Es gibt viele Dinge im Leben, auf die man verzichten kann, um ein Spiel von Aston Villa zu sehen. Man lässt vielleicht einen schönen Ausflug ins Grüne sausen, ein Date mit dem Flirt, den Kaffee und Kuchen zum Geburtstag des Opas oder Spiel 7 der NBA-Conference-Semifinals zwischen den Boston Celtics und Milwaukee Bucks.
Okay, Letzteres geht vielleicht ein wenig zu weit, vor allem, wenn man Mitbesitzer eines dieser mächtigen NBA-Franchises ist. Aber für Wes Edens war selbst das entscheidende Spiel seiner Bucks, für deren Anteile er mehrere Hundert Millionen Dollar investierte, kein Grund, um nach Hause in die USA zu reisen. Stattdessen saß er im Villa-Park, um sich den Knüller Aston Villa - Crystal Palace anzusehen.
Vielleicht hat ihn der Titelgewinn von Giannis und Co. im letzten Jahr schon gesättigt und er findet sein neueres Investment nun spannender, auch wenn das beim ersten Hinsehen nicht ganz nachvollziehbar ist: Platz 14 in der soeben abgelaufenen Premier-League-Saison haut den Milliardär sicher nicht von seinem gemütlichen Hocker. Aber Edens gehört zu den Leuten in Birmingham, die gerade spüren, dass etwas Größeres entsteht.
Mit diesem Vorhaben waren er und der andere Eigentümer Nassel Sawiri eigentlich 2018 gestartet, doch es war mehr Hütte als Villa, was sie da sahen. In einer Liga voller Investoren, die große Pläne haben, braucht man schon (eine) gute Idee(n), um das Geld sinnvoll einzusetzen.
Aston Villa: Steven Gerrard übernahm Klub im Abstiegskampf
So richtig schlüssig war die Idee des Klubs zuletzt nicht. Es hieß zunächst, dass man jüngere Spieler holen werde, damit sie mit dem Klub gemeinsam wachsen. Hier und da passierte das auch, aber man holte auch für 32 Millionen Euro Leon Bailey oder für fast 40 Millionen Euro Emiliano Buendia vom Dauerletzten Norwich City. Die sind mit 24 und 25 nicht alt, aber auch nicht wirklich "jung" im eigentlichen Sinne.
Zu Beginn der vergangenen Saison rutschte Aston Villa trotz Sommer-Investitionen von 100 Millionen Euro in den Keller. Im November hatte der Klub fünf Spiele verloren und noch gar nicht gegen Manchester City, FC Liverpool und Co. gespielt. Vielleicht trafen die Chefs in dieser Phase die beste Idee und holten Steven Gerrard von den Rangers aus Glasgow.
Aus dem schottischen Rekordmeister machte er aus einem ohnmächtigen Zweiten, der die Jahre in der unteren Klassen teuer bezahlte und den Anschluss zu Celtic verlor, einen Titelkandidaten und schließlich zum Meister. Tradition, Anspruch, Zuspruch, Möglichkeiten - Villa und die Rangers haben viele Gemeinsamkeiten und vielleicht war das für beide Seiten der ausschlaggebende Grund, warum man den Deal einging.
Dass am Ende der Saison Platz 14 rausgesprungen ist, findet man im Umfeld des Klubs ganz okay. Nicht abgestiegen, besser gekickt als unter Gerrard-Vorgänger Dean Smith, dazu zaubert Coutinho jetzt in den Farben des Klubs.
Aston Villa: Steven Gerrard ist unzufrieden mit der Mentalität
Aber Gerrard nervt die Zufriedenheit mit dem Mittelmaß. Bei seiner Unterschrift sagte der Engländer, dass er "All in" gegangen sei, was seine Tätigkeit angeht. "Das Maximale erreichen", war sein Schlachtruf. Entsprechend ist das Ergebnis nach seiner ersten Saison aus eigener Perspektive nicht ausreichend.
"Es ist schwierig, wenn man mitten in der Saison eine Gruppe von Spielern übernimmt, die an einen anderen Stil gewöhnt sind", sagt Gerrard: "Man muss sofort in der besten Liga der Welt antreten, im besten Wettbewerb und mit den größten Herausforderungen. Das ist sehr anstrengend und herausfordernd, aber wir haben es wirklich gut gemeistert. Wir sind in der Premier League geblieben und haben den 14. Platz belegt, was nicht akzeptabel ist und womit wir überhaupt nicht zufrieden sind."
Auch bitter: Villa hat keinem der fünf Top-Teams der Liga auch nur einen Punkt abnehmen können, aber gegen Manchester City, FC Liverpool, FC Chelsea, Tottenham Hotspur und gegen den FC Arsenal gab es genügend Gelegenheiten, dies zu tun. Aber was sind Gelegenheiten, wenn man auch Tatsachen haben kann?
