Neun Jahre nach der Übernahme durch Roman Abramowitsch weiß in West-London noch immer niemand wirklich, was im Kopf des russischen Milliardärs vor sich geht; vielleicht weiß er es nicht mal selbst so genau.
Einen kleinen Einblick gewährte jedoch die skurrile Szene, die sich unmittelbar nach dem Gewinn des Champions-League-Pokals in der Münchner Allianz Arena abspielte. Abramowitsch, erzählt ein Augenzeuge, gratulierte der Mannschaft, schob aber sofort eine Einschränkung hinterher. Man habe "nicht so gut gespielt", stellte der 46-Jährige ungerührt fest.
Der mit destruktiven Mitteln erzielte Gewinn des Europapokals, so scheint es, hat Abramowitschs Sehnsucht nach dem schönen Kick zusätzlich befeuert. Titel allein sind ihm nicht mehr genug.
Filigran statt Muskel-Fußball
Auf Trainer Roberto di Matteo kommt so in dieser Saison eben jene herkulöse Aufgabe zu, an der schon sein Vorgänger André Villas-Boas grandios scheiterte: aus der Muskel-Fußball-Truppe Chelsea, dem Tiki-Taka-Gegengift von der Themse, soll nicht weniger als eine Londoner Dependance von Barcelona werden.
Die von Sportdirektor Michael Emenalo in enger Zusammenarbeit mit Abramowitsch getätigten Transfers zeugen von dem Wunsch nach Wandlung. Der Belgier Eden Hazard, 21, ein Flügelstürmer, der auch als Spielmacher fungieren kann, kam für 33 Millionen Euro aus Lille. Den 20-jährigen Brasilianer Oscar (Internacional) ließen sich die Blues 32 Millionen Euro kosten, er spielt am liebsten als Zehner.
Mit Werders Marko Marin (8,5 Millionen Euro) könnte die seit längerer Zeit vermisste "width", die Breite, ins Spiel der Londoner kommen; Linksaußen Victor Moses (Wigan Athletic) steht ebenfalls auf dem Einkaufszettel. Sie alle sollen Chelsea jünger, kleiner, technischer machen und jene Entwicklung vorantreiben, die mit der Verpflichtung von Juan Mata im Vorjahr zaghaft begann.
"Mit den Qualitäten und Fähigkeiten der neuen Spieler wird sich das Gesicht der Mannschaft verändern", verspricht Di Matteo, "die Rotation und das Spiel zwischen den Linien wird uns in der Offensive sehr zugute kommen." Das neue Chelsea hat den Befehl, die Gegner nicht mehr mit urbändiger Kraft und professioneller Abgekochtheit, sondern mit Feinfüßigkeit und Fantasie zu bezwingen.
Drogbas Abgang verständlich
Dass sich der Klub nicht mit aller Kraft gegen den Abgang der Ikone Didier Drogba nach Schanghai stemmte, wird in diesem Zusammenhang verständlich. Allein mit seiner Anwesenheit bestimmte die mobile Abrissbirne von der Elfenbeinküste die Statik im blauen Spiel.
Die Versuchung, ihn mit steilen, hohen Bällen in Aktion zu setzten, war zu groß. Ganz auf Fernando Torres will und kann man sich aber auch nicht verlassen. Der Spanier erschütterte die Vereinsoberen mit seinen Unmutsäußerungen ("diese Saison hat die schlimmsten Momente in meiner Karriere gebracht") nach dem Triumph in Fröttmaning und wirkt trotz seines Treffers beim 2:3 im Supercup gegen Manchester City weiter grüblerisch.
Der sehr viel direktere, um Egoismus auf dem Platz nie verlegene Nationalstürmer Daniel Sturridge ist kein schlechter Ersatzmann. Doch der Wechsel von Talent Romelu Lukaku zu West Brom - Leihvertrag für ein Jahr - legt die Vermutung nahe, dass sich Chelsea noch um einen weiteren Angreifer der absoluten Top-Klasse bemüht.
Noch ein Stürmer?
Sowohl an Edinson Cavani (Napoli) und Hulk (Porto) haben die Blauen Interesse gezeigt, die Verhandlungen scheiterten aber bislang an überzogenen Gehaltsvorstellungen (Cavani) bzw. Transfersummenforderungen (Hulk).
