Es ist ein Phänomen, das sich seit Jahren so zuverlässig wiederholt, wie der Rhythmus der vier Jahreszeiten. Mit dem Anbruch einer Saison entdeckt der Fußball ein aufstrebendes Talent, einen neuen Heilsbringer des runden Leders. Durch Presse und soziale Medien wird die Kunde vom neuen Star am elitären Fußball-Himmel schließlich verbreitet. Alles spricht plötzlich vom nächsten Zidane oder dem neuen Ronaldo.
Diese Vergleiche werden inzwischen so inflationär genutzt, dass Google alleine bei dem Suchbegriff 'The New Messi' rund 40 Millionen Treffer ausspuckt. Auch das Debüt von Ross Barkley führte schnell zu diesen Vergleichen - nur mit dem Unterschied, dass die Journalie gefühlt mit jedem Spiel eine neue Umschreibung für den talentierten Alleskönner auskramen muss. Denn die Fähigkeiten des 21-Jährigen sind so vielseitig wie herausragend.
Der Junge aus der Nachbarschaft
Dabei umgibt die Karriere von Ross Barkley zusätzlich eine altmodische Romantik: Der neue Star des englischen Fußballs wurde nur 15 Autominuten vom Goodison Park am 5. Dezember 1993 in Wavertree, Liverpool geboren und damit im selben Bezirk wie die Beatles George Harrsion und John Lennon. Als waschechter Scouser wechselte der großgewachsene Junge bereits mit elf Jahren zum FC Everton und durchlief seitdem sämtliche Jugendmannschaften der Toffees.
Beim Everton-Probetraining schien die Vielseitigkeit des Jungen erstmals hervorzustechen: "Man findet recht schnell heraus, welchen Fuß ein Spieler am liebsten benutzt, wenn du ihn Elfmeter schießen lässt. Das machten wir auch mit Ross - er nahm sofort vier Schüsse: Zwei mit links und zwei mit rechts. Alle vier waren drin," erinnert sich Jungendcoach Ray Hall, der bereits Wayne Rooney zum Star formte.
Ein Alleskönner auf der Straße
Das Rüstzeug für diese Anlagen legte sich Barkley auf den berühmten Straßen von Liverpool zu, die bereits Spieler wie Steven Gerrard, Wayne Rooney und Steve McManaman hervorbrachten. Bis in den Abend spielte das kleine Energiebündel mit seinen Kumpels auf den Bolzplätzen der alten Hafenstadt und übte sich an den Tricks von Zidane, Ronaldo und Beckham.
Noch heute freut sich der Youngster über jede Fußball-Minute, die ohne taktische Zwangsjacke auskommt: "Er ist ein Straßenfußballer wie Rooney - 100 Prozent. Manchmal müssen wir ihn nach dem Training in die Kabine ziehen, weil er mit den Jugendspielern noch ein bisschen Zwei gegen Zwei spielt. Er erkennt manchmal gar nicht, wie viel Energie das kostet," berichtete Everton-Coach Roberto Martinez vor einiger Zeit.
Beinbruch stoppt den Aufstieg
Verbunden mit einer beeindruckenden Physis - zum Teil überragte er seine Altersgenossen zu Schulzeiten um 20 Zentimeter - wurde Barkley von Everton auf den unterschiedlichsten Positionen eingesetzt: " Als Kind konnte er überall Spielen. Er war bei uns Innenverteidiger und Stürmer, schließlich wurde er nach und nach zum Mittelfeldspieler geschult," berichtet Hall.
Der aufgehende Stern des jungen Toffeeman schien kein Limit zu kennen, bis sich Barkley als 16-Jähriger einen dreifachen Beinbruch zuzog. Ausgerechnet eine Kollision bei einem U19-Spiel mit Liverpool-Verteidiger Andre Wisdom sorgte für einen ersten Karriere-Dämpfer.
Zuvor wärmte das Mittelfeldtalent bereits die Profibank von Everton und wartete mit jedem Spiel auf sein Debüt in der ersten Mannschaft. Im Goodison Park gab man sich seiner Zeit dennoch gelassen: "Macht Euch keine Sorgen um Ross, er wird bald für England spielen. Er wird ein Star," erklärte ein geduldiger David Moyes damals. Besonders das Fußball-Mutterland dürstet seit Jahren nach einem neuen Star.
In Barkley steckt Ballack
Denn seit dem sukzessiven Abstieg von Paul Gascoigne schleppt sich England mehr schlecht als recht durch die internationalen Turniere. So lag für die britische Presse die erste Gleichnis nicht fern. Speziell nachdem Barkley endlich seine Premier-League-Premiere feiern konnte. Die schnellen Dribblings, der einzigartige Spielwitz und der unbändige Zug zum Tor - ein neuer Gazza war auf die Insel herabgestiegen.
