SPOX: Herr Krawietz, als wir uns vergangenen September in Mainz über den Weg gelaufen sind, sprachen Sie noch von einer Ruhepause bis mindestens in den Winter hinein. Wenige Wochen später sind Sie zusammen mit Jürgen Klopp und Zelkjo Buvac beim FC Liverpool gelandet. Wie überraschend kam das denn?
Peter Krawietz: Wir hatten das nicht wirklich auf dem Schirm. Jürgen hat dann angerufen, von guten Gesprächen mit Liverpool berichtet und meinte, das wäre für uns eine perfekte Station. Nach etwas mehr als 100 Tagen hat sich das auch absolut bestätigt. Wir sind wieder am richtigen Ort.
SPOX: Wie liefen dann die darauf folgenden Tage ab?
Krawietz: Es ging alles ziemlich rapide. Unsere Situation hat sich ja plötzlich grundlegend verändert, daher waren schnelle Entscheidungen, auch im privaten Bereich, notwendig. Ich fand Liverpool aber von der ersten Sekunde an cool. So ging es Jürgen und Zeljko auch. Die Premier League war schon immer irgendwie im Hinterkopf. Auch als dann der Wechsel feststand, ging es bis zum heutigen Tage in einer atemlosen Intensität weiter.
SPOX: Was wäre denn eigentlich gewesen, wenn Buvac oder Sie gesagt hätten: ich bin zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit?
Krawietz: Das ist nicht denkbar. Bei uns gibt es keine Uneinigkeit. Wir sind uns im Grundsatz darüber klar, dass wir alles nur zu dritt machen und was die Attraktivität einer möglichen Station ausmacht. Dass Liverpool darunter sein kann, war sofort klar - erst recht, nachdem man sich die Vorstellungen des Klubs angehört und sich damit beschäftigt hat, wie die Entwicklungspotentiale aussehen. Der Zeitpunkt kam früher als geplant, nach kurzer Orientierungsphase hatten wir aber keinerlei Bedenken und sagten zu.
SPOX: Die Verpflichtung von Klopp hat in ganz England einen unglaublichen Hype ausgelöst. Wie haben Sie das beobachtet?
Krawietz: Wir haben die ersten paar Tage im Hotel gewohnt. An praktisch jeder Ecke standen Fotografen, die Bewegungsfreiheit war also leicht eingeschränkt. (lacht) Der Wechsel fand während einer Länderspielpause statt, die Journalisten hatten es daher wohl etwas schwerer, die Zeitungen zu füllen. Es war dann eben schnell klar, dass wir ganz dringend eigene Unterkünfte finden mussten. Alles hat sich aber relativ schnell wieder normalisiert.
SPOX: Klopp hat die Aufregung um ihn durch seine berühmte "I'm the normal one"-Aussage auch etwas befeuert...
Krawietz: Jürgen denkt nicht über Sprüche nach, das kam eben spontan. Daraus wurde ein Medienthema. Bei uns hat das intern noch nie eine Rolle gespielt.
SPOX: Wie ging es dann vor Ort genau los, was stand an, wie geht man vor?
Krawietz: Wir haben uns erst einmal einen Überblick über den gesamten Klub und die etablierten Abläufe verschafft. Es war wichtig zu erfahren, wie die Dinge zuvor angegangen wurden. Dann haben wir ein Paket an Sofortmaßnahmen geschnürt, auch was die Themen angeht, die wir verändern wollten. Als die Mannschaft wieder komplett war und wir auf die erste Partie gegen Tottenham zusteuerten, ging es darum, fußballerische Informationen weiter zu geben, ohne aber die Spieler damit zu überladen.
SPOX: Seitdem ging es Schlag auf Schlag. Welches Zwischenfazit ziehen Sie in persönlicher Hinsicht?
Krawietz: Neuer Klub, neues Umfeld, neue Liga, neues Land, neue Sprache - das ist alles richtig interessant. Die Köpfe glühen, aber wir alle saugen das auf und fühlen uns wohl. So war es ja auch gewollt, daher stellen wir uns dieser wahnsinnigen Intensität gerne und nehmen dieses Abenteuer an. Man muss nur das Autofahren neu erlernen, mit allem anderen kommt man ganz gut klar.