Doch bevor die geschaffen wurden, hat Gerrard den Klub gemeinsam mit seinen Chefs einer Generaluntersuchung unterzogen. "Wir haben die letzten sechs Monate genutzt, um den gesamten Kader sowie den gesamten Mitarbeiterstab zu analysieren. Wir haben versucht, einen Stil und eine Identität einzuführen. Es gab eine Menge positiver Aspekte. Es gab aber auch einige Ungereimtheiten und es gibt noch viele Bereiche, an denen wir arbeiten müssen, um sie so zu gestalten, wie wir es wollen."
Aston Villa: Erster Transfer ein Tag nach Saisonende
Ein Ergebnis der Analyse: Der Kader ist zu gemütlich. Zufrieden, wenn man das Minimale erreicht, weil es keine lästigen Konsequenzen wie Abstieg nach sich zieht. Aber diese Denke ist bei Aston Villa Geschichte. Die Worte Gerrards im Folgenden wirken wie der Ausruf einer Revolution: "Ich möchte, dass die Spieler besessen sind, zu gewinnen. Ich will Gewinner in der Umkleidekabine. Ich will keine Spieler, die sich damit zufriedengeben, 14. in der Liga zu werden und früh aus dem Pokal zu fliegen. Das muss uns wehtun! Wir werden versuchen, hier eine Kultur zu schaffen, bei der es nicht akzeptabel ist, inkonsequent zu sein." Was heißt eigentlich Mia san Mia auf Englisch?
Damit auch ja keine Zweifel aufkommen, dass man es ernst meint, hat Villa längst angefangen, den Kader zu verstärken. Nur ein Tag nach Ende der Saison stellte der Klub Boubacar Kamara von Olympique Marseille vor. Den ablösefreien Mittelfeldspieler wollte halb Europa, aber Kamara entschied sich nach mehreren Gesprächen mit Gerrard für Aston Villa.
Die Karte Gerrard spielt der Klub bewusst aus. Stevie G. ist jeder Altersklasse ein Vorbild für viele Fußballer. Ein Gespräch mit ihm ist für viele Kicker immer noch eine aufregende Sache. Dass Gerrard nach Marseille nicht nur seine Scouts schickte, sondern auch selbst vor Ort war, um den 22-Jährigen zu beobachten, hinterließ einen bleibenden Eindruck beim Spieler. Gerrard soll im direkten Gespräch Kamara im Detail aufgezeigt haben, welche seiner Stärken wie an das Villa-Spiel angepasst werden sollen. Kamara gefiel diese Gründlichkeit.
Das gilt auch für Diego Carlos, der für rund 30 Millionen Euro vom FC Sevilla kommt. Er und sein Partner Jules Kounde bildeten seit 2019 ein überragendes Duo in der Innenverteidiger der Spanier, sorgten mit dafür, dass Sevilla wiederholt in der Champions League landete. Beide ziehen viele Interessenten an, bei Kounde scheint der FC Chelsea in bester Position zu sein. Diego Carlos wurde auch mit vielen Top-Klubs in Verbindung gebracht, doch auch er hat sich vom Charme des Steven Gerrard und dessen Erzählungen beeindrucken lassen.
Aston Villa: Die Gerrardisierung begann im Winter
Aston Villa setzt allein mit diesen beiden Spielern schon ein Statement, wie es weitergehen soll. Gerrard spricht selbst auf den offiziellen Klub-Kanälen sehr forsch und nachhaltig von einer großen Transferoffensive: "Wir wollen die jetzige Phase nutzen, um sehr gut einzukaufen und dann mit der gesamten Mannschaft in die Vorbereitung gehen. Wir hoffen, dass die Mannschaft am Ende der Vorbereitung mehr wie ein Steven-Gerrard-Aston-Villa-Team aussieht und dass wir besser und stärker in die neue Saison gehen können."
Der Prozess der Gerrardisierung bei Aston Villa begann schon im Winter, als neben dem bereits erwähnten Coutinho auch Lucas Digne, Calum Chambers und Robin Olsen geholt wurde. Allesamt gestandene Spieler mit der gewissen Erfahrung. Mindestens genauso erfahren sollen die weiteren Neuzugänge sein.
Dabei scheint Ex-Gerrard-Kollege Luis Suarez genauso ein Thema zu sein wie auch Kalvin Phillips von Leeds United. Gerrard sagt: "Wir wollen, dass die Fans optimistisch sind, wir wollen, dass sie begeistert sind, und wir werden versuchen, Transfers zu tätigen, die sie noch mehr begeistern werden." Damit verlässt Gerrard allerdings auch die Komfortzone. So forsche Töne sind eigentlich nicht sein Terrain, sowohl als Spieler als auch als Trainer gilt er bisher als demütiger Zeitgenosse.
Doch bei Aston Villa hat er es eilig. Nicht, weil es ihn wegzieht, sondern weil er im Villa-Park eine Mannschaft sehen will, für die es sich lohnt, ab und zu auch mal auf Giannis Antetokounmpo zu verzichten.