Es dauerte allerdings nicht lange, da waren nur noch wenige von den Vergleichen mit dem abgestürzten Wonderboy überzeugt. Was sie sahen, wirkte wie ein Update, eine neue Version des ehemaligen Helden. Die Geschwindigkeit und die enorme Athletik des jungen Kraftpakets ließen jede Bewegung noch dynamischer, noch robuster wirken. Dazu die verblüffende Übersicht, das Verständnis für den Raum.
Nicht nur Evertons Manager erweiterte das Vergleichsspektrum im Laufe der Zeit um weitere Spieler: Michael Ballack, Wayne Rooney, Xabi Alonso, Ronaldo oder Frank Lampard - sie alle sollen Teil von Barkleys Fußball-DNA sein. Durch diesen Umstand entwickelte sich in der Öffentlichkeit eine lebhafte Diskussion um das Einsatzgebiet des Multitalents, das inzwischen bei 83 Spielen zehn Premier-League-Treffer erzielte und sieben Tore vorbereitete.
Wo liegt das Einsatzgebiet?
Darin sieht sein Vereinstrainer auch die größte Herausforderung: "Ross ist im Grunde jetzt schon ein Star," sagt Martinez. "Es geht darum, wie wir seine Fähigkeiten nutzen. Ich habe mit ihm auf den unterschiedlichsten Positionen experimentiert. Manchmal muss ich dabei spontan handeln und das muss er dann auch akzeptieren." Dabei lief das Eigengewächs inzwischen sogar als Außenverteidiger auf.
Während der Everton-Coach seinen Schützling zumeist im Mittelfeld einsetzt, um die schnellen Pässe und Tempodribblings aus der Tiefe zu nutzen, hat der Spieler selbst eine noch offensivere Position vor Augen. "Ich bin ein Stürmer," erklärte Barkley mit Ende der letzten Saison: "Dort habe ich den größten Einfluss. Ich genieße mehr Freiheiten, kann Spieler 'mitnehmen', komme zu Abschlüssen und kann dazu Chancen herausspielen."
Englands Hoffnung
Die Presse in England ist wiederum zwiegespalten. Im Königreich sieht man zwar durch den Rücktritt von Lampard und Gerrard eine klaffende Lücke im Spiel der Three Lions, hingegen vernachlässigt der 21-jährige Shooting-Star auch allzu gerne die Defensive. Außerdem war Barkley in der letzten Saison in fast 60 Prozent seiner Dribblings erfolgreich. Ein Wert, den nur Chelsea-Star Eden Hazard (63 Prozent) übertraf. Auf der Insel kann man sowieso erst mal froh sein, dass die Nachwuchshoffnung für Weiß-Rot aufläuft.
Zwar war das Talent ab der U16 Teil der englischen Jugendauswahlen, jedoch bestand noch ein kleines Restrisiko für die Auswahl der FA. Denn selbst wenn es die äußere Erscheinung im ersten Moment nicht vermuten lässt, Barkley hat auf Seiten der väterlichen Familie einen nigerianischen Großvater. Eine Einladung zum WM-Qualifikationsspiel gegen Moldawien im Herbst 2013 beendete schließlich jegliche Befürchtungen. Seitdem schlägt das Herz endgültig für die drei Löwen. Erst jüngst konnte der 1,89-Meter-Hüne zusammen mit England eine beeindruckende EM-Qualifikation hinlegen und steht inzwischen bei 15 Länderspielen.
Nicht zu viel erwarten
Natürlich bleibt Barkley bei seinem rasanten Aufstieg nicht frei von den typischen Entwicklungsflauten. Gerade letzte Saison hatte der Nationalspieler Probleme: "Es war eine harte Saison für mich. Ich bin immer noch am lernen und ein junger Kerl. Letzte Saison war meine erste volle Saison in der Premier League - zuvor kannte kaum jemand mein Spiel."
Zuweilen ist der Jungspund noch zu verliebt in seine Dribblings oder hält in der Rückwärtsbewegung nicht seine Position. Mitunter Gründe, weshalb der 21-Jährige mit einem Wechsel zu einem Champions-League-Klub keine Eile hat. Außerdem liegt ihm der Goodison Park zu Füßen und stimmt regelmäßig einen Song zu seinen Ehren an. So will sich Barkley in seinem gewohnten Umfeld weiter verbessern. Diese Saison lässt bereits eine neue Effektivität erahnen.
Alleine die ersten sieben Spieltage war der Jungspieler, für den die Toffees angeblich über 70 Millionen Euro aufrufen, zweimal erfolgreich und Coach Martinez erwartet noch mehr: "Er ist nicht nur körperlich auf allen Gebieten begabt, er ist auch noch unwahrscheinlich intelligent. Ich habe nie einen Spieler mit einer solchen Siegermentalität gesehen, der so auf dem Boden geblieben ist. Er kann sich und seine Fähigkeiten perfekt einschätzen."
Ross Barkley im Steckbrief