Es war einer der größten Tage der Stadtgeschichte, aber in Liverpool selbst war davon nichts zu merken. Das Zentrum der Metropole im Nordwesten Englands war an diesem 25. März 1984 wie leergefegt, die Plätze verlassen und "still und leise" waren die Straßen, wie das Liverpool Echo berichtete.
Liverpools großer Tag trug sich nämlich nicht in Liverpool zu, sondern knapp 300 Kilometer südlich, in London. 100.000 Liverpudlians, etwa ein Fünftel der damaligen Stadtbevölkerung, standen dort im Schatten der beiden berühmten Türme, die das alte Wembley Stadion schon von weitem sichtbar machten. Der FC Everton und der FC Liverpool, die beiden Stadtrivalen, trafen erstmals im Nationalstadion aufeinander. Im League-Cup-Finale.
Dort unten im Süden der Insel waren sie aber weniger Stadtrivalen als viel eher Gesinnungsgenossen. Eine "freundliche Armee von Fans" pilgerte nach London, wie das Echo berichtete, und machte sich einen schönen "family day out". "Ich sah Autos, bei denen aus einem Fenster ein blauer und aus dem anderen ein roter Schal wehte", erzählte Evertons Kevin Sheedy.
"Are you watching, Manchester?"
Nicht umsonst trägt dieses Derby den Titel "friendly derby". Fantrennung im Wembley-Stadion war nicht nötig, rot-blau-kariert sahen die monumentalen Tribünen des Stadions aus und gesungen wurde auch gemeinsam: "Merseyside! Merseyside! Merseyside!" Und verhöhnt wurde die verhasste Nachbarstadt: "Are you watching, Manchester?" Eine Demonstration des Zusammenhalts der Stadt Liverpool.
Die historische Rivalität zwischen Manchester United und dem FC Liverpool
"Wenn ich mich daran erinnere, bekomme ich noch heute einen dicken Kloß im Hals", erzählte John Bailey, der für Everton verteidigte. 0:0 endete das Spiel und es war wohl das perfekte Ergebnis. Alle durften sich feiern lassen und alle ließen sich feiern und feierten sich selbst und ihre Stadt, auf die sie so stolz waren. Fans und Spieler zusammen.
Evertons Bailey und Liverpools Alan Kennedy schnürten nach dem Abpfiff Schals ihrer beiden Teams zusammen und hielten diese rot-blaue Kombination hoch über ihren Köpfen, als sie eine gemeinsame Ehrenrunde drehten. Aus 100.000 Mündern schallte es wieder laut und stolz: "Merseyside! Merseyside! Merseyside!"
An diesem Tag waren sowohl die Blauen als auch die Roten Gewinner, aber den Pokal durfte sich natürlich nur ein Verein ins Museum stellen. Drei Tage später stieg in Manchester das Wiederholungsspiel. Liverpool setzte sich mit 1:0 durch. In Erinnerung blieb aber nicht der Titel, sondern die Verbrüderungsszenen von Wembley.
Blaue und rote Sitze im Kinosaal
So unterrepräsentiert wie die beiden Klubs ob der Massenbewegung Richtung Süden an diesem Märztag von 1984 in Liverpool selbst waren, waren sie seitdem wohl nie mehr. Schals und Flaggen wehen Tag ein Tag aus stolz im steten Wind, der von der Irischen See die Mersey entlang Richtung Stadt weht. An den Balkonen der Häuser, an den Verkaufsständen in der Fußgängerzone und an den Hälsen der Liverpudlians.
Everton und Liverpool haben eine übergeordnete Bedeutung für die Stadt, das wird an jeder Ecke deutlich. Am Ufer der Mersey etwa wurde vor einigen Jahren das Museum of Liverpool errichtet. Einen kleinen Kinosaal gibt es dort, mit roten und blauen Sitzen. Echte Sitze aus dem Goodison Park und Anfield, wie einem beim Besuch versichert wird.
