Das kanariengelbe Trikot überstreifen, mit Stars wie Ronaldinho beim Aufwärmen den Ball hin- und herjonglieren und kurz vor dem Spiel mit voller Inbrunst die Hino Nacional Brasileiro schmettern: Einmal für die Selecao aufzulaufen, ist wohl der Traum eines jeden jungen Brasilianers. Mario Fernandes sollte diese Ehre im Alter von 21 Jahren zu teil werden. Doch das vielversprechende Talent hatte andere Pläne.
Am 25. September 2011 erzielte Fernandes im Auswärtsspiel bei Avai den Führungstreffer und ebnete damit den Weg zum 2:1-Sieg für Gremio Porto Alegre. Am nächsten Morgen hätte der Verteidiger, seinerzeit von europäischen Spitzenklubs wie Real Madrid, Inter Mailand und Juventus Turin umgarnt, am Flughafen in Belem erscheinen müssen. Geplanter Abflug: 6.30 Uhr.Fernandes verschlief den Flug nach einer durchzechten Nacht. Der Verteidiger hatte den Sieg seines Teams ausgiebig gefeiert. Ein Bier hier, ein Longdrink da, ein komatöser Schlaf.
Als sich der Tross der brasilianischen Nationalmannschaft schließlich zur Vorbereitung auf das anstehende Länderspiel gegen Argentinien traf, fehlte Fernandes. Der Verband zog Konsequenzen und sperrte den Youngster für drei Jahre. Es war diese eine Nacht, mit der sich Fernandes beinahe seine ganze Karriere ruiniert hätte.
Fernandes wurde im September 1990 in Sao Caetano do Sul, einem Vorort im Osten der brasilianischen Metropole Sao Paolo, geboren. In der 150.000-Einwohner-Metropole lernte er das Fußballspielen, trug in jungen Jahren das Trikot von Sao Caetano. Im Alter von 18 Jahren zog es ihn schließlich von seiner Geburtsstätte nach Porto Alegre zu Gremio.
Mario Fernandes: Depressionen, Alkohol und Fastfood
Fernandes unterzeichnete im März 2009 seinen ersten Profivertrag. Eine große Karriere schien sich anzubahnen, doch am Tag nach der Vertragsunterzeichnung fehlte vom Defensivtalent jede Spur. Erst 72 Stunden später tauchte er wieder auf, hunderte Kilometer entfernt von seiner neuen Heimatstadt. Fernandes hatte unter anderem seinen Onkel besucht.
Erst später sollte sich herausstellen, dass Fernandes seinerzeit mit Depressionen zu kämpfen hatte. "Ich hatte unglaubliches Heimweh, deswegen bin ich für ein paar Tage verschwunden", sagte Fernandes kürzlich über den Vorfall. Es sei damals sehr hart für ihn gewesen, seinen Geburtsort für die Karriere zurückzulassen.
Doch nicht nur die Sehnsucht nach seiner Familie nagten an ihm, auch die verführerischen Seiten des Lebens machten Fernandes damals zu schaffen. Alkohol, zahlreiche Partys und mangelnde Disziplin waren ein ständiger Begleiter: "Ich war 19 Jahre jung und habe ganz alleine in Porto Alegre gelebt. Jeden Tag gab es Pizza oder etwas von McDonald's. Ich habe so viel gebechert, dass ich manchmal betrunken zum Training gekommen bin."
Nach einer psychotherapeutischen Behandlung bekam Fernandes seine Depressionen in den Griff und schaffte es in der brasilianischen Liga mit Leistung zu überzeugen. In der Saison 2011/12, in der er sich beinahe seine Karriere verbaut hätte, gelang ihm der Durchbruch. Fernandes kam 33-mal für Gremio zum Einsatz, er legte sieben Treffer auf und wurde am Ende der Spielzeit zum besten Rechtsverteidiger der Liga gewählt. Plötzlich standen ihm wieder alle Türen offen.
Fernandes zog ZSKA Moskau wohl Real Madrid vor
ZSKA Moskau sicherte sich im Sommer 2012 schließlich seine Dienste - für eine kolportierte Ablösesumme von gut zehn Millionen Euro. Die Russen stachen mit ihrem Angebot angeblich sogar Real Madrid aus.
Die Königlichen hätten Gremio eine höhere Ablöse und Fernandes einen besser dotierten Vertrag angeboten, verriet der frühere ZSKA-Boss Anton Yevmeno damals. Fernandes behielt jedoch einen kühlen Kopf, entschied sich aufgrund der Konkurrenzsituation für ZSKA. Eine goldrichtige Entscheidung, wie sich später herausstellen sollte.
Yevmeno erklärte seinerzeit: "Fernandes hat verstanden, dass er bei Real nur Ersatz gewesen wäre. Wir dagegen haben ihm einen Stammplatz zugesichert. Hier hat er mehr Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln."
