Nach 16 Jahren gewann Marcelo Bielsa wieder einen Titel, nach 16 Jahren Abwesenheit kehrte Leeds United in die Premier League zurück: Das Zusammenspiel zwischen dem schrulligen argentinischen Trainer und dem englischen Tranditionsklub passte von Beginn an perfekt und resultierte am vergangenen Wochenende im langersehnten Aufstieg. Eine Erfolgsgeschichte mit lustigen Anekdoten.
Alfie McCalmont ist 20 Jahre alt, normalerweise spielt er im zentralen Mittelfeld der U23 von Leeds United. Zweimal ließ ihn Profi-Trainer Marcelo Bielsa in dieser Saison im League Cup für die Profis auflaufen. Die insgesamt 65 Minuten Einsatzzeit reichten Bielsa aber nicht, um sein Potenzial final einzuschätzen. Und dann kam der Corona-Lockdown.
Was Bielsa währenddessen denn gemacht habe, wurde er danach gefragt, und er berichtete, dass er unter anderem 19 Stunden Videomaterial von McCalmont gesichtet hätte. Bielsa ist ein Mann der Extreme: Wenn er etwas macht, dann macht er es ordentlich. Geht es um Fußball, kennt er keine Limits. Seine Fußballer aber, die haben Limits. Was Talent angeht und vor allem, was Belastungsfähigkeit angeht.
Bielsa neigt dazu, seine Spieler zu überfrachten. Immer höchste Intensität: Komplette Dominanz, ständige Rochaden, volles Tempo, permanentes Pressing. Immer. Das ist schön, das ist wild - aber nur bis die Müdigkeit einsetzt. Und so wurde es zum wiederkehrenden Muster, dass Bielsas Mannschaften im Saisonendspurt gerne kollabieren. Weil sie einfach nicht mehr können.
Die Corona-Pause half Marcelo Bielsa
2012 verlor er mit Athletic Bilbao nacheinander das Europa-League- und das Copa-del-Rey-Finale, mit Olympique Marseille verspielte er 2015 trotz langer Tabellenführung gar die Champions-League-Qualifikation und in seiner ersten Saison mit Leeds verpasste er trotz zwischenzeitlich großem Vorsprung letztlich in den Playoffs den Aufstieg in die Premier League.
In dieser Saison kam vor dem Saisonendspurt aber ein Virus namens Corona. Bielsa hatte völlig unverhofft auf einmal Zeit für jemanden wie McCalmont. Und seine Spieler, die in der 24 Klubs umfassenden Championship und in zwei Pokal-Wettbewerben normalerweise von Spiel zu Spiel gehetzt werden, hatten Zeit für Regeneration und Training. Erst nach mehr als drei Monaten Pause ging es weiter, Leeds holte seitdem 19 von 24 möglichen Punkten und stieg als souveräner Zweitliga-Meister in die Premier League auf.
imago images / PA ImagesLeeds United: Fair-Play-Award statt "Dirty Leeds"
Sowohl für den Trainer als auch für den Klub endete damit eine 16 Jahre andauernde Durststrecke. Bielsa hatte 2004 mit Argentinien das olympische Fußballturnier und damit seinen letzten Titel gewonnen; Leeds war im selben Jahr aus der Premier League abgestiegen, drei weitere Jahre später folgte der Absturz in die League One. Leeds, dieser stolze Klub in der Drittklassigkeit?
2001 hatte eine talentierte Mannschaft um Rio Ferdinand, Harry Kewell und Mark Viduka noch das Champions-League-Halbfinale erreicht, 1992 war Leeds Meister und in den 1960er und 1970er Jahren unter Trainer-Legende Don Revie Titelsammler und englandweit anerkannter Angstgegner. Oder besser: "Dirty Leeds". Übertriebene Härte, gezielte Provokationen von Gegenspielern, Manipulationsvorwürfe. Alles war dabei, was keiner mag.
Unter Bielsa ist von diesem dreckigen Image nichts übrig. 2019 erhielt Leeds sogar den von der FIFA jährlich vergebenen Fair-Play-Award. Bielsas Mannschaft hatte am vorletzten Spieltag gegen den Aufstiegsrivalen Aston Villa ein Tor erzielt, während ein Gegenspieler angeschlagen am Boden lag. Daraufhin orderte Bielsa seine Mannschaft an, ohne Gegenwehr ein Tor zu kassieren.
Leeds verpasste letztlich einen direkten Aufstiegsplatz und scheiterte dann im Playoff-Halbfinale an Frank Lampards Derby County. Was nun?
