Tod und Erlösung

Nachspielzeit in Anfield: Arsenals Michael Thomas trifft und schreibt Geschichte
© getty

Arsenal gegen Liverpool ist der erste Kracher der am Wochenende startenden Premier-League-Saison (So., 17 Uhr live auf DAZN und im LIVETICKER). Ein Duell zwischen Gunners und Reds ging in die Geschichte ein als Wendepunkt in der englischen Fußball-Geschichte. Zum Auftakt der Serie "Once upon a time" blickt SPOX auf das Frühjahr 1989 zurück. Am 15. April wurde eine ganze Sportart für tot erklärt, sechs Wochen später erlebte sie an der Anfield Road ihre Wiederauferstehung.

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Am 15. April 1989 wurde der englische Fußball für tot erklärt.

Im Hillsborough Stadium in Sheffield verloren 96 Menschen ihr Leben, weit über 700 wurden verletzt. Vier Jahre zuvor waren 39 Menschen im Heysel Stadion in Brüssel nach Ausschreitungen englischer Hooligans gestorben. Und ebenfalls im Mai 1985 forderte die Brandkatastrophe in Bradford 56 Menschenleben.

Der englische Fußball lag am Boden. Demaskiert als Arena für Gewalttäter und eingebettet in ein marodes, jeglichem Fortschritt trotzenden System. Tradition als Synonym für Stagnation und Ignoranz.

"Was Selbstgefälligkeit und Inkompetenz betrifft, geht nichts über ein Kartell - und von Englands verbliebenen Kartellen ist die Fußballliga eines der nachlässigsten und blasiertesten", schrieb The Economist nach Hillsborough.

Nur eine kurze Atempause

"Was da passiert ist, hätte jedem von uns passieren können, überall, zu jeder Zeit. Das ganze System ist korrupt. Ich bin fertig mit Fußball", lässt der englische Journalist und Schriftsteller Jason Cowley seinen Vater in "The Last Game: Love, Death and Football" sagen. Es ist der Tag nach dem Horror. Doch Hillsborough ist nicht das Ende des Fußballs.

Zwei Wochen hielt England den Atem an, dann ging es weiter.

"Wenn es möglich ist, ein Fußballspiel, 16 Tage nachdem fast einhundert Menschen bei einem anderen gestorben sind, zu besuchen und zu genießen [...]", versucht sich Nick Hornby in "Fever Pitch" an einer Erklärung für die Rückkehr zur Normalität, "dann ist es vielleicht ein wenig einfacher, die Kultur und die Umstände zu verstehen, die diese Tode haben geschehen lassen. Nichts ist jemals von Bedeutung - außer Fußball."

Arsenal bricht ein

Vielleicht sollte man sich deshalb auch nicht wundern, dass selbst Hillsborough den FC Liverpool nicht stoppen konnte. Die Reds gewannen die Neuansetzung des Unglücksspiels, es war das FA-Cup-Halbfinale gegen Nottingham Forest, und später auch das Endspiel gegen den Lokalrivalen Everton. Und Kenny Daglishs Mannschaft schien auch auf dem Weg zum 18. Meistertitel unaufhaltsam.

Dabei hatte Liverpool als Titelverteidiger die Hinrunde beinahe komplett in den Sand gesetzt. Arsenal übernahm zum Jahreswechsel die Tabellenspitze. Zehn, zwölf, einmal sogar 15 Punkte betrug der Vorsprung der Gunners auf die Reds. Doch dann kam Liverpool ins Rollen und Arsenal ließ im gleichen Maße zusehends nach.

Kurz nach Hillsborough wechselte die Führung. Und nachdem sich die Gunners im Endspurt der Saison nach Kräften blamierten, anstatt zwei Pflichtheimsiege gegen Derby County (1:2) und Wimbledon (2:2) einzufahren, war das Rennen scheinbar entschieden.

Selbst beten hilft nicht mehr

Drei Punkte Vorsprung, eine um zwei Treffer bessere Tordifferenz und die um Welten bessere Form machten Liverpool vor dem Showdown an der heimischen Anfield Road am 26. Mai 1989 zum haushohen Favoriten.

"Selbst beten hilft nicht mehr, Arsenal", schrieb der Daily Mirror nach dem 5:1 der Reds im Nachholspiel gegen West Ham United drei Tage zuvor.

Das Spiel war das letzte der Saison. Ursprünglich sollte die Partie Ende April ausgetragen werden, doch im Zuge der Hillsborough-Katastrophe war sie zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Alle anderen Mannschaften der First Division, wie die erste englische Liga seit 1888 und bis zur Einführung der Premier League 1991 hieß, waren mit ihrem Programm bereits durch. Für englische Verhältnisse äußerst ungewöhnlich fand es an einem Freitagabend statt.

Ein 2:0 würde reichen

"Wir hatten alle gute Laune. Es fühlte sich fast an wie ein Ausflug, weil keiner von uns mit einem Sieg rechnete", erzählt der damals 24-jährige Arsenal-Profi Perry Groves in Cowleys Buch. "Auf unserem Weg zur Autobahn haben wir viele Wagen mit Arsenal-Schals gesehen und Fans, die uns Thumbs-up gegeben haben."

Arsenal musste mit zwei Toren Vorsprung gewinnen. Der einzige Vorteil der Gunners: Sie hatten mehr Tore erzielt als die Reds. Ein 2:0 würde reichen. Allein der Glaube fehlte.

Nur keine Panik

Um Punkt 17 Uhr, gut drei Stunden vor Spielbeginn, versammelt der strenge George Graham sein Team im Atlantic Tower Hotel zur Mannschaftssitzung. Er wählt eine sehr defensive Aufstellung mit Fünferkette und Torjäger Alan Smith als einziger Spitze.

