Es war nach dem 2:2 am 1. Spieltag der Champions League bei Olympiakos Piräus - der enttäuschende Saisonstart war schon in vollem Gange - als es Harry Kane aussprach: "Wir sind nicht mehr jung! Wir sind nicht mehr unerfahren!" So oder so ähnlich war das nämlich lange einerseits das frische Bild von Tottenham unter Pochettino - und andererseits die liebste Ausrede bei Misserfolgen.
Diesmal hat es nicht geklappt, aber wir haben ja noch eine große Zukunft!
Nein, diese Mannschaft hat keine große Zukunft mehr, sie spielt schon längst in der vermeintlich großen Zukunft. Am vergangenen Premier-League-Spieltag bot Tottenham die viertälteste Startelf aller Klubs auf (nur der FC Burnley, der FC Watford und Crystal Palace waren älter).
Diese Mannschaft spielt in einer Zeit, in der sie sich eigentlich schon mit einem Titel verewigt haben sollte - obwohl das ob der finanziellen Möglichkeiten von Tottenham im Vergleich zu den Liga-Rivalen rational niemals gefordert werden dürfte. Und genau das macht die Lage so kompliziert und vielleicht sogar aussichtslos.
Tottenham kaufte keine Stars, sondern machte sie selbst
Ein Rückblick: 2014 übernahm Pochettino das Traineramt bei Tottenham und begann direkt damit, eine Mannschaft zu erschaffen, die für etwas steht und begeistert. Die erfrischend dynamisch spielt, die nicht zusammengekauft erschien, sondern mit Bedacht zusammengestellt. Tottenham kaufte keine Stars, sondern machte sie selbst. All das hob den Klub von der teils konzeptlos prassenden Konkurrenz in England ab.
Die Mannschaft wurde nicht jeden Sommer grunderneuert, sondern wuchs immer weiter zusammen. Tottenham investierte kaum Geld in den Kader, landete zuletzt trotzdem vier Mal in Folge in den Top-4 der Premier League und erreichte in den nationalen Pokalwettbewerben einige Halbfinals.
Irgendwann aber reichte das nicht mehr, irgendwann gierte der ganze Klub trotz des Wissens um die finanzielle Beschränktheit nach Titeln. Als Tottenham dann Anfang dieses Jahres innerhalb weniger Tage aus dem League Cup und dem FA Cup ausschied, regte sich erstmals öffentlicher Unmut.
Am Ende der Saison wäre beinahe trotzdem der größte aller Triumphe gelungen. Doch nach einem hochemotionalen Weg ins Champions-League-Finale gegen den FC Liverpool verkam der vermeintlich größte Abend trotz eines lange lediglich knappen 0:1-Rückstandes zu einer unemotionalen wie chancenlosen Angelegenheit.
Nur Trippier hat die Mannschaft verlassen
"Die Erwartungen sind jetzt andere", sagte Pochettino danach, "und wir müssen eine Lösung dafür finden." Doch Lösung ist keine in Sicht. Pochettino trauert dieser vergebenen Chance immer noch sichtlich nach, regelmäßig erwähnt er das auch öffentlich. Seinen langjährigen Spielern scheint es ähnlich zu gehen. Und noch schlimmer: Sie scheinen den Glauben daran zu verlieren, mit Tottenham noch Titel zu gewinnen.
Mit Christian Eriksen, Toby Alderweireld, Jan Vertonghen, Danny Rose, Serge Aurier, Victor Wanyama und Kieran Trippier wurden sieben wichtige Spieler im Sommer mit einem Abschied in Verbindung gebracht. Letztlich gewechselt ist nur Trippier (zu Atletico Madrid). Der Rest blieb, teilweise ohne es zu wollen. "Es ist allgemein bekannt, dass es Spieler gab, die kurz vor einem Wechsel standen, aber blieben", sagt Kane neulich bei Sky.
Eriksen verkündete öffentlich, sich nach einer neuen Herausforderung zu sehnen. Nachdem sich ein möglicher Wechsel zu Real Madrid zerschlagen hatte, klagte er: "Ich wünschte, ich könnte meine eigene Karriere steuern wie bei einem Fußball-Manager-Spiel."
Neuesten Berichten zufolge hat er aber bereits einen Vorvertrag bei Real für kommende Saison unterschrieben. Dann ist er ablösefrei, genau wie die beiden Abwehrsäulen Alderweireld und Vertonghen.
Erstmals seit Januar 2018 holte Tottenham neue Spieler
Im Sommer kamen dafür erstmals seit Januar 2018 wieder neue Spieler: Ryan Sessegnon (für 27 Millionen Euro vom FC Fulham) und Giovani Lo Celso (für 16 Millionen Euro Leihgebühr von Betis Sevilla) spielen verletzungsbedingt jedoch noch gar keine Rolle, immerhin überzeugte Mittelfeldspieler Tanguy Ndombele (für 60 Millionen Euro von Olympique Lyon).
Allzu viel bildet sich Pochettino auf die Neuzugänge aber ohnehin nicht ein. "Mehr Namen machen eine Mannschaft nicht automatisch besser", sagte er neulich. "Ich glaube nicht, dass die aktuelle Mannschaft besser ist als die der letzten Saison." Das ist vor allem ein vernichtendes Urteil für seine langjährigen Spieler und ihre Herangehensweise, denn letztlich ist es aktuell die Mannschaft der vergangenen Saison (minus Trippier, plus Ndombele). "Nichts ist vollkommen zerbrochen", sagte Pochettino. "Aber es ist schwierig, mit einer unruhigen Mannschaft zu arbeiten."
Im Umfeld von Tottenham herrscht Ratlosigkeit
Von den bisherigen neun Pflichtspielen dieser Saison gewann Tottenham nur drei und verspielte schon dreimal eine Führung, zweimal sogar ein 2:0. In der Premier League beträgt der Rückstand auf Tabellenführer Liverpool bereits zehn Punkte, in der Champions League reichte es bei Piräus nur zu einem Remis, im League Cup scheiterte Tottenham am Viertligisten Colchester United. Früh in der Saison platzen die ersten Titelchancen.
"Die Leistungen waren nicht so schlecht, wie sie sich anfühlen und wie es die Atmosphäre vermuten lässt", sagte Pochettino zwar. Aber im Umfeld herrscht trotzdem Ratlosigkeit, in manchen Fankreisen oder Medien wird gar ein Trainerwechsel gefordert - der rational gesehen total absurd wäre.
Denn selten haben in Tottenhams Vereinsgeschichte eine Mannschaft und ihr Trainer über so lange Zeit so gute, ja begeisternde Arbeit geleistet. Aktuell deutet aber vieles auf ein fast schon herzzerreißendes Ende dieser Beziehung in absehbarer Zukunft hin. Eines ohne Krönung.
Die bisherige Saison von Tottenham Hotspur
Wettbewerb | Gegner | Ergebnis |
Premier League | Aston Villa | 3:1 |
Premier League | Manchester City | 2:2 |
Premier League | Newcastle United | 0:1 |
Premier League | FC Arsenal | 2:2 |
Premier League | Crystal Palace | 4:0 |
Champions League | Olympiakos Piräus | 2:2 |
Premier League | Leicester City | 1:2 |
League Cup | Colchester United | 3:4 n.E. |
Premier League | FC Southampton | 2:1 |