Skandalös, unerhört, obszön, sagten die einen. Jugendlicher Leichtsinn, Naivität, unbedacht und missverstanden, sagten die anderen. Man konnte es nennen, wie man wollte.
Fakt ist, dass der Torjubel von Aleksandar Mitrovic am 9. Dezember 2014 im Signal-Iduna-Park gegen Borussia Dortmund im letzten Champions-League-Gruppenspiel ein totaler Fehlgriff war. In einer Szene zeigten sich das Genie und der Wahnsinn, mit dem der junge Serbe regelmäßig die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Erst zeigte der Torjäger seine Qualität, als er zwei Köpfe höher stieg als Kevin Großkreutz und eine Flanke zum 1:1-Endstand ins Netz wuchtete. Dann drehte er zum Torjubel ab, spreizte Zeige- und Mittelfinger vor seinem Mund und züngelte dazwischen umher. Gedacht war das Ganze als Zeichen an seine Kritiker: Er wollte ihnen die "Zunge abschneiden", sie so zum Schweigen bringen. Jeder, der nur halbwegs im Sexualkundeunterricht auf der Höhe war, deutete diese Geste anders.
Treffsicherer Erfolgsgarant
Es war eine von vielen Eskapaden im jungen Leben von Mitrovic. Im Sommer 2013 wechselte der bei Partizan Belgrad ausgebildete Stürmer nach Belgien. Mit der Empfehlung von 15 Buden in seiner ersten Profisaison mit Partizan und der serbischen Meisterschaft im Rücken, sicherte sich der RSC Anderlecht das damals 18-jährige Top-Talent für den Vereinsrekord von fünf Millionen Euro. In jener Sommerpause führte er zudem die serbische U19-Nationalmannschaft zum EM-Titel und wurde zum besten Spieler des Turniers gekürt.
Und auch in Belgien machte der Hüne (1,89 Meter) dort weiter, wo er aufgehört hatte. Die Investition zahlte sich aus, der Neuzugang schoss Anderlecht mit 16 Toren zur Meisterschaft und wurde Torschützenkönig. Auch im nächsten Jahr sprachen 27 Tore bei 50 Spielen für sich, unter anderem jener Treffer gegen Dortmund in der Champions League.
Persönlich der Wahnsinn
Doch auch der Wahnsinn blitzte von Beginn an auf. In seinem dritten Meisterschaftsspiel für den belgischen Rekordmeister legte er sich nach der 0:4-Niederlage gegen Brügge mit den gegnerischen Fans an und holte sich nach Abpfiff die rote Karte ab.
Und nur sieben Monate später, wieder gegen den Erzfeind aus Brügge, streckte er Gegenspieler Björn Engels per Kopfnuss nieder und erntete den nächsten Platzverweis. Vier Männer waren nötig, um das Kraftpaket vom Feld zu zerren. Insgesamt stehen in vier Jahren Profifußball vier Platzverweise und 35 Gelbe Karten zu Buche. Als Mittelstürmer, wohl gemerkt.
Auch neben dem Platz glänzte "Mitrogoal", wie er sich gerne selbst nennt, mit etlichem Schabernack. "Das Leben ist langweilig genug", kommentierte er einst seinen gefühlt täglich wechselnden Haarschnitt. Nach einem Länderspiel mit der serbischen Nationalmannschaft kam er mit fünf Kilo mehr auf den Rippen zurück nach Anderlecht mit der Begründung, dass er lange aufbleiben und Pizza essen durfte. Anderlecht setzte einen eigenen Aufpasser auf den Problem-Stürmer an, um etwaigen Unsinn zu verhindern.
Sportlich ein Genie
Auf der anderen Seite steht aber eben auch das Genie in Form von 68 Toren in 157 Spielen. Dort stehen mit 20 Jahren der U19-EM-Titel, die serbische und die belgische Meisterschaft. Und die ständige Unterstützung seiner Mitspieler, Trainer oder Fans. "Er ist ein Torjäger. Bring den Ball in die Box, und er wird knipsen", sagte zum Beispiel Anderlecht-Trainer Besnik Hasi. "Mit seinen Frisuren und Tattoos denken alle, er wäre verrückt. Aber er ist nicht verrückt. Er hat Charakter. Er ist ein sehr professioneller Spieler und arbeitet sehr hart."