In stilistischer Hinsicht wird die Ära von Jose Mourinho vier Jahre nach dessen erzwungenem Exit an der Stamford Bridge demnächst endlich zu Ende gehen. Abramowitsch baut nach mehreren Fehlversuchen sein zweites Chelsea, eine Mannschaft mit der Qualität und der Altersstruktur für den dauerhaften Erfolg auf allen Ebenen.
Die Gegenwart verspricht allerdings weit weniger als die Zukunft: die Metamorphose, soviel ist schon jetzt offensichtlich, wird Zeit und Punkte kosten.
Vier Niederlagen in den sechs Vorbereitungsspielen erzählen viel von Di Matteos Problemen. Nach der EM musste man noch auf vier Olympiafahrer (Sturridge, Bertrand, Mata, Oscar) verzichten, ein geregeltes Einspielen war quasi unmöglich.
Tief stehende Abwehr als Problem
Die Mannschaft muss sich so im laufenden Wettbewerb finden, Rückschläge sind unter diesen Umständen vorprogrammiert. Grundsätzlich wird der Reformkus in diesem Jahr von der auf Petr Cech, John Terry, Frank Lampard und Ashley Cole geschrumpften alte Garde mitgetragen, doch wie Villas-Boas hat auch Di Matteo ein handwerkliches Problem.
Wie passt Barcelonas technisches Spiel und aggressives Pressing mit einer Viererkette zusammen, die unter der Anleitung von Terry (31) im Zweifel lieber zehn Meter tiefer steht? Während der EM wurde der Innenverteidiger für seine viele gelungenen Grätschen allgemein gefeiert, die meisten Beobachter hatten allerdings übersehen, dass er als eine Art Ausputzer oft weit hinter den Nebenmännern agierte und so die eigene Abseitsfalle aushebelte.
Es dauerte bis zum Viertelfinale gegen Italien (!) bis der erste gegnerische Stürmer in Abseits lief. Dazu wurde Englands Mittelfeld von den "Back Four" zwangsläufig so weit nach hinten gedrückt, dass die Wege nach vorne im Verlauf der Partien regelmäßig zu weit wurden.
Gut möglich, dass Di Matteo bald die mobileren Gary Cahill und David Luiz die Defensive organisieren lassen muss, denn Terry droht eine mehrwöchige Sperre wegen einer angeblich rassistischen Beleidigung von Anton Ferdinand (QPR). Der Freispruch durch ein Londoner Strafgericht im Juli hat keinen Einfluss auf die Verhandlung vor der Disziplinarkommission der Football Association.
Kaum Titelchancen?
Unter diesen Vorzeichen kann man sich Chelsea nur schwerlich als ernsthaften Titelkonkurrenten neben den beiden Klubs aus Manchester vorstellen. Die Frage ist, wie weit und wie lange Abramowitsch etwaigen Misserfolg verzeiht.
Di Matteo wird wissen, dass der Gewinn des Doubles aus FA-Pokal und Champions League seinen Status als Trainer auf Abruf nur geringfügig geändert hat. Der Italiener aus Schaffhausen hat zwar einen Zweijahresvertrag, aber weiter Pep Guardialo im Nacken, der als Wunschtrainer des Eigentümers nach dem Ende seines verlängerten Sabaticals jederzeit das Kommando an der Bridge übernehmen könnte.
Eine Ligaposition wie im Vorjahr, als Chelsea auf dem sechsten Platz leisten, kann sich Di Matteo auf keinen Fall leisten. Mit den ersten Niederlagen werden sofort die Spekulationen um die Zukunft des 42-Jährigen losgehen.
Daran ist nicht nur Abramowitsch notorisch dünner Geduldsfaden, sondern auch Di Matteo selbst schuld. Mit seinem bahnbrechenden Erfolg als Notnagel in der abgelaufenen Spielzeit hat er seinem Chef bewiesen, dass ein Trainerwechsel sofortige Besserung mit sich bringen kann.
Der FC Chelsea im Steckbrief
Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 18 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 37-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.