Gesagt, getan. Mit ZSKA holte Fernandes in den Jahren 2013, 2014 und 2016 die russische Meisterschaft sowie je einmal den Pokal und den Superpokal. Er reifte zum Leistungsträger und leistete einen beträchtlichen Beitrag zu den Erfolgen. Zudem kann sich Fernandes seit 2014 Jahr für Jahr in der Champions League mit den Besten der Besten messen. In Moskau etablierte sich der Verteidiger endgültig im Spitzenfußball, seit 2012 legte er 47 Treffer auf - Top-Wert bei Moskau in diesem Zeitraum.
Fernandes: Russland statt Brasilien
Fernandes spielte so stark, dass er sogar in der brasilianischen Nationalelf eine zweite Chance bekam. Kurz nach der WM 2014 wurde er von Trainer Dunga nominiert. Beim 4:0-Testspielsieg gegen Japan kam er schließlich zur zweiten Halbzeit für Danilo aufs Feld, feierte sein Debüt und durfte an der Seite von Neymar, Willian und Co. 45 Minuten lang brasilianische Länderspielluft schnuppern. Damals ahnte noch niemand, dass es Fernandes' erster und letzter Auftritt für die Selecao bleiben sollte.
Um dies zu verstehen, muss man wissen, dass Fernandes' Entschluss keine Entscheidung gegen Brasilien war, sondern eine für Russland.
Hier ist er als Mensch gereift, hier änderte er seine bis dato so jugendlich geprägte Lebenseinstellung. Eines der Schlüsselereignisse war dabei der Besuch einer brasilianisch-evangelischen Kirche in der russischen Hauptstadt. "Unser Glaube basiert auf der Bibel. Ich respektiere jede christliche Religion, wir glauben alle an ein- und denselben Gott. Denkt also bitte nicht, dass ich ein perfekter Mensch bin, sicher nicht. Ich habe mich einfach nur verändert", sagte er der russischen Regierungszeitung Rossiyskaya Gazeta im Oktober 2017.
Sein Bruder Jo erklärte dem Bleacher Report: "Russland hat sein Leben verändert. Er sagt mir immer wieder, er habe den besten Platz der Welt gefunden. Die Russen haben Mario alle Türen geöffnet."
Auch deshalb musste Fernandes nicht lange überlegen, als sich die Möglichkeit auftat, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, um anschließend für die Sbornaja aufzulaufen. Als er 2016 seinen Pass bekam, wurde Fernandes in seiner Heimat als "Verräter" beschimpft, letztlich hat er aber nur auf sein Herz gehört.
Im Oktober 2017 debütierte Fernandes unter Trainer Stanislav Tschertschessow für die russische Auswahl. Mit seinem ruhigen und abgeklärten Spiel wusste er von Beginn an zu überzeugen. Das tat er auch bei seinem vorläufigen Karriere-Höhepunkt: Der Heim-WM 2018.
Fernandes glänzt bei russischer Heim-WM
Als Russland das Turnier am 14. Juni 2018 gegen Saudi-Arabien eröffnete, schaute die ganze Welt ins Luschniki-Stadion. Und Fernandes war mittendrin. Ganz cool - als wäre er bereits ewig dabei.
Trotz zuvor erst fünf Länderspielen schenkte ihm Trainer Tschertschessow das Vertrauen. Fernandes zahlte es mit Ruhe und spielerischer Intelligenz zurück, entwickelte sich im weiteren Verlauf des Turniers gar zur zentralen Figur des Teams.
Fernandes legte im Gruppenspiel gegen Ägypten das 2:0 vor, brachte Spanien-Ass Marco Asensio im Achtelfinale zur Verzweiflung und beim Viertelfinal-Aus gegen den späteren Finalisten Kroatien traf er in der Verlängerung zum 2:2. Dass er anschließend durch seinen Fehlschuss im Elfmeterschießen noch zu einer Art tragischer Held wurde? Nur eine kleine Randnotiz.
Denn: Fernandes hat sich verändert und seine Wahlheimat längst ins Herz geschlossen. Den Flug zu einem Länderspiel würde er nicht noch einmal verpassen. "Ich", sagte Fernandes jüngst im Gespräch mit der Sun, "kenne nicht einmal das russische Nachtleben."
Fernandes legt Karriere-Pause ein
Und dennoch erhielt seine Karriere einen nächsten Knick, denn: Seit Mai 2022 lässt er sie ruhen. Überraschend verkündete ZSKA nach Ende der Saison, dass Fernandes bei den Klubbossen um eine "Ruhepause" gebeten habe und zu seiner Familie nach Brasilien reisen werde.
Auf der Homepage des russischen Klubs wurde ein offener Brief des gebürtigen Brasilianers veröffentlicht, in dem er von einer "kolossalen Ermüdung" spricht, die es ihm unmöglich mache, weiter auf Top-Niveau "alles für ZSKA" zu geben. Dabei betonte Fernandes, dass er Russland "nicht aufgrund bestimmter Weltereignisse" verlasse.
Mit den "bestimmten Weltereignissen" meinte Fernandes den Angriffskrieg, den Russland im Frühjahr auf die Ukraine startete - und der sich bis zum heutigen Tag zieht. Ob der gläubige Christ Fernandes vor dem Krieg flüchtete oder nicht: Sein Karriere-Wandel ist beeindruckend - und es wäre allzu traurig, wenn sie sich so leise dem Ende entgegen neigen würde.