen, er kann den letzten Pass spielen und er ist dazu noch torgefährlich in der Box. Auch für Kopfbälle ist er da immer präsent. Leon Goretzka ist ein Spieler, den man nur cool finden kann.

Auf Schalke hat er phasenweise auch auf der Doppelsechs gespielt.

Tedesco: Im 3-4-3 hat er erst auf der Doppelsechs gespielt, das ist richtig. Er kam dann auch zu mir und meinte: Trainer, ich mach' das auf der Doppelsechs, aber ... Und ich antwortete: Jaja, schon klar, mach das erstmal. (lacht) Als wir auf 3-5-2 umstellten, war klar, dass er auf der Acht gesetzt ist, weil er da seine Stärken noch besser einsetzen kann.

Domenico Tedesco ist voll des Lobes über Ex-Schützling Leon Goretzka.
© imago images / DeFodi
Domenico Tedesco ist voll des Lobes über Ex-Schützling Leon Goretzka.

Domenico Tedesco: "Ich finde eigentlich jede Art von Fußball schön"

Sie wurden auf Schalke als genialer Dompteur gefeiert, lernten im zweiten Jahr aber auch die Schattenseiten kennen. Die schlechten Ergebnisse führten letztlich zur Trennung, aber auch das Narrativ des Betonfußballs spielte eine Rolle. Generell gesprochen: Was ist für Sie schöner Fußball?

Tedesco: Ich finde eigentlich jede Art von Fußball schön.

Wie meinen Sie das?

Tedesco: Nehmen wir als Beispiel das WM-Achtelfinale 2014 Deutschland vs. Algerien. Als Manuel Neuer zum Retter des DFB-Teams wurde. Deutschland hatte in diesem Spiel 80 Prozent Ballbesitz, aber ich fand es trotzdem nicht so schlecht, oder sogar schön, um beim Wort zu bleiben, wie Algerien das gemacht hat. Wie sie gekontert haben, mit welchem Tempo, mit One-Touch-Fußball direkt in die Tiefe - das war schön anzusehen. Oder nehmen wir Atletico Madrid. Diego Simeone ist ja nicht für extremen Ballbesitz bekannt, aber die mannschaftliche Geschlossenheit und die Leidenschaft von Atletico sind für mich genauso spannend wie die aktuelle Spielweise von Bayern oder Liverpool. Und natürlich hat mir auch das Barcelona von Pep Guardiola gefallen. Entscheidend ist doch immer die Frage: Was habe ich für Spieler? Wo sind ihre Stärken? Wie bringe ich diese am besten zur Geltung?

Sie haben einmal gesagt, dass Sie eine Mannschaft haben wollen, die wie ein Boxer in keiner Situation seine Deckung verliert. Also doch eher Defense first?

Tedesco: Nein, gar nicht. Ich möchte schon einen angriffslustigen Boxer, um im Bild zu bleiben. Ich möchte mehr Ballbesitz als der Gegner, ich möchte Torraumaktionen kreieren. Aber es geht immer auch um den Moment des Ballverlustes. Gerade hier sind Teams wie Barca oder City extrem stark. Jeder sieht nur die wunderbaren Tore nach 29 Kontakten, aber ebenfalls entscheidend ist die Struktur, wenn du den Ball verlierst. Dann musst du sofort wieder bereit sein und hoch pressen. Bei Schalke ist uns das über eine lange Zeit gut gelungen.

Heißt, wer die Umschaltmomente kontrolliert, der kontrolliert Fußballspiele?

Tedesco: Für mich ja. Das war auch bei Guardiolas Zeit bei den Bayern zu sehen. Extrem viele Tore sind nach dem folgenden Muster gefallen: Flanke von links oder rechts, der Gegner klärt und an der Strafraumgrenze nimmt jemand wie Arturo Vidal den Ball an, macht das Tor oder steckt ihn durch in die Box. Statt in einen Konter zu laufen, weil du da keine Spieler hast in der Position, machst du das Tor. Die zweite Welle ist bei Guardiola extrem wichtig.

Domenico Tedesco und Pep Guardiola.
© imago images / David Blunsden
Domenico Tedesco und Pep Guardiola.

Domenico Tedesco: "Auf Schalke wollte man mich in die Professoren-Schublade stecken"

Wenn man sich viele Spiele anschaut, aktuell zum Beispiel vom VfB, fällt auf, dass teilweise extrem wenige Überraschungsmomente zu beobachten sind. Sind Überraschungen nicht ein Schlüssel?

Tedesco: Absolut. Das Ziel muss es für mich grundsätzlich sein, den Gegner möglichst oft auf dem falschen Fuß zu erwischen. Ihn möglichst oft zu überraschen. Immer wieder. Du musst Tempo haben, du musst die Tiefe attackieren und im letzten Drittel immer wieder spielen und gehen, wie wir es nennen. Du darfst nicht in deiner Position verwurzelt sein, sondern musst ständig Druck auf die Box machen, zum Beispiel durch Doppelpässe oder einfaches Hinterlaufen. Gerade im letzten Drittel muss es zwar ein paar Abläufe geben, aber ich muss hier auch der Kreativität meiner Spieler Raum geben.

Bei Ihrer Zeit auf Schalke, aber auch bei anderen Vereinen hört man immer wieder das Thema der Überforderung der Spieler. Ist eine Mannschaft wirklich so schnell taktisch überfordert?

Tedesco: Ich versuche als Trainer alles, eine Überforderung zu vermeiden. Wenn du eine Mannschaft übernimmst, begibst du dich in den ersten Wochen immer in eine Art Beobachterrolle. Ich muss ja erkennen, mit was für einer Truppe ich es hier zu tun habe. Ist es mehr eine Ballbesitzmannschaft? Worauf haben sie überhaupt Bock? Sind sie vielleicht richtig stark bei Flanken? Solche Dinge. Das muss ich mir anschauen und mich dementsprechend anpassen. Das heißt aber nicht, dass es kompliziert sein muss. In Moskau haben wir drei Offensivprinzipien erarbeitet, die wir immer wieder sehen wollen und die wir intern klar und verständlich mit einem Satz kommunizieren. Analog gibt es drei Defensivprinzipien. Ich sage meinen Spielern, dass sie es sich wie beim Autofahren vorstellen sollen. Wenn die Ampel auf Grün ist, fahre ich los. Bei Rot bleibe ich stehen.

Also sehr trivial.

Tedesco: Es sind ganz einfache Prinzipien, die jeder verstehen kann. Und die wir dann immer und immer wieder trainieren, in Spielformen oder auch in Video-Sitzungen. Auf Schalke wollte man mich in die Professoren-Schublade stecken, darin sehe ich mich überhaupt nicht. Ich weiß schon, wie ich wen ansprechen kann. Sie können Leon Goretzka ja mal fragen, ob es zu komplex gewesen ist. Die Meinung der Spieler ist doch entscheidend. Aber wenn ich dann auf einer Pressekonferenz mal ein Wort wie determiniert oder so benutzt habe, hieß es gleich, es wäre professorenhaft. Dabei war in der Kabine alles normal, ich habe auch "Leck mich am Arsch" gesagt, das können Sie mir glauben. (lacht).