Immer wieder wird der gleiche Film gezeigt. Er erzählt die Geschichte der beiden Klubs und fragt gleich zu Beginn: "Are you red? Or are you blue?" Jetzt, kurz vor dem wichtigsten Spiel der Halbserie, muss natürlich besonders enthusiastisch Farbe bekannt werden. "Blue!", ruft ein Mann mittleren Alters stolz. Für die restlichen Besucher keine Überraschung mehr, trägt er doch eine blaue Kappe; für seine neben ihm sitzenden Kinder sichtlich peinlich. Ihm ist es natürlich egal, er ist Evertonian und stolz darauf.
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Scouse im Bus 919 Richtung Kirkdale
Die Frage nach der Farbe ist in vielen Fußball-Städten der Welt eine, die sich nicht stellt. Sie wird beantwortet von der Religion, der man angehört, der Gesellschaftsschicht, der man entstammt oder dem Stadtteil, in dem man geboren wurde. In Liverpool spielt all das keine Rolle.
Everton- und Liverpool-Anhänger lassen sich nicht anhand eines harten Faktors zuordnen. Durchaus einmalig ist das in der Welt des Fußballs. "Es gibt hier Familien, bei denen die eine Hälfte Liverpool unterstützt und die andere Everton. Die Familienmitglieder gehen gemeinsam ins Stadion und tragen unterschiedliche Farben", sagte der legendäre Reds-Trainer Bill Shankly mal, "das kann man sich in anderen Städten nicht vorstellen."
Nimmt man es ganz genau, gehören aber ohnehin alle Everton- und Liverpool-Fans einer großen fußballerischen Familie an. Diese Großfamilie entstammt nicht Liverpools Zentrum mit seinem modernen und architektonisch beeindruckenden Museum und der von Touristen durchströmten Innenstadt, sondern dem Stadtteil Everton, etwas nördlich gelegen.
Zu erreichen etwa mit dem Bus 919 Richtung Kirkdale. Beherrschende Themen der Passagiere des Doppeldeckerbusses sind schon jetzt, einige Tage vor dem großen Spiel, die potenziellen Aufstellungen der beiden Teams. Besprochen werden sie in Scouse, dem lokalen Dialekt. Eine Mischung aus englisch, irisch, walisisch und wohl einigen anderen Sprachen, die keinen Namen haben oder noch nicht mal erfunden sind. Gänzlich bekannt ist immerhin, woher dieser Dialekt seinen Namen hat: Von der unter lokalen Seeleuten einst beliebten Speise Lobscouse, einem Kartoffelgericht mit gepökeltem Rindfleisch und Roter Bete.
"Home of Firsts"
Knapp 15 Minuten dauert die Fahrt. Backsteinbauten prägen das Stadtbild noch mehr als im Zentrum und irgendwann tauchen hoch oben, blau leuchtend die Buchstaben "Goodison" auf. Darunter der Goodison Park, die Heimstätte des FC Everton. Der wahr gewordene Traum aller Fußballnostalgiker des 21. Jahrhunderts, die so gerne auch die erste Hälfte des 20. erlebt hätten.
Herrlich liebevoll sind die Balustraden zwischen den Rängen blau-weiß-gestreift gestrichen, der Tribünenboden aus Holz. In der letzten Reihe lehnt man an einer Backsteinwand. Verlässt man die Gegentribüne, steht man auf der Goodison Road, überquert man sie, vor dem People's Pub. Ein Pub, das seinen Namen genauso verdient, wie es mit Erinnerungsstücken aus vergangenen Zeiten geschmückt ist.
Ein blaues Banner an einem Haus daneben weist den Goodison Park als die "Home of Firsts" aus, die Heimat der ersten Male. Geschichtlich gesehen Erster zu sein, darin ist Everton besonders talentiert. Die Toffees waren etwa der erste Verein, der ein eigenes Matchday-Programm veröffentlichte, der erste, der die Marke von 100 Spielzeiten in der obersten Spielklasse erreichte und darüber hinaus war er Gründungsmitglied der Football League. Damals, 1888.
