"Eine Winterpause wäre schon nett"

Jochen Tittmar
26. Januar 201612:19
Liverpooler Trainer-Trio: Peter Krawietz, Jürgen Klopp und Zeljko Buvac (v.l.n.r.)getty
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Mainz, Dortmund, Liverpool - Peter Krawietz war bei allen Stationen von Jürgen Klopp an dessen Seite. Der Co-Trainer der Reds spricht vor dem Entscheidungsspiel um den Einzug ins Capital-One-Cup-Finale gegen Stoke City (20.45 Uhr im LIVESTREAM) im Interview über den spontanen Wechsel an die Anfield Road, seine Beobachtungen zum Niveau des englischen Fußballs, die Liverpooler Verletzungsmisere und den BVB.

SPOX: Herr Krawietz, als wir uns vergangenen September in Mainz über den Weg gelaufen sind, sprachen Sie noch von einer Ruhepause bis mindestens in den Winter hinein. Wenige Wochen später sind Sie zusammen mit Jürgen Klopp und Zelkjo Buvac beim FC Liverpool gelandet. Wie überraschend kam das denn?

Peter Krawietz: Wir hatten das nicht wirklich auf dem Schirm. Jürgen hat dann angerufen, von guten Gesprächen mit Liverpool berichtet und meinte, das wäre für uns eine perfekte Station. Nach etwas mehr als 100 Tagen hat sich das auch absolut bestätigt. Wir sind wieder am richtigen Ort.

SPOX: Wie liefen dann die darauf folgenden Tage ab?

Krawietz: Es ging alles ziemlich rapide. Unsere Situation hat sich ja plötzlich grundlegend verändert, daher waren schnelle Entscheidungen, auch im privaten Bereich, notwendig. Ich fand Liverpool aber von der ersten Sekunde an cool. So ging es Jürgen und Zeljko auch. Die Premier League war schon immer irgendwie im Hinterkopf. Auch als dann der Wechsel feststand, ging es bis zum heutigen Tage in einer atemlosen Intensität weiter.

SPOX: Was wäre denn eigentlich gewesen, wenn Buvac oder Sie gesagt hätten: ich bin zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit?

Krawietz: Das ist nicht denkbar. Bei uns gibt es keine Uneinigkeit. Wir sind uns im Grundsatz darüber klar, dass wir alles nur zu dritt machen und was die Attraktivität einer möglichen Station ausmacht. Dass Liverpool darunter sein kann, war sofort klar - erst recht, nachdem man sich die Vorstellungen des Klubs angehört und sich damit beschäftigt hat, wie die Entwicklungspotentiale aussehen. Der Zeitpunkt kam früher als geplant, nach kurzer Orientierungsphase hatten wir aber keinerlei Bedenken und sagten zu.

SPOX: Die Verpflichtung von Klopp hat in ganz England einen unglaublichen Hype ausgelöst. Wie haben Sie das beobachtet?

Krawietz: Wir haben die ersten paar Tage im Hotel gewohnt. An praktisch jeder Ecke standen Fotografen, die Bewegungsfreiheit war also leicht eingeschränkt. (lacht) Der Wechsel fand während einer Länderspielpause statt, die Journalisten hatten es daher wohl etwas schwerer, die Zeitungen zu füllen. Es war dann eben schnell klar, dass wir ganz dringend eigene Unterkünfte finden mussten. Alles hat sich aber relativ schnell wieder normalisiert.

SPOX: Klopp hat die Aufregung um ihn durch seine berühmte "I'm the normal one"-Aussage auch etwas befeuert...

Krawietz: Jürgen denkt nicht über Sprüche nach, das kam eben spontan. Daraus wurde ein Medienthema. Bei uns hat das intern noch nie eine Rolle gespielt.

SPOX: Wie ging es dann vor Ort genau los, was stand an, wie geht man vor?