Müll aufklauben und ein Bett im Büro
Bielsa überlegte und letztlich entschloss er sich, zu bleiben und einen zweiten Aufstiegs-Versuch zu wagen. In Leeds löste diese Entscheidung große Erleichterung aus, Bielsa ist bei den Fans äußerst beliebt. Wegen der attraktiven und letztlich auch erfolgreichen Spielweise der Mannschaft und auch wegen seiner nahbar bis schrulligen Art. Bielsa kauft gerne im Leeds-Trainingsanzug im Supermarkt ein und geht den rund 45 Minuten langen Weg von seiner Wohnung zum Trainingsgelände mit Rucksack und Kopfhörern am liebsten zu Fuß.
Einmal ließ er seine Spieler rund um das Trainingsgelände drei Stunden lang Müll aufklauben, um ihnen zu demonstrieren wie lange ein durchschnittlicher Fan arbeiten muss, um sich das Ticket für ein Spiel leisten zu können. Einen kleinen Eigennutzen hatte die Aktion jedoch auch: So ist es immerhin sauber vor seinem zweiten Wohnzimmer. Bald nach Ankunft ließ sich Bielsa in sein Büro am Trainingsgelände schließlich eine Küche und ein Bett einbauen, um nach langen Arbeitstagen vor Ort übernachten zu können.
Leeds United: Transferplus von knapp 30 Millionen Euro
Von dort plante er im vergangenen Sommer den zweiten Anlauf und kam dabei zum Schluss, dass die höchsten Erfolgschancen mit der mehr oder weniger identischen Mannschaft bestünden. Statt aufzurüsten, gab Leeds im vergangenen Sommer keinen einzigen Cent für Neuzugänge aus - und nahm gleichzeitig rund 30 Millionen Euro ein.
Mit Abwehrchef Pontus Jansson (zum FC Brentford) und Stürmer Kemar Roofe (zum RSC Anderlecht) verließen zwei wichtige Stützen den Klub, ersetzt wurden sie durch den erst 22-jährigen Ben White (per Leihe von Brighton & Hove Albion) und Helder Costa (per Leihe von den Wolverhampton Wanderers).
In der zweiten Saison unter Bielsa setzte die perfekt eingespielte Mannschaft dessen Philosophie noch besser um. Bielsaball in Reinform, wie etwa neulich vor dem Tor zum zwischenzeitlichen 4:0 gegen Stoke City. Huddersfield-Town-Trainer Danny Cowley sagte nach der Niederlage seiner Mannschaft gegen Leeds einige Wochen zuvor exemplarisch: "Wenn man schon ausgecoacht wird, dann wird man doch am liebsten von einem Genie ausgecoacht."
Rechtsstreit mit Leipzig und ein gescheiterter Wolfsburger
Absoluter Schlüsselspieler in Bielsas System ist der einst beim VfL Wolfsburg gescheiterte Mateusz Klich. Bis zum irrelevanten vergangenen Spiel gegen Derby County kam er bei jedem Ligaspiel unter Bielsa zum Einsatz. "Es ist wie im Militär", sagte Klich neulich über die Arbeit mit Bielsa. "Taktik, Taktik, Taktik. Und Fitness."
Klich besetzt im 4-2-3-1- oder 4-1-4-1-System stets eine der zentralen Positionen, er ist Bielsas General auf dem Platz. Vor ihm lauern die Scharfschützen: der 26-jährige Stürmer Patrick Bamford (16 Saisontore) sowie der 33-jährige offensive Mittelfeldspieler Pablo Hernandez (9).
Im Winter kam von RB Leipzig mit Jean-Kevin Augustin noch ein berühmter Stürmer per Leihe. Wegen Verletzungsproblemen und Anpassungsschwierigkeiten an Bielsas forderndes Training reichte es für ihn aber nur zu drei Einwechslungen. Aktuell befinden sich die beiden Klubs in einem Rechtsstreit, ob eine vertraglich vereinbarte Kaufpflicht in Höhe von 21 Millionen Euro durch den Aufstieg wirksam ist oder nicht.
Ganz sicher noch keinen Vertrag für die kommende Saison hat unterdessen Bielsa selbst. Alles andere als eine Verlängerung wäre jedoch eine Sensation - wobei Bielsa in seiner kompletten Karriere im Klub-Fußball noch keinen einzigen Klub länger als zwei Saisons betreut hat und seine Unberechenbarkeit berüchtigt ist. Bei seiner vorletzten Station Lazio Rom kündigte er bekanntlich nach nur zwei Tagen.