Als Everton im Anfield spielte
Zu einer Zeit, als es den großen Stadtrivalen noch gar nicht gab. Immerhin gab es aber schon dessen spätere Spielstätte an der Anfield Road. Denn sie war die Heimat des FC Everton, seit 1884 schon. Das dazugehörige Grundstück gehörte einem Freund von John Houlding, dem Präsidenten der Toffees. Da lag es natürlich nahe, sein Team dort auch auflaufen zu lassen.
Ganz nebenbei profitierte davon ein von Houlding betriebenes Pub, das sich in der nach ihm benannten Houlding Street daneben befand - und immer noch befindet. Das Sandon Pub diente den Spielern als Umkleidekabine, gerne kippten sie auf dem Weg vom oder zum Stadion das eine oder andere Erfrischungsgetränk.
Bald gab es aber Streitigkeiten zwischen Houlding und anderen Vereinsverantwortlichen Evertons. Und zwar darüber, wie viel der Klub dem Geschäftsmann Houlding löhnen müsse, um weiter an der Anfield Road spielen zu dürfen. Am 15. März 1892 trafen sich die Vereinsmitglieder wieder einmal im Sandon Pub - und dabei kam es zum Bruch zwischen Houlding und Everton. Houlding verließ den Klub und hatte somit ein Stadion zur Verfügung, aber kein Team mehr. Der FC Everton hatte ein Team, aber kein Stadion.
Houlding gründete kurzerhand den FC Liverpool, Evertons verbliebene Mitglieder sammelten knapp 8000 Pfund, zogen einige hundert Meter weiter, auf die andere Seite des nahen Stanley Parks, erwarben ein eigenes Grundstück und bauten ihr Stadion: den Goodison Park. Aus einem Verein wurden zwei. Zwei Klubs, die den englischen Fußball fortan prägten wie wenige andere. 27 Meistertitel holten sie zusammengerechnet nach Liverpool, keine andere englische Stadt gewann mehr.
Gemeinsam feiern, gemeinsam trauern
Zusammen geht es besser als alleine, das lernten die zerstrittenen Familienmitglieder bald und machten oft gemeinsame Sache. Von 1902 bis 1932 verlegten sie etwa ein gemeinsames Matchday-Programm, 1984 feierten sie in Wembley gemeinsam ihre Stadt und 1989 standen sie bei der größten Tragödie zusammen.
96 Liverpool-Fans verloren bei der Hillsborough-Katastrophe von 1989 ihr Leben. Von Behörden und Medien wurden die Fans dafür selbst verantwortlich gemacht. Eine Lüge, wie sich später herausstellen sollte. Liverpool-Fans boykottierten in der Folge das Boulevardblatt Sun, das dieses Gerücht in die Welt gesetzt hatte, und Everton-Fans beteiligten sich an dieser Aktion. Das zur Pilgerstätte umfunktionierte Anfield war unterdessen nicht nur mit roten Schals geschmückt, sondern auch mit blauen. Die Familie trauerte gemeinsam dort, wo sie vor dem Clinch von 1892 auch gemeinsam spielte.
Das erste Pflichtspiel Liverpools nach der Tragödie stieg im Goodison Park. Derby, ausgerechnet. So ausgelassen die Mannschaften knapp fünf Jahre zuvor ins Wembley Stadion einliefen, so bedrückt taten sie es jetzt. Erst leise und dann immer lauter stimmten die Fans beider Lager Liverpools Hymne "You'll Never Walk Alone" an. Blaue und Rote gemeinsam. Und nachdem die letzten Zeilen gesungen waren, hallte es aus allen Kehlen trotzig und traurig und irgendwie auch stolz, in diesem Moment zusammenzustehen: "Merseyside! Merseyside! Merseyside!"
FC Everton - FC Liverpool: Die Statistik zum Spiel