27. April 1974, vorletzter Spieltag der First Division: Manchester United, in den späten 1960er Jahren noch eine dominante Macht im englischen und internationalen Fußball, steht mit dem Rücken zur Wand. Nach einer katastrophalen Saison finden sich die Red Devils mit 32 Punkten auf dem vorletzten Tabellenplatz wieder. Drei Zähler, bei noch zwei ausstehenden Spielen, trennen den Giganten vom rettenden Ufer. Zu allem Überfluss ist auch noch der Stadtrivale zu Gast im Old Trafford, der selbst im Niemandsland steht und eigentlich keine Ziele mehr hat. Eigentlich.
Das Stadion ist pickepackevoll, 56.996 Zuschauer haben bei ordentlichem Fußballwetter den Weg ins Theatre of Dreams gefunden. Die einen, um dem roten Team bei seinem Vorhaben, den drohenden Gang in die Zweitklassigkeit zu verhindern, beizustehen. Die anderen, um den Blauen zuzujubeln während sie den Erzrivalen demütigen und damit die fußballerische Vorherrschaft in der Industriestadt an sich reißen. Dazwischen? Gibt es nichts.
Auf den Rängen Feinde, auf dem Platz Freunde
Ganz anders sieht es zur damaligen Zeit dagegen auf dem Platz aus. Viele auf dem Platz rivalisierende Akteure kennen sich jahrelang und sind eng befreundet. Sie treffen sich auf das eine oder andere Pint und begegnen sich auch im Nachtleben der Stadt häufiger, als es ihren Coaches damals wohl lieb war.
"Viele der Spieler waren wirklich gute Freunde, aber eins kann ich ihnen sagen: Jeder Einzelne hätte alles in seiner Macht stehende dafür getan, um dieses Spiel zu gewinnen", sagte United-Spieler Lou Macari später.
Die Partie beginnt verhalten. Für die Red Devils steht zu viel auf dem Spiel, als könne man die Nervosität einfach so abschütteln, das Abstiegsgespenst mal eben aus dem Hinterkopf verbannen. Bei den Citizens findet die Kreativabteilung um Colin Bell, Francis Lee und Mike Summerbee ihren Rhythmus nicht. Der in die Jahre gekommene, aber immer noch geniale Goalgetter Denis Law hängt in der Luft und hadert mit seinen Teamkollegen.
Denis Law: Blaues Trikot, rotes Herz
Dabei trägt Law an jenem Samstag eigentlich das falsche Trikot. Elf Jahre lief er für die Red Devils auf, gewann mit ihnen den FA-Cup, zwei Meistertitel und 1968 den Europapokal der Landesmeister. Gemeinsam mit Sir Bobby Charlton und dem unwiderstehlichen George Best bildete er jahrelang eine der gefürchtetsten Angriffsreihen des Kontinents. In der vereinsinternen Torjägerliste belegt Law, 1964 als bis dato einziger Schotte zu Europas Fußballer des Jahres gewählt, mit 237 Buden Rang drei (hinter Charlton und Wayne Rooney).
1973 hatte man dann keine Verwendung mehr für den ersten "King of Old Trafford" und so entschied er sich für den ungeliebten Stadtrivalen. Nicht aus Trotz, sondern aus Liebe zur Stadt Manchester.
Aber zurück zum Geschehen. United, das an diesem Tag wahrlich keine ansehnliche Kugel schiebt, sich aber von Minute zu Minute immer tiefer in die Begegnung verbeißt, hat die einzige Großchance im ersten Durchgang. Nach einer Ecke wird Jim McCalliogs Kopfball im letzten Moment auf der Linie geklärt. Ein tiefes Raunen geht durchs Stadion.
Zweiter Durchgang, gleiches Bild: Bei den Blauen klappt nun zwar mehr, im Abschluss bleibt das Team von City-Urgestein Tony Book aber weiterhin harmlos. Dann ist es schon wieder da, das tiefe Raunen. Abermals nach einer Ecke kommen die Roten am Fünfer völlig frei zum Abschluss, wieder schädelt ein Verteidiger den Ball in letzter Sekunde von der Linie.