Krawietz: Wir haben uns erst einmal einen Überblick über den gesamten Klub und die etablierten Abläufe verschafft. Es war wichtig zu erfahren, wie die Dinge zuvor angegangen wurden. Dann haben wir ein Paket an Sofortmaßnahmen geschnürt, auch was die Themen angeht, die wir verändern wollten. Als die Mannschaft wieder komplett war und wir auf die erste Partie gegen Tottenham zusteuerten, ging es darum, fußballerische Informationen weiter zu geben, ohne aber die Spieler damit zu überladen.

SPOX: Seitdem ging es Schlag auf Schlag. Welches Zwischenfazit ziehen Sie in persönlicher Hinsicht?

Krawietz: Neuer Klub, neues Umfeld, neue Liga, neues Land, neue Sprache - das ist alles richtig interessant. Die Köpfe glühen, aber wir alle saugen das auf und fühlen uns wohl. So war es ja auch gewollt, daher stellen wir uns dieser wahnsinnigen Intensität gerne und nehmen dieses Abenteuer an. Man muss nur das Autofahren neu erlernen, mit allem anderen kommt man ganz gut klar.

SPOX: Was auch neu ist: Eine Winterpause gibt es nicht, stattdessen ist der Boxing Day am 26. Dezember sehr beliebt. Wie haben Sie das erlebt?

Krawietz: Ich hatte 43 Jahre lang das Glück, Weihnachten in Ruhe im Familienkreis feiern zu können. Da kann ich ab sofort einen gepflegten Haken dran machen. (lacht) Ich habe am 24. Dezember bis 17 Uhr gearbeitet und dann einen schönen Heiligabend mit meinen Kindern und der Familie erlebt. Am Tag darauf war für 9 Uhr Training angesetzt. Danach geht man nach Hause, isst seinen Truthahn und trifft sich abends wieder im Hotel, da am nächsten Tag ein Spiel ansteht. Dasselbe gilt für Silvester und Neujahr. Diese Zeit ist in England eine regelrechte Hochphase für den Fußball, die Leute gieren danach. Eine arbeitsintensive, aber tolle Erfahrung. SPOX

SPOX: In Dortmund waren Sie vor allem für Gegnerbeobachtungen und Videoanalysen zuständig. Hat sich daran in Liverpool etwas geändert?

Krawietz: Nein. Die Art und Weise ist dieselbe, nur haben wir hier - wie aber auch generell in England üblich - deutlich mehr Mitarbeiter in allen Abteilungen. In meinem Bereich etwa sind es vier Kollegen, die mich mit Informationen unterstützen. Da die Liga für uns ja noch neu ist und man nicht zwangsläufig bei jedem Gegner sofort detailliert im Bilde ist, sind wir auf diese Informationen auch angewiesen. Damit reichern wir unsere eigenen Beobachtungen an.

SPOX: Beliebte Frage: Was ist denn typisch englisch und anders als in Deutschland?

Krawietz: Unter dem Strich bleibt es natürlich dasselbe Spiel, doch es gibt viele Kleinigkeiten, die in England anders akzentuiert werden. Das reicht von der Existenz zweier Pokalwettbewerbe, in denen es auch zu Rückspielen kommen kann, bis hin zu einer teilweise anderen Auslegung der Spielregeln. Es gibt zudem keine Erholungsphasen, wir spielen in vier Wettbewerben voll durch. Dass es hier komplett ohne Pause abläuft, ist kein Grund zur Beschwerde, aber durchaus ambitioniert. Das sind für uns alles Prozesse, die wir annehmen und an unsere Ideen anpassen.

SPOX: Wie sehen Sie das fußballerische Niveau auf der Insel?

Krawietz: Jede Mannschaft, vom Tabellenersten bis zum Schlusslicht, hat außergewöhnlich gute Individualisten in ihren Reihen. Es wird extrem physisch gespielt, so dass es eine hohe Bedeutung hat, sich körperlich in Eins-gegen-eins-Duellen durchsetzen zu können - ob im Dribbling am Boden oder in Luftduellen. Es sind Zweikampfsituationen an der Tagesordnung, die in Deutschland deutlich eher mit Foul bewertet würden. Die Abwehrspieler haben somit ein paar Möglichkeiten mehr, um den Gegner zu bearbeiten.