Graham schwört seine Spieler darauf ein, das Spielfeld klein zu machen, bloß kein Tor zu kassieren und nicht panisch zu werden, falls es zur Pause noch 0:0 stehen sollte, schreibt Cowley.

Zu Beginn der zweiten Spielhälfte solle das Team etwas mehr Risiko gehen und auf ein frühes Tor drängen. Der Plan: Sollte Arsenal in Führung gehen, würde Liverpool unter dem Druck zusammenbrechen. Soweit die Theorie.

Blumen für den Gegner

Die Atmosphäre im Stadion an der Anfield Road wird von allen Beobachtern als unglaublich laut beschrieben, aber keineswegs aggressiv. "Hillsborough hatte den Hass der Fans abgekühlt, ohne aber ihre Hingabe zu schmälern", beschreibt Cowley die Stimmung.

Arsenal eröffnet das Spiel mit einer sympathischen Geste. Nach dem Einlaufen schwärmen die Spieler in alle Himmelsrichtungen aus und verteilen Blumensträuße unter den Zuschauern. 41.783 Zuschauer spenden herzlichen Applaus.

Arsenal hält sich exakt an Grahams Marschroute, verteidigt hart und engmaschig, vergisst aber nicht, Liverpools Hintermannschaft zu beschäftigen. Die Reds sind um Spielkontrolle bemüht, finden aber nicht zu ihrem Rhythmus. Es geht mit 0:0 in die Pause.

"Noch eine Minute, noch eine Minute"

Die Gunners halten sich auch nach dem Seitenwechsel weiter ans Protokoll. Ein Freistoß aus dem rechten Halbfeld findet Smith freistehend an der Fünfmeterlinie. Ein Nicken, 1:0 für die Gäste. Es ist das 23. Saisontor für den langen Schlaks.

Der Treffer verfehlt seine Wirkung nicht, wie Graham annahm. Liverpool agiert nervös, Arsenal bleibt giftig, steht sehr hoch und presst. Zu Torchancen kommen die Gäste kaum, aber sie lassen nicht locker. Die Gastgeber schleppen sich in die Schlussphase.

Das Publikum in Anfield beginnt schon lange vor der 90. Minute, den Schlusspfiff von Schiedsrichter David Hutchinson zu fordern. Liverpools beinharter Mittelfeldspieler Steve McMahon, von Vinnie Jones einst geadelt als "einziger echter Rivale", nutzt eine Verletzungsunterbrechung, um seine Kollegen zu ermahnen. "Noch eine Minute, noch eine Minute", stößt er immer wieder hervor, den rechten Zeigefinger erhoben.

"Selbst heute noch kommen Leute auf mich zu und fragen nach diesem Moment", sagte McMahon viele Jahre später. "Es tut immer noch weh. Der ganze Abend hatte eine so völlig eigenartige Atmosphäre. Wegen Hillsborough, weil wir schon das Pokalfinale gespielt hatten, weil wir nicht gewinnen mussten, um Meister zu werden."

Ich dachte: Warum hat er das gemacht?

McMahon forderte die letzte Konzentration, doch seine Mahnung ging ins Leere. Nachspielzeit: John Barnes, Liverpools so eleganter wie bisweilen phlegmatischer Zehner, verliert den Ball im Dribbling im Arsenal-Strafraum. Kevin Richardson spielt zurück zu Keeper John Lukic.

Arsenal braucht unbedingt noch ein Tor und Co-Trainer Theo Foley verliert am Spielfeldrand fast seinen Verstand, als Lukic den Ball auf Rechtsverteidiger Lee Dixon abwirft, anstatt ihn eilig nach vorne zu dreschen. Dixon selbst rechnet auch mit dem langen Abschlag. "Ich wollte den Ball gar nicht", erinnert er sich. "Ich dachte nur: 'Warum hat er das gemacht'?"

Smith auf Thomas ...

Dixon will zunächst seinem ersten Impuls folgen und den Ball möglichst weit nach vorne schlagen, als sich Smith von den Liverpooler Verteidigern löst und ihm fast bis zur Mittellinie entgegen kommt. Also spielt ihn Dixon mit einem Flugball über 30 Meter an.

Smith nimmt den Ball mit dem Rücken zum Tor elegant an und leitet mit links auf den durchstartenden Michael Thomas weiter. Dem misslingt die Ballmitnahme, er bleibt an Liverpools letztem Mann, Steve Nicols hängen, doch er bekommt den Ball zurück und hat plötzlich freie Bahn.

Er zögert den Abschluss bis zum letzten Moment heraus und hebt den Ball aus elf Metern vorbei an Grobbelaar ins Tor.

Arsenal ist Meister, zum ersten Mal nach 18 dürren Jahren, Liverpool am Ende einer schicksalsträchtigen Saison in letzter Sekunde des Titels beraubt.

Applaus, einfach nur Applaus

Die Atmosphäre blieb "weird", seltsam, wie McMahon es ausgedrückt hatte. Kein einziger Arsenal-Fan stürmte auf den Platz. Kein einziger Liverpool-Fan verließ das Stadion. 40.000 applaudierten ohne Unterlass. Für die Sieger, für die Verlierer, für den Fußball.

Jener Abend in Anfield und Thomas' Tor wurden zum Wendepunkt im englischen Fußball, vom Bösen zum Guten, vom Dunkel ins Licht. Cowley sprach von einer Renaissance.

Das Hillsborough-Desaster zog einschneidende Maßnahmen für die Infrastruktur des englischen Fußballs nach sich und schob einen Modernisierungsprozess an. Das Spiel der Spiele in Liverpool brachte den Glauben an den Fußball zurück.

Am 15. April 1989 wurde der englische Fußball für tot erklärt. Sechs Wochen später erlebte er seine Wiederauferstehung.

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