Es ist der 23. Januar 2016, kurz nach halb sechs. Während in Deutschland die erste Samstags-Konferenz der Rückrunde beendet ist und die Fußball-Fans gebannt nach Gladbach blicken, dreht auf der Insel ein Fußballkommentator durch. "Oooh, what a goal! This young man is a sensation! Out of League One, into the Premier League and into the Tottenham history books with a glorious goal."
Was passiert war? Tottenham Hotspur kämpfte bei Crystal Palace um drei wichtige Punkte. Doch für die volle Ausbeute brauchte es gegen den aufopferungsvoll kämpfenden Gastgeber einen magischen Moment. Harry Kane schlug am rechten Flügel einen Seitenwechsel an die linke Strafraumecke. Christian Eriksen legte eher suboptimal per Kopf auf Dele Alli ab. Die Gefahr schien gebannt, denn der 19-Jährige wurde sofort von Mile Jedinak bedrängt.
Doch Alli ist ein Mann für Überraschungsmomente. Er löst Situationen intuitiv und kann sich dabei auf seine starke Technik verlassen. So auch an jenem Samstag. Ballannahme mit der Innenseite, mit dem Rücken zum Tor jongliert er den Ball über seinen Gegenspieler, Drehung, Abschluss. Die Kugel schlägt links unten ein. Drei Ballkontakte, ein Treffer der Marke Tor des Jahres. Das Kommentatoren-Duo überschlägt sich mit Superlativen und singt eine Lobeshymne auf den Youngster: "Diese Technik ist außergewöhnlich."
Hang zum Außerordentlichen
Außergewöhnlich ist ein Adjektiv, das wohl wie kein zweites zu dem jungen Mann passt, der als Sohn eines nigerianischen Vaters und einer englischen Mutter in Milton Keynes, rund 70 Kilometer nordwestlich von London, geboren wurde. Schon früh war der Hang zum Außerordentlichen erkennbar.
"Dele war anders als die anderen, hat Dinge probiert, die unmöglich schienen. Er hatte dieses ganz spezielle Selbstvertrauen", erinnert sich Mike Dove, Leiter der Jugendabteilung bei Allis Heimatverein MK Dons.
Dieses Selbstverständnis musste sich der 19-Jährige, der erst im Alter von elf Jahren zu Dons stieß und dort alle Jugendabteilungen durchlief, allerdings hart erarbeiten. "Es war eine sehr schwere Zeit. Ich hatte vier Kinder mit vier verschiedenen Vätern - aber keine der Beziehungen hielt. Ich war eine alleinerziehende Mama in einer kleinen Sozialwohnung", beschreibt seine Mutter Allis problematische Kindheit.
Während Denise die Probleme mit Alkohol runterspülte, fand ihr Sohn die Lösung im Fußball. Seit seiner frühesten Kindheit zog es den technisch versierten Jungen auf die Straße, wo er mit anderen Kindern kickte. Doch durch den zunehmenden Einfluss von Straßengangs auf ihren Sohn drohte die alkoholabhängige Frau das Sorgerecht zu verlieren.
Adoptierter Straßenkicker
Als ihr Sohn 13 Jahre alt war, traf sie deshalb eine ungewöhnliche Maßnahme und schickte ihren Sprössling zu Sally und Alan Hickford. Das Paar adoptierte Bamidele Alli, der mit ihrem eigenen Sohn Harry eng befreundet war, inoffiziell.
"Sally und Alan haben ihn wie ihren eigenen Sohn behandelt und voll unterstützt. Im Gegenzug hat der Junge die beiden verehrt. Sie waren seine zweiten Eltern", erinnert sich ein Freund der Familie gegenüber dem Milton Keynes Citizen.
Auch seine Mutter weiß, dass es die richtige Entscheidung war: "Es hat mir das Herz gebrochen, aber es war der einzige Weg, um ihm seinen Traum zu erfüllen", erklärt sie der Sun.
In Cosgrove Village begann für Alli ein neues Leben. Was gleich blieb, war die Liebe zum Fußball und dem Besonderen.
Der Zauberer von Dons
"Das Faszinierende an ihm war, dass er immer die Herausforderung suchte: Wie kann ich Tricks, die ich auf der Straße mache, in mein Spiel integrieren. Er liebte es, auf dem Trainingsplatz zu stehen und diese außergewöhnlichen Dinge zu versuchen", schwärmt Dove, der weiter erklärt: "Dele ist einzigartig. Nichts bereitet ihm Sorgen. Er geht einfach raus auf das Spielfeld und hat Spaß. Das ist das Wichtigste für ihn. Wenn du ihn anbrüllst und ihm Anweisungen gibst, langweilt ihn das. Er ist es gewohnt, selbst Lösungen zu finden."
So ließ ihm der damalige Drittligist, der erst 2004 gegründet worden war, freie Hand. Und Alli nutzte die Freiheiten, um sich zu entwickeln. "Immer, wenn du ihn vor eine neue Herausforderung gestellt hast, hat er versucht, der Beste zu sein", beschreibt Dons-Manager Karl Robinson den Ehrgeiz seines Rohdiamanten.
