Malerisch schön liegt Pescara an der italienischen Adriaküste, kilometerlange Sandstrände inklusive. Es ist Frühjahr 2014, die Temperaturen steigen allmählich, der WM-Sommer liegt bereits in der Luft. Doch Lucas Torreira hat für all das gerade keinen Nerv, als er mit einer Plastiktüte in seine kleine Wohnung zurückkehrt. Inhalt: zwei Döner, jeweils für unschlagbare 1,50 Euro, vom Imbiss gegenüber. Einen für seinen Vater, einen für ihn selbst.
Damals, frisch 18 Jahre alt, verdient Torreira bei Delfino Pescara läppische 1.250 Euro im Monat, alleine 800 Euro gehen für die Miete drauf. Aus Delfinos Jugendakademie musste er mit Anbruch seiner Volljährigkeit ausziehen - und sich nun gemeinsam mit Vater Ricardo, der mit nach Italien gezogen war, irgendwie durchschlagen.
Den Traum, den er damals verfolgt, für den er seine Heimat verlassen hatte, hat sich der 22-jährige Uruguayer nun längst erfüllt. Für 30 Millionen Euro wechselte er im Sommer zum FC Arsenal, ist bei den Gunners prompt zum Schlüsselspieler avanciert. Und finanzielle Sorgen wie damals in Pescara kennt er ohnehin nicht mehr, verdient statt rund 300 Euro heute wohl gut 56.000 Euro pro Woche.
Lucas Torreira spielte nie für Uruguays Junioren-Auswahlen
Dass Torreira irgendwann einmal einer der besten Mittelfeldspieler der Premier League sein würde, war als Kind und Jugendlicher nicht abzusehen. Ganz im Gegenteil. Torreira galt nie als besonders talentiert, war kein Überflieger, spielte nie für eine Junioren-Nationalmannschaft Uruguays. Er kickte bei einem kleinen Klub in seinem Heimatort Fray Bentos, einer Kleinstadt nahe der Grenze zu Argentinien, vor allem bekannt für ihr Dosenfleisch.
Rund 280 Kilometer von Uruguays Hauptstadt Montevideo entfernt flog Torreira für die Nobelvereine dort, ob Penarol, Danubio, Nacional oder Liverpool, lange unter dem Radar. Erst mit 16 kam er bei den Montevideo Wanderers unter, begann für heutige Verhältnisse also sehr spät, überhaupt unter professionellen Bedingungen zu trainieren.
In Montevideo, wo der Papa und auch sein Bruder Claudio einst vergeblich versuchten, Profi zu werden, lebte er bei seiner Schwester, musste sich durchschlagen in der Millionenmetropole. Er hatte zwei Jobs, trug um fünf Uhr morgens die berühmte Tageszeitung El Pais aus. Mühen, die ihm zusetzten, sich jedoch rasch lohnen sollten.
Im Dezember 2013 schaute eine Delegation aus Scouts des italienischen Zweitligisten Delfino Pescara bei den Wanderers vorbei, auf der Suche nach südamerikanischen Talenten. Eigentlich wollten sie nur vier Jungs nach Europa mitnehmen, um sie zur Probe vorspielen zu lassen. Doch in letzter Sekunde überzeugte sie Torreira dann so sehr, dass sie sogar fünf Teenagern die Chance gaben.
Lucas Torreira: Auf nach Pescara
Und Torreira überzeugte in Pescara auch, war der Einzige des Quintetts, der für ein zweites Probetraining zurückkommen durfte - und schließlich einen Vertrag erhielt. Bei Delfino, wo auch ein gewisser Marco Verratti, mit dem Torreira inzwischen verglichen wird, einst seinen Durchbruch feierte, setzte man auf diesen kleinen, schmächtigen, aber kampfstarken Jungen.
Geschenkt bekam Torreira jedoch nichts, hielt sich gemeinsam mit seinem Vater lange mehr schlecht als recht über Wasser, der Dönerbude gegenüber sei Dank. Für die erste Mannschaft von Pescara war er noch nicht bereit, spielte zunächst für das Primavera-Team. Und hatte mit schmerzhaften Warzen an seinen Füßen zu kämpfen. "Er konnte nicht einmal gehen", erinnerte sich Roberto Druda, der Scout, der ihn nach Italien holte, mal laut Bleacherreport. "Aber er spielte einfach weiter, monatelang ging das so."