SPOX: Diese Merkmale führen teilweise zu jener Intensität, die den englischen Fußball seit jeher kennzeichnen.

Krawietz: Genau. Um das Risiko im Spielaufbau zu minimieren, entscheiden sich viele Mannschaften dafür, den Ball lang nach vorne zu spielen, um das Spiel in die Vertikale zu verlagern. Dort besteht dann die Möglichkeit, den Ball näher am gegnerischen Tor zu erobern und somit schnell anzugreifen. Dies ist das hauptsächliche Mittel, das hier angewandt wird.

SPOX: Das heißt, dass der Kampf um erste und zweite Bälle sehr entscheidend ist?

Krawietz: Ja. Die Fragen, die sich stellen, sind: Was passiert, sobald der Ball aus dem Luftkampf wieder zu Boden fällt? Und was geschieht in der unmittelbar darauf folgenden Spielsituation?

SPOX: Ihr Eindruck?

Krawietz: Fast alle Mannschaften greifen dann auf sofortiges Gegenpressing zurück, was wiederum zur Folge hat, dass es Umschaltsituationen in sehr intensiven und kurzen Abfolgen gibt. Vieles läuft in maximalem Tempo ab und ist somit fehleranfälliger. Dadurch ergibt sich eine scheinbare Unordnung auf dem Feld, so dass manche Partien bisweilen wild wirken können.

SPOX: Es gibt Beobachter, die dem englischen Fußball attestieren, taktisch wenig planvoll zu sein. Wie sehen Sie das?

Krawietz: Er ist nur scheinbar wenig planvoll. Alles läuft für die Spieler unter extremem Entscheidungsdruck ab. Die Ansprüche an Antizipation und schnelle Spielweiterleitung sind sehr hoch, so dass sich vermeintlich einfache Fehler häufen können. Es ist daher unser Ziel, über dieses Geschehen die Kontrolle zu erlangen. In Pressingsituationen sind ja immer viele Spieler im ballnahen Raum, so dass im ballfernen Bereich naturgemäß Freiräume entstehen müssen. Diese unter dem großen Gegnerdruck schnell zu finden und auszunutzen, ist eine der wichtigsten Maßnahmen im englischen Fußball. Auch wenn eine Mannschaft die Ballbesitzsicherung gut beherrscht, hat sie gleich große Vorteile.

SPOX: Der intensive Fußball kann auch Verletzungen nach sich ziehen. Seit Sie in Liverpool arbeiten, hatten die Reds nicht unbedingt Glück mit Blessuren. Klopp sagte bereits, man werde schauen, ob die Trainingsbelastung bisweilen zu hoch gewesen sei. Ist diese Prüfung bereits vollzogen?

Krawietz: Wir überprüfen nach jeder auftretenden Verletzung, wenn möglich auch anhand von Videobildern, unter welchem unmittelbaren Einfluss sie entstanden ist. Der Zufall oder das Risiko des Sportunfalls sind im Leistungssport natürlich auch immer mögliche Gründe. Wir machen uns permanent Gedanken über Blessuren, die vermeintlich gehäuft auftreten. Dass die uns bisher ereilten Verletzungen durch zu intensives Training entstanden sind, würde ich ausschließen. Wenn man alle drei Tage ein Spiel vor der Brust hat, ist es gar nicht möglich, dermaßen intensiv zu trainieren. Da wird an den ersten beiden Tagen nach einer Partie fast nur regeneriert und beim Abschlusstraining würde kein Trainer der Welt sein Team hochgradig intensiv belasten.

SPOX: Durch die schnelle Abfolge an Partien bleiben die großen mannschafts- und individualtaktischen Trainingsumfänge häufig auf der Strecke, oder?

Krawietz: Eine Winterpause wäre schon nett. (lacht) Das Abschlusstraining ist daher meistens eine taktische Einheit. Darin geht es dann eben nicht um körperliche Belastung, sondern darum, Wissen zu vermitteln. Und sei es nur statisch, um das gewünschte Verhalten und die genauen Abläufe in bestimmten Spielsituationen aufzuzeigen. Dazu gehören natürlich auch Einzelgespräche und Videoanalysen. Das Automatisieren dieser Inhalte muss in den meisten Fällen über die Partien stattfinden. Wir sind mit der bisherigen Entwicklung zufrieden, wissen aber auch, dass das Ende der Fahnenstange noch längst nicht erreicht ist.

