Nachdem er bei Borussia Dortmund eine Ära geprägt und mit dem BVB zahlreiche Erfolge gefeiert hat, folgte Jürgen Klopp im Oktober 2015 dem Ruf des FC Liverpool. In seinem ersten Jahr als Trainer führte der 49-Jährige die Reds ins Finale der Europa League und spielt in dieser Saison um den Titel in der Premier League mit. Im ersten Teil des Interviews spricht Klopp über den Einfluss seines Lehrmeisters Wolfgang Frank, seine ersten Schritte im Trainergeschäft und den schwierigen Start in Liverpool.Hier lesen Sie Teil 2 des Interviews mit Jürgen Klopp
SPOX: Herr Klopp, Sie bezeichnen seit jeher den 2013 verstorbenen Wolfgang Frank als Ihren Lehrmeister. Wie kam es, dass ein Trainer, der vor allem unterklassig tätig war, Sie so prägte?
Jürgen Klopp: Als Wolfgang 1995 nach Mainz kam und unsere Mannschaft übernahm, war das anfangs noch nicht abzusehen. Er hat zunächst nur das gemacht, was gute Trainer grundsätzlich tun: Er hat nicht allzu viel verändert. So kam es, dass wir die ersten Partien unter ihm auch noch verloren.
SPOX: Aber dann...
Klopp: ...führte er auf einmal die Viererkette und Raumdeckung über den gesamten Platz ein. Wir hatten als Tabellenletzter der 2. Liga ein Freundschaftsspiel gegen den 1. FC Saarbrücken, damals Erster in Liga 3. Noch im Bus sagte uns Wolfgang, dass wir heute 4-4-2 spielen werden - ohne es zuvor auch nur ein einziges Mal trainiert zu haben. Das war zum damaligen Zeitpunkt revolutionär. Er hätte auch sagen können, dass wir eine Klausur in Quantenphysik zu schreiben haben.
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SPOX: Eine Erklärung, wie er sich das genau vorstellt, wird es aber schon gegeben haben?
Klopp: Ja, aber nur ganz kurz in der Kabine während der Sitzung.
spoxSPOX: Zur Halbzeit führte Mainz mit 6:0, Saarbrücken hatte nicht eine Torchance. Wie war das zu erklären?
Klopp: Wir standen tief und eng, haben vielbeinig die Zweikämpfe gewonnen und vorne jeden Ball ins Tor geschossen. Zur Pause wurde fast komplett gewechselt, es blieb letztlich beim 6:0. Die Formation der ersten Hälfte hat ab dann aber quasi eineinhalb Jahre durchgespielt.
SPOX: Und Sie gehörten dazu. Wie ging es daraufhin im Training weiter?
Klopp: Wir haben Wolfgangs Idee von A bis Z abgearbeitet. Unsere Trainingseinheiten haben sich wie Tag und Nacht von den vorherigen unterschieden. Da sind wir noch aufs Gelände gekommen und dachten: Wenn kein Lauftraining ansteht, dann wird halt gekickt. Defensivtraining gab es praktisch keines, höchstens Zweikämpfe in Eins-gegen-eins-Duellen.
SPOX: Was hat Frank so anders gemacht?
Klopp: Wir haben den Ball nicht mehr gesehen, sondern nur noch das Verschieben im Verbund geübt. Er zeigte uns die Lehrvideos von Arrigo Sacchi, hatte auch eines von Uli Stielike mit qualitativ schlechtem Bildmaterial und ein weiteres von einem Schweizer, an dessen Name ich mich leider nicht mehr erinnere. Die haben wir so lange angeschaut, bis wir am Bildschirm fast nichts mehr erkannt haben - und anschließend wurden die Inhalte wiederholt. Wir haben unendlich verschoben, sobald wir wieder auf dem Platz standen.
SPOX: Mainz spielte daraufhin die bis dato erfolgreichste Rückserie der Vereinsgeschichte und blieb in der Liga. Was war für Sie die wichtigste Erkenntnis aus dieser Zeit?