Mitrovic ist kein Box-to-Box Spieler, mit dem man am laufenden Band Doppelpässe spielen kann. Auch der schnellste oder trickreichste ist er nicht. Dafür weiß er aber, wo er als Torjäger zu stehen hat und ist dominant in der Luft. Der Jungstar gehört zu den klassischen Mittelstürmern, wuchtig und explosiv lässt er den gegnerischen Strafraum brennen. Sein Temperament wurde ihm bislang zwar zu häufig zum Verhängnis, kann aber auch zu unerschöpflicher Leidenschaft werden.
Er ist ein Profi, bei dem sich die Fans auf der Tribüne zuprosten und einstimmig sagen "Der Mitrovic, das ist'n geiler Typ!". Denn im aalglatten Geschäft Profifußball schafft er es, Persönlichkeit und Charakter zu zeigen, und trotzdem sportlich zu überzeugen. Er ist ein Typ mit Ecken und Kanten, der dabei aber keine Starallüren à la Mario Ballotelli oder Antonio Cassano zeigt. Und das macht es so leicht, ihm seine Eskapaden zu verzeihen - auch wenn er manchen Klubbesitzer schon die Haare hat raufen lassen.
Der serbische Drogba
"Er tut alles für die Mannschaft. Er ist ein Team-Player und will immer gewinnen", beschreibt der ehemalige U19-Nationalcoach Ljubinko Drulovic seinen EM-Helden. Serbiens ehemaliger Top-Stürmer Mateja Kezman vergleicht ihn mit einem Ex-Kollegen: "Aleksandar ist sehr talentiert und hat eine enorme Physis. Er erinnert an Didier Drogba. Wenn er so weitermacht wie bisher, wird er ein Top-Stürmer."
Nach zwei Jahren und 43 Toren steigt Mitrovic nun die Karriereleiter weiter hoch. Arsenal, Chelsea und Milan klopften an, auch Borussia Dortmund zeigte großes Interesse. Am Ende wurde es Newcastle United. Für 18,5 Millionen Euro wechselte der Serbe auf die Insel und unterschrieb einen Fünfjahresvertrag bei den Magpies. "Newcastle ist ein Klub mit einer riesigen Historie und die Fans sind ein großer Teil davon. Es wird viel Druck auf mir lasten, aber ich mag diesen Druck", ist er sich der Herausforderung bewusst.
"Ein fantastischer Neuzugang"
Eine Herausforderung wird es nicht nur für ihn. Steve McClaren übernimmt nach einer Katastrophen-Saison das Zepter und soll das sinkende Schiff Newcastle wieder in sichere Gefilde führen, nachdem in der letzten Saison die Mannschaft auseinander brach und der Abstieg erst am letzten Spieltag vermieden werden konnte. Dafür nahm der ehemalige Wolfsburg-Coach 50 Millionen Euro für Georginio Wijnaldum, Chancel Mbemba und eben Mitrovic in die Hand.
"Aleksandar wird sich zusammen mit dem Team entwickeln und uns dabei helfen, dorthin zurückzukehren, wo wir hin wollen. Er ist ein fantastischer Neuzugang. Wir mussten einige Konkurrenten ausstechen um uns ein europäisches Top-Talent zu sichern", freut sich der Altmeister über seine neue Angriffskraft.
Quersumme des Rekordtorschützen
Und Mitrovic will im St. James Park in große Fußstapfen treten: "Alan Shearer ist einer meiner Helden. Ich hoffe, ich kann so spielen wie er. Es wird mir eine Ehre sein", träumt er davon, die legendäre Nummer 9 des besten Torschützen der Premier League aller Zeiten tragen zu dürfen.
Doch die trägt aktuell der Ex-Freiburger Papiss Demba Cisse. Sollte er sie nicht freigeben, wird es für Mitrovic wohl wie in Anderlecht die 45 werden. Denn die Quersumme von 45 ist 9. Genie und Wahnsinn eben.
Aleksandar Mitrovic im Steckbrief