Denis Laws Bauerntrick bringt die Entscheidung
Die Fans werden ungeduldig, wollen Einfluss auf das Geschehen nehmen. Nachdem City-Angreifer Dennis Tueart an der Latte scheitert, reißt bei einigen der Geduldsfaden. Hinter dem Tor von United-Keeper Alex Stepney, in dieser Saison mit drei verwandelten Elfmetern einer der erfolgreichsten Schützen seines Teams (was die damalige Situation bei Manchester United auf äußerst bedenkliche Art und Weise beschreibt), steigt Rauch auf.
Dann die 81. Spielminute: United verliert den Ball in der gegnerischen Hälfte, er landet bei Bell. Das Mittelfeld der Roten ist völlig verwaist, seelenruhig treibt er das Leder nach vorne. An der Abwehrkette angelangt reicht ein kurzer Pass, Lee zieht halbrechts in den Strafraum und bringt die Kugel in die Mitte. Am Fünfer lauert der Stürmer, das Zuspiel ist aber zu unpräzise. Eigentlich muss er den Ball mit dem Rücken zum Tor annehmen. Eigentlich.
Denn der Stürmer hört auf den Namen Denis Law und hat eine bessere Idee. Mit der Hacke bugsiert er die Pille am verdutzten Stepney vorbei ins Netz. Der Mann, dem sie Jahrzehnte später ein Denkmal vor dem Old Trafford errichten sollten, hatte seinem Herzensverein mit einem Bauerntrick den Todesstoß versetzt.
Für einen kurzen Moment bleibt im Old Trafford die Zeit stehen. Der Torschütze feiert seinen Treffer nicht. Fassungslos läuft er in Richtung Anstoßpunkt. Die verhaltenen Gratulationen seiner Mitspieler, denen die Tragweite des Treffers offenbar schon früher bewusst wird als Law selbst, lässt er nahezu regungslos über sich ergehen.
Später sagte er: "Ich fühlte mich einfach niedergeschlagen und das sah mir überhaupt nicht ähnlich. Nach 19 Jahren, in denen ich immer mein Bestes gab, um den Ball ins Netz zu hauen, war hier einer von dem ich mir wünschen würde, er wäre nie reingegangen. Wie lange das Gefühl anhielt? Nun ja, wie lange ist das Spiel her? Da haben sie ihre Antwort."
Manchester-Derby: Platzsturm, Spielabbruch, Polizeiaufmarsch
Einige Zuschauer verfallen in eine Schockstarre, andere sind völlig außer sich und stürmen auf den Platz. Nach einigen Minuten beruhigt sich die Meute und findet auf die Ränge zurück. Der tragische Held, für den der Torerfolg die letzte Ballberührung seiner Klubkarriere sein würde, wird sofort ausgewechselt und die Partie nimmt seinen Lauf.
Etwa zwei Minuten später irren wieder zahlreiche Anhänger auf dem Feld herum, die Situation droht aus dem Ruder zu laufen. Der Schiedsrichter hat keine andere Wahl mehr und entscheidet auf Spielabbruch. Wenige Augenblicke später marschiert die Polizei auf.
Die Wertung des Spiels bleibt aber bestehen und so muss United erstmals nach 32 Jahren wieder den Gang in die Zweitklassigkeit antreten. In Erinnerung bleibt ein faszinierender Stürmer und Mensch, dem in der Geschichte beider Manchester-Klubs sein ganz eigenes Kapitel gehört. Erst nach der Partie wird klar, dass die Red Devils aufgrund der Ergebnisse der Konkurrenz auch bei einem Sieg gegen den Rivalen abgestiegen wären.
Streng genommen hatte das Tor von Law also eigentlich keine Bedeutung. Eigentlich.