Als fußballliebendes Kind hat man es in Uruguay seit jeher ziemlich einfach, sich ein Idol auszusuchen. Bis in die 1930er und 1950er Jahre zurückzugehen, würde den Rahmen jetzt sprengen, auch wenn damals schon mit zwei WM-Titeln einige Helden geboren wurden.
Blickt man allein nur auf die letzten Jahrzehnte zurück, entsteht aber dennoch eine illustre Liste. Da ist Ruben Sosa, der in Spanien und Italien für Furore sorgte, daher auch kurz mal bei Borussia Dortmund vorbeischaute. Beim BVB war er nicht so erfolgreich, aber es hat Spaß gemacht, ihm zuzusehen.
Das gilt auch für Alvaro Recoba. Ein unfassbares Talent von der Haarspitze bis zum Fuß. Es gab bei Inter berühmtere Spieler wie Ronaldo oder Christian Vieri, aber selbst den dauerverletzten Ronaldo konnte er mit seiner Spielweise manchmal beinahe vergessen lassen. Was für eine Ballbehandlung, was für ein Spielwitz.
Über Diego Forlan, Edinson Cavani und Luis Suarez muss man dann nicht weiter Worte verlieren. Sie gehörten zu den besten Stürmern der Welt und standen sogar gemeinsam auf dem Platz. Nostalgiker bekamen bei der Weltmeisterschaften 2010 und 2014 einen Ausschlag vor Freude. Der uruguayische Fußball braucht sich aber keine Sorgen zu machen, dass mit dieser goldenen Generation alles endet.
Denn: Mit Dawid Nunez steht schon der nächste Stürmer für die Ewigkeit parat, den Forlan, Suarez und Cavani schon mehrmals als ihren würdigen Nachfolger erklärten und generell keine Gelegenheit auslassen, um ihre Begeisterung zu unterstreichen.
Darwin Nunez: Sein Bruder opferte sich für die Profikarriere
Sicherlich gibt es Unterschiede zu den drei Helden und bis zuletzt auch Zweifel, dass Nunez eine neue Ära einleiten kann. Denn während all die genannten Namen mit Pauken und Trompeten ihren Weg an die Spitze ihres Metiers machten, war Nunez anfangs kein Wunderkind, dem alle eine großartige Karriere voraussagten.
Bis auf Jose Perdomo vielleicht. Der ehemalige Mittelfeldspieler war kein Superstar, eher ein Lokalheld. Er war erfolgreicher in Uruguay als in Europa, wo er für Genua, Coventry und Betis spielte. Wie nachhaltig sein Wirken in Europa war, erklärt vielleicht das Zitat von Vujadin Boskov aus der Saison 1989/90. Der Serbe war Trainer von Sampdoria und nach einem Derby gegen Genua nicht besonders angetan vom Südamerikaner. "Wenn ich meinen Hund loslasse, würde er besser spielen als Perdomo", sagte Boskov.
Was nicht bedeutet, dass Perdomo keine Ahnung vom Fußball hat. Für seinen Stammverein Club Atletico Penarol agierte er als Scout und ging um Spieler zu sichten auch dorthin, wohin sich andere nicht im Traum hinbewegten. Nach Artigas, im Norden des Landes, direkt an der Grenze nach Braslien, beispielsweise. Man lebt hier von der Landwirtschaft, aber das Leben ist hart. Auch für die Familie Nunez. Der Vater ist Bauarbeiter, die Mutter sammelte Flaschen, um sie für die Weiterverarbeitung zu verkaufen.
Es ist kein Zufall, dass die Region viele Fußballer hervorgebracht hat. Es ist ein Ausweg aus der Not, die Straßenkicker haben oft keine andere Perspektive und klammern sich an den Strohhalm, es irgendwann einmal über den Weg des Profifußballers zu schaffen. Die Nunez-Familie hatte zwei Söhne, die es nicht anders sahen.
Sie waren gut und Perdomo lotste sie in die 600 Kilometer entfernte Hauptstadt Montevideo. Darwins älterer Bruder Junior stellte sich besser an, aber er beendete seine Karriere schon mit 17, weil er zuhause gebraucht wurde. Er opferte sich für seinen Bruder, damit zumindest einer die Chance auf eine Profikarriere wahren konnte.
Darwin Nunez: Kreuzbandriss, 2. Liga und dann kam Benfica
Darwin wusste dieses Opfer zu schätzen und er biss sich rein. Die Trainer von damals erzählten in den letzten Jahren mehreren Medien immer wieder die Geschichte, wie Darwin sagte, er werde Profifußballer, um seiner Familie zu helfen. Perdomos Mühen zahlten sich aus. Nunez erlitt zwar den einen oder anderen Rückschlag, erlitt gar einen Kreuzbandriss, aber die Hartnäckigkeit und der Wille, die Familie zu retten, halfen Nunez, um bei Penarol durchzustarten. Er war gut, aber noch nicht von dem Kaliber, dass die Großen dazu veranlasste, den Jungen ins Visier zu nehmen.
