Gonzalo Higuain (32), Blaise Matuidi (33), Nani (34), Chicharito (32): Das Klischee der MLS als Liga für Altstars im Karriereabend hat noch immer Futter.
Dabei ist die Realität längst eine andere. "Es mag vor ein paar Jahren noch anders gewesen sein. Aber die MLS ist inzwischen alles andere als eine Rentnerliga. Sie ist mittlerweile zu einer sehr guten Entwicklungsliga für Talente geworden", sagt Tanner zu SPOX und Goal.
Mit einem durchschnittlichen Spieleralter von 26,1 Jahren liegt die MLS im Vergleich mit den europäischen Top-Ligen im Mittelfeld. Immer mehr Talente aus der MLS fassen in Europa Fuß, die jüngsten Extrembeispiele: Alphonso Davies beim FC Bayern und Gio Reyna beim BVB.
Die Gründe für den Wandel der MLS sind dabei mannigfaltig. "Die MLS hat in der Jugendarbeit einen großen Sprung gemacht. Das Akademiesystem hat sich durchaus weiterentwickelt, es arbeiten vernünftige Leute an den richtigen Positionen", meint Tanner.
MLS holt strukturell auf - viel Potenzial liegt aber noch brach
Der 54-Jährige arbeitete in den Nachwuchsabteilungen von 1860 München (6 Jahre), der TSG Hoffenheim (3 Jahre in verschiedenen Funktionen) und bis 2018 von Red Bull Salzburg (6 Jahre). Dass es den gebürtigen Traunsteiner vor zwei Jahren in die MLS zog, hat auch mit dem noch immer brachliegenden Potenzial der Liga zu tun.
Zwar holt die Liga strukturell im Vergleich zu Europa auf - der Unterbau wird forciert, Nachwuchsligen wurden gegründet (MLS Next) -, dennoch bietet der Fußball im amerikanischen Sportsystem mit College- und High-School-Teams noch großes Entwicklungspotenzial.
So kommt es noch immer zuhauf vor, dass große Talente aufgrund fehlender Spielpraxis nicht ausreichend gefördert werden. Schon allein, weil es gar keine Spiele gibt, aus denen sie lernen könnten. Jugendmannschaften gab es lange Zeit nur in der Nationalmannschaft. Die neu geschaffenen Akademien der MLS-Teams adressieren dieses Problem zwar, aber es bleibt noch viel Luft nach oben.
Dass der Fußball mit dem übergestülpten US-System weder konkurrenzfähig noch auf Dauer wirtschaftlich lukrativ ist, haben die Teameigner in der MLS mittlerweile größtenteils verstanden. Statt Altstars werden vermehrt erfahrene Fußballfunktionäre aus Europa "importiert". Und noch wichtiger ist: Ihnen wird auch Vertrauen geschenkt.
"Ich habe als Sportdirektor hier enorme Gestaltungsfreiheiten. Ich kann hier machen, was ich für uns als richtig erachte und umsetzen will. Der Rückhalt der Eigentümer in Philadelphia ist sensationell. Das beflügelt und motiviert mich", erzählte Tanner. Das neue Vertrauen rührt auch daher, dass die Teaminhaber für sich erkannt haben, dass der Verkauf von jungen Talenten ordentlich Geld in die Kassen spülen kann.
Ernst Tanner: Talente können sich hier "ruhiger" entwickeln
Die strukturelle Basis ist oder wird also gerade geschaffen. Einen Vorteil aber hat das US-System: Es gibt keinen Auf- oder Abstieg. "Es geht also nicht um Existenzen. Die Spieler geraten nicht zu früh unter zu hohen Druck, damit habe ich immer gute Erfahrungen gemacht. Es fördert die spielerische Kreativität", erklärte Tanner. Zudem verspürten die Trainer nicht denselben Ergebnisdruck wie in Europa und könnten so getrost Talente arrivierten Spielern vorziehen. Die Aufmerksamkeit der Medien gilt ohnehin den großen US-Sportarten. Junge Spieler können sich in der MLS insgesamt "ruhiger" entwickeln als in Europa, meint Tanner.
Gleichzeitig sei es "ein unglaublicher Vorteil, wenn du als junger Spieler in einer Liga reifen kannst, in der du mithalten kannst und das auch noch in deinem kulturellen Umfeld passiert".
MLS? "Der Talentpool hier ist sehr groß"
Wir haben nun also die richtige Struktur und das richtige Umfeld. Jetzt fehlt "nur" noch das Talent. Das ist in der Sportnation USA aber reichlich vorhanden. "Der Talentpool hier ist sehr groß", attestierte Tanner, der vor allem die Athletik der jungen Sportler lobte. Es gelte nur, diese Athletik-Talente nicht an die NFL, NBA, MLB oder NHL zu verlieren.
Neben dem hohen körperlichen Niveau bemerkte Tanner in seinen bisher zwei Jahren MLS noch eine Tendenz: "Besonders wichtig ist mir die Mentalität eines Spielers im Hinblick auf Interesse an seinem Spiel, Arbeitseinstellung, Kritikfähigkeit, den Willen im Wettkampf. Diese Mentalität findet man hier noch sehr oft vor, ich bin regelrecht begeistert. Es geht noch darum, was man als Spieler investieren muss, um besser zu werden. Es gibt nicht 15 Berater, die um die Spieler herumschwänzeln, ihnen einreden, wie gut sie schon seien, und den Jungs sowie ihren Eltern Ertragspotenziale in Aussicht stellen. Hier sind die jungen Spieler noch bodenständiger."
All diese Vorzüge vereint machen die MLS nicht mehr nur für Altstars, sondern auch für Talente interessant. Sie müssen nicht schon im Jugendalter nach Europa wechseln, um sich weiterentwickeln, sondern können die ersten Schritte noch im gewohnten Umfeld gehen.
Aber: "Wenn sich ein Spieler über das Niveau der MLS hinausentwickelt, dann muss er nach Europa, um sich weiterzuentwickeln", sagte Tanner. Bei den nachfolgenden neun Talenten könnte dieser Zeitpunkt in naher Zukunft eintreten. Wir blicken gemeinsam mit Tanner auf die neun vielversprechendsten Youngsters der MLS.