SPOX: Was auch neu ist: Eine Winterpause gibt es nicht, stattdessen ist der Boxing Day am 26. Dezember sehr beliebt. Wie haben Sie das erlebt?
Krawietz: Ich hatte 43 Jahre lang das Glück, Weihnachten in Ruhe im Familienkreis feiern zu können. Da kann ich ab sofort einen gepflegten Haken dran machen. (lacht) Ich habe am 24. Dezember bis 17 Uhr gearbeitet und dann einen schönen Heiligabend mit meinen Kindern und der Familie erlebt. Am Tag darauf war für 9 Uhr Training angesetzt. Danach geht man nach Hause, isst seinen Truthahn und trifft sich abends wieder im Hotel, da am nächsten Tag ein Spiel ansteht. Dasselbe gilt für Silvester und Neujahr. Diese Zeit ist in England eine regelrechte Hochphase für den Fußball, die Leute gieren danach. Eine arbeitsintensive, aber tolle Erfahrung.
SPOX: In Dortmund waren Sie vor allem für Gegnerbeobachtungen und Videoanalysen zuständig. Hat sich daran in Liverpool etwas geändert?
Krawietz: Nein. Die Art und Weise ist dieselbe, nur haben wir hier - wie aber auch generell in England üblich - deutlich mehr Mitarbeiter in allen Abteilungen. In meinem Bereich etwa sind es vier Kollegen, die mich mit Informationen unterstützen. Da die Liga für uns ja noch neu ist und man nicht zwangsläufig bei jedem Gegner sofort detailliert im Bilde ist, sind wir auf diese Informationen auch angewiesen. Damit reichern wir unsere eigenen Beobachtungen an.
SPOX: Beliebte Frage: Was ist denn typisch englisch und anders als in Deutschland?
Krawietz: Unter dem Strich bleibt es natürlich dasselbe Spiel, doch es gibt viele Kleinigkeiten, die in England anders akzentuiert werden. Das reicht von der Existenz zweier Pokalwettbewerbe, in denen es auch zu Rückspielen kommen kann, bis hin zu einer teilweise anderen Auslegung der Spielregeln. Es gibt zudem keine Erholungsphasen, wir spielen in vier Wettbewerben voll durch. Dass es hier komplett ohne Pause abläuft, ist kein Grund zur Beschwerde, aber durchaus ambitioniert. Das sind für uns alles Prozesse, die wir annehmen und an unsere Ideen anpassen.
SPOX: Wie sehen Sie das fußballerische Niveau auf der Insel?
Krawietz: Jede Mannschaft, vom Tabellenersten bis zum Schlusslicht, hat außergewöhnlich gute Individualisten in ihren Reihen. Es wird extrem physisch gespielt, so dass es eine hohe Bedeutung hat, sich körperlich in Eins-gegen-eins-Duellen durchsetzen zu können - ob im Dribbling am Boden oder in Luftduellen. Es sind Zweikampfsituationen an der Tagesordnung, die in Deutschland deutlich eher mit Foul bewertet würden. Die Abwehrspieler haben somit ein paar Möglichkeiten mehr, um den Gegner zu bearbeiten.
SPOX: Diese Merkmale führen teilweise zu jener Intensität, die den englischen Fußball seit jeher kennzeichnen.
Krawietz: Genau. Um das Risiko im Spielaufbau zu minimieren, entscheiden sich viele Mannschaften dafür, den Ball lang nach vorne zu spielen, um das Spiel in die Vertikale zu verlagern. Dort besteht dann die Möglichkeit, den Ball näher am gegnerischen Tor zu erobern und somit schnell anzugreifen. Dies ist das hauptsächliche Mittel, das hier angewandt wird.
SPOX: Das heißt, dass der Kampf um erste und zweite Bälle sehr entscheidend ist?
Krawietz: Ja. Die Fragen, die sich stellen, sind: Was passiert, sobald der Ball aus dem Luftkampf wieder zu Boden fällt? Und was geschieht in der unmittelbar darauf folgenden Spielsituation?