Also wurde es UD Almeria, ein Zweitligist aus Andalusien. Turki Al-Sheikh, ein saudi-arabischer Geschäftsmann, investierte in den Klub, zahlte vier Millionen Euro für Nunez und neun Millionen für Arvin Appiah. Al-Sheikh wollte Almeria in die Primera Division führen. Das Vorhaben scheiterte zwar damals, aber Nunez konnte mit 16 Toren in 32 Spielen auf sich aufmerksam machen. Der teurere Appiah, einst U19-Nationalspieler Englands, dagegen war ein Flop. Er schoss genau ein Tor und kickt heute beim Zweitligisten CD Lugo auf Leihbasis.
Für Nunez ging es dagegen bergauf: Scouts von Benfica entschieden sich, den Jungen intensiver zu beobachten. Sie sahen noch einige Schwächen bei Nunez, aber Benfica ist kein Klub, der darauf wartet, bis ein Spieler so reif ist, dass man ihn kaufen MUSS. Da wäre es eh zu spät, weil die zahlungskräftigen Klubs dann zuschlagen. Benfica holt keine Spieler für ihr aktuelles Können, sondern für das Zukünftige.
"Es ist eine Art Pipeline, in der wir talentierte Spieler haben. Einige, die von der Akademie kommen und andere, die wir in einem früheren Stadium kaufen. Wir versuchen, mit diesen Spielern eine zusätzliche Einnahmequelle zu generieren, um die Investitionen, die wir in andere Spieler tätigen müssen, zu unterstützen", sagt Benfica-CEO Domingos Soares.
Darwin Nunez: Alle Topklubs haben einen Plan mit ihm
Der Plan ging bei Nunez komplett auf. Seit seiner Ankunft 2020 entwickelte er sich immer mehr zu einem besseren Stürmer. Einer wollte ganz genau wissen, ob Benfica wirklich ein gutes Pflaster für den Jungen ist: Jose Perdomo. "Ich habe mich über die Bedingungen bei Benfica informiert, und sie haben sich sehr verbessert, sie haben eine großartige Infrastruktur", so Nunez' Förderer.
Bei 26 Toren in 28 Ligaspielen und sechs Champions-League-Toren in zehn Spielen wäre es auch sehr überraschend, wenn dem nicht so wäre. Zahlen, die nun auch eine Etage höher für Aufmerksamkeit sorgen. Es vergeht kein Tag ohne Transfergerücht. So ziemlich jeder Klub, der dazu in der Lage ist, eine sehr hohe zweistellige Millionensumme zu investieren, wurde mit Nunez in Verbindung gebracht.
Als Nachfolger von Kylian Mbappe in Paris, als Nachfolger von Robert Lewandowski beim FC Bayern, als Nachfolger von Erling Haaland bei Borussia Dortmund, als Auffüller der Leere bei Manchester City, als Lebensretter von Manchester United, als besserer Romelu Lukaku beim FC Chelsea. Es klingt fast überall plausibel, warum man einen Stürmer dieses Kalibers holen sollte. Aber mitunter wirkt es so, als würden die Gerüchteproduzenten Nunez nicht gesehen zu haben. Klar, seine Quote spricht für sich. Aber die guten Quoten resultieren aus einer Spielweise, die Nunez zugutekommt.
Mit 1,90 Meter und seiner Statur wirkt er wie der geborene Mittelstürmer. Aber er ist so schnell und agil, dass er bei Benfica auch schon mal auf die linke Außenposition auswich oder als Hilfsstürmer für Roman Yaremchuk oder Haris Seferovic agierte. Beobachter sagen, dass er eigentlich prädestiniert für eine Kontermannschaft ist, wo er seine Stärken ausspielen kann. Die hohe Torquote in der Champions League, wo Benfica eher dem Gegner den Ball überließ, ist ein Indiz dafür.
Darwin Nunez: Passt er überhaupt in System?
So gesehen passt Nunez vielleicht gar nicht zu all diesen genannten Klubs. Vielleicht aber kommt das noch, denn seine Entwicklung dauert noch an. Wer soll das besser wissen als Jose Perdomo? "Darwin ist noch nicht fertig. Er hat noch mehr zu lernen." Bei Benfica ist man sehr froh, dass sich das kleine Risiko, 13 Millionen Euro für einen unfertigen Spieler, der 16 Tore in einer 2. Liga schoss, gelohnt hat. Man wird ein Vielfaches verdienen, wenn man verkauft. Aber auch so freut man sich mit ihm.
Nicht nur, weil man das Investment zurückholt, sondern will dieser Darwin Nunez auch einfach ein guter Typ ist. Kenner beschreiben ihn nach wie vor als sehr bodenständig. David Badia, der Nunez als Co-Trainer von Almeria miterlebte, erzählt von einem gemeinsamen Erlebnis. "Wir waren in einem Geschäft. Er wollte ein Handy kaufen, aber es war ein ganz normales, nicht das teuerste, das er finden konnte. Ich fragte ihn, warum er nicht ein besseres Telefon kauft. Er sagte: 'Das ist genug - damit kann ich die Leute anrufen'."
Bei Papa Bibiano, bei Mutter Silvia und beim Bruder Junior aus Artigas an der Grenze zu Brasilien.