Bevor er nach Pescara kam, war Torreira noch meist Stürmer, spielte deutlich weiter vorne als heute. Der frühere Bayern-Verteidiger Massimo Oddo, 2014/15 Trainer von Delfinos U19, änderte das. "Während der Saisonvorbereitung meinte der Klub, dass ich ihn mir genauer anschauen soll. Sie sagten: 'Wenn das nichts ist, schicken wir ihn zurück nach Uruguay'", berichtete er La Repubblica und fuhr fort: "Ich habe bei ihm Fußball-Intelligenz, Persönlichkeit und körperliche Stärke erkannt. Er wollte jedoch immer den Ball haben, also habe ich zu ihm gesagt: 'Warum spielst Du statt in der Offensive nicht mal als defensiver Mittelfeldspieler?'"
Sein Debüt für die Profis in der zweiten Liga feierte Torreira schließlich erst gegen Ende der Saison 2014/15. Da war mit Sampdoria Genua schon ein größerer Verein auf ihn aufmerksam geworden. Samp legte im Sommer 2015 drei Millionen Euro für den damals 19-Jährigen auf den Tisch, verlieh ihn für die folgende Spielzeit noch einmal zurück an Pescara, wo er sich unter dem inzwischen zum Cheftrainer der ersten Mannschaft aufgestiegenen Oddo prächtig weiterentwickelte.
Über Genua in die Nationalelf
Als er 2016 dann endgültig nach Genua ging und sich dort prompt einen Stammplatz in der Serie A erkämpfte, wurde man auch in seiner Heimat Uruguay, wo Torreira noch nie ein Profispiel bestritten hatte, allmählich auf den 1,68-Meter-Fighter aufmerksam. "Ich erinnere mich daran, wie die Leute hier in Uruguay plötzlich überall von ihm sprachen", erzählte der El-Pais-Journalist Daniel Rosa dem Bleacherreport. "Sein Name war in aller Munde: 'Hast du diesen Lucas Torreira gesehen?' Die Sache, mit der er die Leute am meisten gecatcht hat, war seine geringe Körpergröße. Wie kann so ein kleiner Spieler in Italien, in einer so körperbetonten Liga, so herausragen?"
Torreira machte in zwei Jahren 71 von 76 möglichen Serie-A-Spielen für Sampdoria, hievte sich auf die Zettel der Top-Klubs, debütierte im März 2018 für Uruguay. Er durfte mit zur WM, stand mit Anpfiff des dritten Gruppenspiels bis zum Viertelfinal-Aus gegen den späteren Weltmeister Frankreich ununterbrochen auf dem Platz, überragte im erfolgreichen Achtelfinale gegen Portugal und Cristiano Ronaldo.
Lucas Torreira kann kämpfen - und exzellent kicken
Auf den ersten Blick vor allem ein Kämpfer und aggressiver Balleroberer vor dem Herrn, kann Torreira auch exzellent kicken, hat ein hervorragendes Passspiel, eine gute Technik, ein kluges Auge und kann zudem sehr gut antizipieren, viele Ballgewinne sammeln. "Er beeindruckt durch seine Intelligenz", sagt auch El-Pais-Journalist Rosa.
Das hat er bisher auch bei Arsenal getan. In allen 14 Premier-League-Partien der Saison kam er zum Einsatz, seit dem sechsten Spieltag beordert ihn Trainer Unai Emery stets in die Startelf. Ausgerechnet im Nord-London-Derby gegen den Erzrivalen Tottenham gelang Torreira dann auch sein erstes Tor für Arsenal, wuchtig und präzise traf er zum umjubelten 4:2-Endstand.
Danach hatte der schüchterne Uruguayer sicher auch mal einen Nerv für die schönen Ecken Londons. Das Budget fürs Abendessen dürfte jedenfalls mehr als 1,50 Euro betragen haben.