SPOX: Große Bedeutung hat demnach die Sommervorbereitung, mit der man durch eine extrem lange Saison kommen muss. Wie wollen Sie das angehen, das ist ja auch eine neue Erfahrung für das Trainerteam?

Krawietz: Im Sommer finden die EM, die Olympischen Spiele und die Copa America statt. Wir müssen also Voraussetzungen schaffen, die eine Phase ermöglichen, in der es dann ausschließlich um Trainingsarbeit geht. So wollen wir die Grundlagen in allen Bereichen legen. Derzeit beschäftigen wir uns damit, wie wir das organisatorisch auf die Beine stellen können und zu welchem Zeitpunkt uns alle Spieler final zur Verfügung stehen.

SPOX: Im Sommer wird auch die erste richtige Möglichkeit bestehen, personelle Änderungen herbei zu führen. Wird der Kader dann umstrukturiert?

Krawietz: Ich bitte um Verständnis, dass ich mich zu Personalien nicht äußern werde. Alle Namen, die spekuliert werden, sind sowieso zu 99 Prozent frei erfunden. (lacht) Was ich sagen kann: Wir werden versuchen, die Mannschaft weiter zu entwickeln. Auch ein Transferfenster stellt eine Möglichkeit dafür dar, doch der Sommer ist noch sehr weit entfernt. SPOX

SPOX: Eine nicht erfundene Personalie ist Steven Gerrard, der Ende des Jahres wohl seine Karriere beenden wird. Er hielt sich bereits in Liverpool fit und traf sich auch auf einen Kaffee mit Klopp, um über ein mögliches Engagement zu sprechen. Wie haben Sie das beobachtet?

Krawietz: Ich habe Steven Gerrard als tolle und zuvorkommende Persönlichkeit kennen gelernt. Er ist hier eine lebende Legende, und ihn umgibt eine vereinnahmende Aura. Man merkt sofort, wie er diesen Verein lebt. Obwohl er nicht mehr regelmäßig hier ist, ist er unglaublich präsent. Er wird in Zukunft bestimmt eine Rolle in unserem Klub spielen. Ich bin aber überfragt, in welcher Funktion das sein könnte.

SPOX: Die nahe Zukunft gibt Ihnen die Gelegenheit zu einer Rückkehr nach Deutschland, wenn die Reds im Europa-League-Sechzehntelfinale auf den FC Augsburg treffen. Auch ein Duell mit Ihrem Ex-Verein Borussia Dortmund wäre möglich gewesen. War der BVB Ihr Wunschlos?

Krawietz: Wünschen bringt in solchen Fällen doch eh nie etwas. Ich habe die Auslosung nicht einmal live verfolgt. Vielleicht spielen wir ja in der nächsten Runde gegen den BVB. Ich glaube, das werde ich ab jetzt immer sagen. (lacht) Wir sind uns bewusst, dass die Partien gegen den FCA ein harter Ritt werden. Augsburg hat sich stabilisiert und verfolgt einen klaren Plan. Wir gehen das aber durchaus optimistisch an.

SPOX: Dortmund spielt unter Thomas Tuchel eine starke Saison. Haben Sie das erwartet und hatten Sie schon Zeit, ein BVB-Spiel zu schauen?

Krawietz: Seit ich in England bin, kam ich leider noch nicht dazu. Dass es für den Klub möglich ist, eine solch gute Hinrunde zu spielen, hat mich nicht überrascht. Die Jungs haben ja zu keinem Zeitpunkt das Fußballspielen verlernt. Ich kenne den Kader und weiß, dass Thomas Tuchel ein herausragend guter und ehrgeiziger Trainer ist. Die aktuelle Situation beim BVB ist nun so, wie wir sie uns gewünscht haben.