Ganz genau lässt sich das natürlich nicht sagen, aber verschiedenen Erhebungen zufolge hat fast die Hälfte aller argentinischer Staatsbürger italienische Wurzeln. Um 1900 wanderten Millionen Italiener ins ferne Amerika aus, die meisten nach Argentinien. So auch die Vorfahren der Architekten des jüngsten WM-Triumphs: Superstar Lionel Messi und Nationaltrainer Lionel Scaloni haben ihre Wurzeln sogar im selben italienischen Bundesland, in den Marken.
Während sich die beiden Lionels für die Nationalmannschaft ihres Geburtslandes entschieden, spielten bereits 23 Argentinier mit italienischen Wurzeln für die Heimat ihrer Vorfahren. In Italien gibt es für sie sogar einen eigenen Fachterminus: Oriundi.
Luis Monti aus Buenos Aires verlor mit Argentinien das WM-Finale 1930, ehe er vier Jahre später gemeinsam mit zwei anderen Oriundi den Titel für Italien holte. Omar Sivori avancierte in den 1950er Jahren bei Juventus Turin zum Superstar, auch er spielte für beide Nationalmannschaften. Als 2006 solche Nationen-Wechsel längst verboten waren, gewann der gebürtige Argentinier Mauro Camoranesi mit Italien die Weltmeisterschaft.
Sie alle standen zum Zeitpunkt ihrer Debüts für die italienische Nationalmannschaft bei Serie-A-Klubs unter Vertrag. Beim neuesten Oriundo verhält es sich anders: Mateo Retegui absolvierte in seinem bisherigen Leben noch kein einziges Fußballspiel auf italienischem Boden. Entsprechend überraschend kam die erstmalige Nominierung des 23-jährigen Stürmers vom argentinischen Erstligisten Club Atletico Tigre.
Am Donnerstag könnte Retegui, dessen Großvater mütterlicherseits aus Sizilien stammt, beim EM-Qualifikationsspiel gegen England (20.45 Uhr im LIVETICKER) sein Debüt feiern. Ausgerechnet in Neapel, der argentinischsten Stadt des Landes. Ausgerechnet im Stadio Diego Armando Maradona, benannt nach der größten Fußball-Legende Argentiniens. Es wäre eine weitere kuriose Episode einer an kuriosen Episoden ohnehin reichhaltigen Karriere.
Mateo Retegui: Fußball, Feldhockey, wieder Fußball
Retegui kam 1999 im Großraum Buenos Aires zur Welt. Im Alter von neun Jahren schloss er sich der Nachwuchsabteilung von River Plate an, wo er fünf Jahre lang zum defensiven Mittelfeldspieler ausgebildet wurde. "Dann hat er den Klub verlassen, weil er auch im Feldhockey sehr gut war. Unserem Familien-Sport", berichtete sein Vater Carlos neulich der Gazzetta dello Sport.
Carlos Retegui spielte einst für die argentinische Feldhockey-Nationalmannschaft. Nach dem Ende seiner aktiven Karriere coachte er sie bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro zur Goldmedaille. Seine Tochter Micaela gewann 2020 in Tokio Silber, sein Sohn schaffte es nach seinem Abschied vom Fußball immerhin zum Nachwuchs-Nationalspieler. "Mit 15 hat ihn aber ein Boca-Scout überzeugt, wieder Fußball zu spielen", erzählte sein Vater.
Bei Rivers Erzrivalen schulten sie den einstigen Mittelfeldspieler zum Stürmer um. 2018 feierte Retegui im Alter von 19 Jahren sein Profidebüt - per Einwechslung für Klub-Legende Carlos Tevez. Bis heute war das sein einziger Einsatz für Boca, der Durchbruch blieb Retegui bei Boca verwehrt. Seit mittlerweile vier Jahren spielt er per Leihe für diverse andere argentinische Erstligisten.
Nach halbwegs unauffälligen Engagements bei Estudiantes de la Plata und CA Talleres startete er 2022 bei Tigre aus einem nördlichen Vorort von Buenos Aires durch. In der aktuellen Saison führte er nach acht Ligaspielen mit sechs Treffern die Torschützenliste an. Der 1,86 Meter große Retegui glänzt zwar in erster Linie mit körperlicher Präsenz und einer aufopferungsvollen Spielweise, ist aber auch technisch stark. In Argentinien vergleichen sie ihn mit Harry Kane, sein Vater sieht unterdessen Parallelen zu Erling Haaland: "Er spielt sehr ähnlich wie Mateo. Beidfüßig und sehr stark mit dem Kopf."
Mateo Retegui: Seine Karrierestationen
Zeitraum | Klub | Pflichtspielele | Tore | Assists |
2018 bis 2019 | Boca Juniors | 1 | - | - |
2019 bis 2020 | Estudiantes | 29 | 5 | - |
2020 bis 2021 | CA Talleres | 61 | 7 | 4 |
seit 2022 | CA Tigre | 51 | 29 | 3 |
Mateo Retegui weckt Interesse in der Serie A
Der argentinische Verband berief Retegui einst in die U19-Nationalmannschaft, griff seitdem aber nicht mehr auf seine Dienste zurück. Die Konkurrenz mit Lionel Messi, Lautaro Martinez, Paulo Dybala, Julian Alvarez und Co. ist schlicht zu groß. Während Argentinien über herausragende Angreifer im Überfluss verfügt, herrscht in Italien aktuell eine Sturm-Dürre: Ciro Immobile ist verletzt - und dann landet man auch schon bei Kandidaten wie Giacomo Raspadori (SSC Neapel) oder Gianluca Scamacca (West Ham United).
"Wir haben Probleme im Angriff", gab Nationaltrainer Roberto Mancini neulich zu. Deshalb würde er Retegui schon "seit einiger Zeit" beobachten: "Er hat Qualitäten, die uns leider fehlen. Wir dachten, er würde nicht kommen wollen, aber er hat sofort zugesagt." Retegui selbst hat sich zu seiner Nominierung noch nicht geäußert, laut seines Vaters sei er "glücklich und stolz" über diese Chance.
Die Einberufung in die italienische Nationalmannschaft könnte Retegui als Sprungbrett in die Serie A dienen. In der Winter-Transferperiode bemühte sich Udinese Calcio um seine Dienste, mittlerweile werden auch größere Kaliber wie die AS Roma oder AC und Inter Mailand mit ihm in Verbindung gebracht.
Ein möglicher Wechsel könnte sich aber durchaus kompliziert darstellen: Retegui gehört immer noch Boca, nach der Saison kann sich sein aktueller Klub Tigre per Klausel 50 Prozent der Transferrechte sichern. "Ein Interessent müsste sich dann mit beiden Klubs einigen", erklärte Reteguis Vater, der gleichzeitig auch als sein Berater fungiert. "Ich kann versichern, dass ihn viele europäische Klubs beobachten. Europa ist sein Traum." Zumindest auf Nationalmannschafts-Ebene hat er sich diesen Traum immerhin schon mal erfüllt.