Mit 16 Jahren feierte Alli seinen ersten Einsatz bei den Profis, im FA Cup gegen Cambridge City wurde der Youngster nach einer Stunde eingewechselt. Völlig ungehemmt war sein erster Ballkontakt im Profigeschäft ein Hackentrick. Elf Tage später folgte im Rückspiel sein erster Startelfeinsatz - inklusive Tor aus knapp 30 Metern.
Perfekte Allzweckwaffe
In den folgenden zweieinhalb Jahren etablierte sich Alli in der League One. In 74 Ligaspielen traf der hochveranlagte Mittelfeldspieler 22 Mal. Seine größte Stärke ist seine Flexibilität und Ausgeglichenheit, die den 1,88 Meter großen Engländer zu einer Allzweckwaffe im Mittelfeld macht. Ob als Zehner, als Dirigent im Zentrum oder als unermüdlicher Arbeiter im defensiven Mittelfeld - Alli ist sich für keine Aufgabe zu schade und weiß in jeder Position zu überzeugen.
Der Youngster verfügt über alle Anlagen, um in die Sphären der Weltspitze vorzudringen. Er vereint die grundlegenden Tugenden vorbildlich und stellt sich mit viel Einsatz und hoher Ausdauer in den Dienst der Mannschaft. Dabei versteht er es bereits im jungen Alter, seinen robusten Körper in Zweikämpfen geschickt einzusetzen.
Gleichzeitig besticht er mit technischer Eleganz und einer überragenden Schusstechnik, die den agilen, quirligen Mittelfeldspieler kombiniert mit seinem großartigen Spielverständnis in der Offensive zu einer steten Gefahr macht. Hinzu kommt seine ungenierte Art, mit mutigen Aktionen zu begeistern. 14 Beinschüsse verteilte der Shootingstar in seiner ersten Premier-League-Saison bereits. Schon in der Vorbereitung bekam Weltmeister Toni Kroos den Ball durch die Hosenträger, auch Teamkollege Luka Modric musste dran glauben. Ganz der Straßenkicker.
Astronomischer Aufstieg
Tottenham Hotspur erkannte das Potenzial des Toptalents als Erstes und überwies im Februar 2015 etwas mehr als sechs Millionen Euro nach Milton Keynes. Die Spurs parkten Alli den Rest der Saison bei seinem Heimatklub, wo ihm noch der Aufstieg in die zweite Liga gelang, ehe er im Sommer zu seinem neuen Verein in die Premier League wechselte.
Dort entwickelte sich der viermalige Nationalspieler rasend schnell zum Leistungsträger und trägt großen Anteil an der überragenden Saison der Lilywhites, die erstmals seit fast 55 Jahren wieder nach der Meisterschale greifen. Nur zwei Ligaspiele verpasste der flexible Mittelfeldspieler, sieben Treffer und sechs Assists verzeichnet er in 27 Einsätzen. Auch in der Europa League, wo Tottenham im Achtelfinale auf Borussia Dortmund trifft, kam er in allen Spielen zum Einsatz. Im Januar verlängerte das Team von Mauricio Pochettino den Vertrag mit seinem Juwel bis 2021.
"20 Millionen Euro für einen Star zahlen - jeder Trottel kann das. Aber einen jungen Spieler zu entdecken, sein Talent zu fördern und den Mut zu haben, ihn in deinem Team zu installieren: Das ist es doch, worauf es ankommt. Im Fall von Alli hat das nur Tottenham erkannt. Alle anderen haben gepennt", lobte Harry Redknapp seinen Ex-Klub.
EM? "Bei mir in der Startelf"
Nicht wenige sehen den Newcomer weit vorne im Rennen um die Plätze in Englands EM-Kader. Der frühere englische Weltklasse-Stürmer Michael Owen verriet dem Mirror sogar, dass Alli bei ihm "in der Startelf stehen" würde.
Auch Roy Hodgson, der Trainer der Three Lions, erkannte die Qualitäten des Shootingstars, der alle U-Nationalmannschaften durchlief, und brachte den Mittelfeldspieler erstmals im EM-Qualifikationsspiel gegen Estland. Dem Drei-Minuten-Einsatz folgten zwei weitere Kurzeinsätze, ehe der 19-Jährige mit der ehrwürdigen Nummer 7 auf dem Rücken im Test gegen EM-Gastgeber Frankreich sein Startelf-Debüt gab.
Nach 39 Minuten setzte er zu einer riskanten Grätsche an und eroberte an der Mittellinie den Ball gegen Morgan Schneiderlin. Während der Franzose noch auf dem Boden saß und monierte, erkannte Alli die Lücke, die sein Gegner im Zentrum hinterlassen hatte, sprang auf und forderte den Ball von Wayne Rooney vehement zurück.
Der Querpass kam. Ballannahme, Mitnahme, Abschluss. Die Kugel fliegt in hohem Bogen in Richtung Hugo Lloris. Noch bevor das Leder links im Kreuzeck einschlägt, reißt Teamkollege Kane jubelnd den Arm hoch. Drei Ballkontakte, ein Treffer der Marke Traumtor. Das Kommentatoren-Duo überschlägt sich mit Lob: "Was für ein atemberaubendes Tor. Brillant, grandios."
Dele Alli im Steckbrief