Klopp: Dass man seine Gegner durch gruppen- und mannschaftstaktische Maßnahmen immer auf sein eigenes Niveau herunterziehen und wenn man sie dort hat, auch schlagen kann. Jede Mannschaft hat ja einen Plan. Verfolgst du aber selbst einen, der den des Gegners in jeder Situation verändert und somit nicht mehr durchführbar macht, hast du einen Fuß in der Tür des Spiels.
SPOX: Ralf Rangnick sprach einmal im SPOX-Interview von einem "Aha-Erlebnis", als er in den 1980er Jahren ein Freundschaftsspiel des FC Viktoria Backnang gegen Walerij Lobanowskyjs Dynamo Kiew sah. Die Ukrainer verzichteten damals auf einen Libero und spielten mit einem modernen Sechser im defensiven Mittelfeld. War das 6:0 gegen Saarbrücken eine ähnliche Erfahrung für Sie?
Klopp: Gewissermaßen. Ich habe damals zum ersten Mal für mich gesehen, wie Fußball auch funktionieren kann. Man muss bedenken: Der gemeine Zweitligaprofi zur damaligen Zeit war nicht so drauf, dass er nebenher noch eine Trainerausbildung absolviert hätte. Wir haben zwar Fußball geschaut, aber meistens eben die Ausschnitte in der Sportschau. Ich konnte als Spieler über Systeme gar nichts erzählen. Wolfgang Frank war insofern eine komplette Offenbarung. Wir hatten unter ihm sicher mehr Theoriesitzungen als jede andere Fußballmannschaft weltweit. Er war fleißig ohne Ende und hatte immer Zeit - dementsprechend haben wir dann auch oft Zeit haben müssen.
SPOX: Als Frank den Verein verließ, ging mit ihm auch der Erfolg. Rückblickend sicherlich kein Zufall für Sie, oder?
Klopp: Unsere Truppe war einfach extrem beeinflusst von ihm. Das war auch ein Stück weit das Problem aller auf Wolfgang folgenden Trainer. Wir als Mannschaft waren für Neues total offen, doch in der taktischen Arbeit einen Schritt zurück zu machen, ist uns schwer gefallen. Christian Heidel hat später auch einmal gesagt, dass die Trainer, die nach Wolfgang kamen, taktisch schlechter waren als die Mannschaft.
SPOX: Am 28. Februar 2001 wurden Sie selbst einer von Franks Nachfolgern und mutierten über Nacht vom Spieler zum Trainer. Wie sind Sie an die Sache herangegangen?
Klopp: Das war ein gefühltes Himmelfahrtskommando, denn wir steckten ja tief im Abstiegskampf. In den paar Tagen vor meinem ersten Spiel ging es nur um die Frage: Was kann man tun, damit wir nicht weiterhin jedes Spiel verlieren? Über Gewinnen habe ich gar nicht nachgedacht.
SPOX: Da sind Sie dann offensichtlich beim Thema Defensivarbeit gelandet.
Klopp: In der ersten Trainingseinheit habe ich Stangen in den Boden gerammt und taktisch Laufen lassen. Für die allermeisten waren diese Abläufe noch im Langzeitgedächtnis abgespeichert, weil wir sie ja wie geschildert bis zum Erbrechen unter Wolfgang Frank trainiert haben. Ich habe geschaut, wer das noch auf der Festplatte hat und entsprechend aufgestellt. spox
SPOX: Die ersten Monate haben Sie die Mannschaft ohne Co-Trainer angeleitet. Welche Erinnerungen haben Sie an das damalige Training?
Klopp: Ich weiß noch, dass es auf der Bezirkssportanlage in Mainz-Mombach direkt neben dem Platz einen Hügel gab. Dort stand ich und habe beobachtet. Ich hatte damals noch nicht das Auge, um unten am Feld alles überblicken zu können. Ich ließ Elf-gegen-elf spielen, und wenn ich in die Pfeife geblasen habe, mussten die Spieler wie bei der Mannequin Challenge sofort stehen bleiben. Dann bin ich runter gerannt und habe ihnen aufgezeigt, wo die Abstände zu groß geraten sind.
SPOX: Im Sommer 2001 kam dann Ihr mittlerweile langjähriger Co-Trainer Zeljko Buvac hinzu. Eine Erleichterung?
Klopp: Total. Ich hatte ja 1000 Fragen, aber keinen Ratgeber. Nur konnte ich die Fragen anfangs nicht stellen, da ich ja so tun musste, als wüsste ich schon alles. Es war für mich daher großartig, in Zeljko diesen Bruder im Geiste zu finden. Sein Input hat das bestätigt, was ich zuvor ohne ihn gemacht habe - und zwar ohne, dass wir großartig darüber gesprochen haben. Zeljko war mein bester Transfer. Das wird auch niemand mehr toppen können.
SPOX: Was macht ihn für Sie so besonders?
Klopp: Er schaut mehr Fußball als jeder andere Mensch, den ich kenne und hat das schon immer so getan. Dadurch sind wir bei allem Alltag eigentlich nie in unserer Entwicklung stehen geblieben. Zeljko brachte von Beginn an den internationalen Ansatz ein und war auf dieser Ebene top-informiert, während ich mich in den Alltag und die deutschen Profiligen gebissen habe. Wir wussten natürlich nicht, ob wir all dieses Wissen auch tatsächlich einmal benötigen würden. Uns hat es dennoch brennend interessiert, was Mannschaften tun, die richtig kicken können. (lacht) Es war sozusagen eine unbewusste Vorbereitung auf all das, was später auf uns zukam.
SPOX: Woran haben Sie sich damals orientiert?
Klopp: Nicht nur damals, auch heute: Wir orientieren uns daran, was die Spieler können. Wir wollen sie nicht überfordern, sondern versuchen, ihnen ein Gerüst mitzugeben, um auf unterschiedliche Spielsituationen mit intuitiven Abläufen reagieren zu können. Fußball ist kein Hexenwerk. Es geht nicht darum, was man macht, sondern wie oft und konsequent man es durchzieht. In Mainz habe ich das am Anfang auch per Video aufgezeigt und einfach mit den Spielern darüber gesprochen.
SPOX: Die Videoanalyse hat sich über die Jahre enorm modernisiert und gehört mittlerweile zu den wichtigsten Coaching-Elementen. Wie schwierig war sie Anfang des Jahrhunderts an einem Standort wie Mainz?
Klopp: Sehr schwierig. Es war zunächst nicht daran zu denken, der Mannschaft selbst geschnittene Videos zu präsentieren. Ich habe mir irgendwann meinen ersten DVD-Player gekauft, damit zumindest das Spulen schneller geht. Die Spieler waren damals zwar sehr wissbegierig, aber man muss immer auch darauf achten, dass die Sitzung nicht zu lange dauert. Dank des DVD-Players konnte ich mir endlich Timecodes herausschreiben und zur entsprechenden Stelle spulen. Das war nervig ohne Ende, aber eine erhebliche Verbesserung.
SPOX: Wie haben Sie sich Bilder von den Spielen der kommenden Gegner besorgt?
Klopp: Das war beinahe genauso unmöglich wie welche von unseren eigenen Partien zu bekommen. Ich weiß noch, dass ich immer die Montagsspiele der 2. Liga aufgenommen habe. Aber eben so, wie sie im Fernsehen gezeigt wurden. Also mit den Einblendungen der Trainer oder zu Gewinnspielen.
SPOX: Unvorstellbar, wenn man sich vor Augen führt, wie Sie ab 2005 nur ein paar Jahre später mit einem professionellen Analyse-Tool als Experte für das ZDF gearbeitet haben.
Klopp: Wir haben damals mit der Firma Swiss Timing zusammengearbeitet. Diese Jungs haben mich anschließend gefragt, ob wir nicht gemeinsam eine Laptopversion dieses Analyse-Tools entwickeln wollen. Das habe ich sofort bejaht. Wir haben dann definiert, auf was ich bei der Analyse Wert lege und das Ding zusammengebastelt. Ich habe das Tool in Mainz umsonst zur Verfügung gestellt bekommen. Das war ganz praktisch, denn gekauft hätte es der Verein nicht. (lacht)
SPOX: Das dürfte in Ihrem Kerngeschäft vieles vereinfacht haben.
Klopp: Es war eine richtige Offenbarung und hat sehr viel Spaß gemacht. CD rein, Spiel schneiden, speichern und dann der Mannschaft zeigen. Damals habe ich das noch alles komplett alleine gemacht. Ich hatte mir vorgenommen, immer die drei letzten Spiele des nächsten Gegners zu analysieren und dazu noch den letzten eigenen Auftritt. Das war sehr intensiv und manches Mal schwierig, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Daher habe ich jemanden gesucht, der das seriös erledigen kann. Peter Krawietz war die einzig logische Wahl. Das Trainerteam war somit auch komplett, und mit diesen Voraussetzungen und Aufgabenverteilungen sind wir dann 2008 in Dortmund eingestiegen. Dort hat Peter relativ schnell die Videositzungen selbst geleitet.
SPOX: Wie läuft das jetzt beim FC Liverpool ab?
Klopp: Hier leite und spreche ich wieder. Wir haben ein Team aus mehreren Videoanalysten. Diese Jungs schneiden in Zusammenarbeit mit Peter das Material vom kommenden Gegner auf rund 40 Szenen zusammen. Anschließend gucken sich Peter, Zeljko und ich alles an. Dann wird nochmal gekürzt, und danach wird es der Mannschaft gezeigt.
SPOX: In welcher Hinsicht haben Sie denn Ihre Trainingsgestaltung umstellen müssen, seitdem Sie in Dortmund und nun vor allem in England diese deutlich größere Masse an Spielen zu bewältigen haben?
Klopp: In Liverpool haben wir über Trainingsgestaltung anfangs nur wenig nachdenken müssen. Der Rhythmus bestand lange Zeit nur aus Spiel, Regeneration und Abschlusstraining. Wir haben versucht, viele unserer Inhalte per Video und über Gespräche zu erklären. In den ersten Spielen sind wir vor allem auch über den Willen und die Bereitschaft gekommen.
SPOX: Waren Sie zufrieden mit der anfänglichen Entwicklung bei den Reds?
Klopp: Ja, sie war unserer Ansicht nach ordentlich. Wir glauben weiterhin an Training. Das ist für mich alternativlos, denn Zeljko ist der beste Trainer der Welt. Er liebt es, unterschiedliche Trainingsformen zu entwickeln. Das erstaunt mich bis heute: Wir sitzen zusammen im Büro, besprechen Herangehensweise und Schwerpunkte für das nächste Spiel, und später im Training überträgt Zeljko diese Ideen dann herausragend gut in einzelne Spielformen.
SPOX: Wie sah das wenige Training in dieser zunächst schier endlosen Abfolge von Spielen in der ersten Liverpool-Saison aus?
Klopp: Wir haben teilweise an einem Tag zwei Einheiten mit zwei verschiedenen Mannschaften gemacht. Ein Team hat regeneriert, die andere, meist aus jungen Spielern bestehende Truppe eine normale Einheit absolviert - und dann wieder umgekehrt. Bis zum Saisonende haben wir 38 Spieler eingesetzt. Das war eine neue Herausforderung für uns, wir mussten kreativ sein.
SPOX: In der laufenden Spielzeit sind die internationalen Partien weggefallen. Was ist dadurch anders geworden?
Klopp: Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Obwohl wir sehr gerne europäisch spielen würden, kommt es uns auch entgegen. Das sind letztlich zwei verschiedene Jobs, wenn man in einer Saison praktisch nur trainieren kann und in der vorherigen viele auch internationale Spiele zu bewältigen hat. Du musst den einen gemacht haben, um für den anderen bereit zu sein.
SPOX: Macht dieser andere Job denn genauso viel Spaß wie der in der aktuellen Saison?
Klopp: Vieles macht genauso viel Spaß. Man vermisst nur ein bisschen etwas, wenn das Training aufgrund der hohen Anzahl der Spiele auf der Strecke bleibt. Man sieht zwar Notwendigkeiten, kann diese jedoch nicht über Training, sondern muss sie vielmehr über Visualisierungen und Gespräche versuchen zu lösen.