Würde man Manchester United derzeit in einem großen Lexikon für Fußballklubs suchen, würde man vermutlich in der Kategorie "schlafende Riesen" fündig. Der englische Rekordmeister könnte im Sommer 2023 ein unliebsames Jubiläum erleben: Zehn Jahre ohne englische Meisterschaft. Seit der Gründung der Premier League im Jahr 1992 ein Novum.
13 Titel haben die Red Devils seitdem geholt, 2013 den letzten. Es war zugleich das Ende der großen Ära von Sir Alex Ferguson. Ryan Giggs, Louis van Gaal, Jose Mourinho, Ole Gunnar Solskjaer, Ralf Rangnick - große Namen versuchten sich daran, den Riesen aufzuwecken. Sie alle scheiterten. Nun aber erhofft sich United einen Aufbruch in eine neue Ära. Erik ten Hag soll das Zahnrad sein, das das Uhrwerk am Old Trafford wieder zum Laufen bringt.
Der 52-Jährige kommt mit großen Vorschusslorbeeren auf die Insel. Was er zwischen 2017 und 2022 mit Ajax geleistet hat, fand im internationalen Fußball große Anerkennung. Der Niederländer gilt als großer Stratege.
"Bei ten Hag war man nach jedem Training im Kopf kaputt, in den Beinen weniger", erinnert sich Rico Strieder im Gespräch mit SPOX und GOAL: "Wir sind uns vorgekommen wie Figuren auf einem Schachbrett. Für uns war das komplett neu, komplett verrückt."
Manchester United: Aufbruch mit Erik ten Hag?
Strieder arbeitete zwischen 2013 und 2015 bei der Zweitvertretung des FC Bayern München mit dem heutigen United-Coach zusammen. Was sich zunächst wie die übliche Guardiola-Kritik liest, dass manche Trainer dazu neigen würden, das Spiel zu zerdenken, meint der 30-Jährige aber positiv: "Wir haben recht schnell gemerkt, dass wir dadurch sowohl als Mannschaft als auch individuell besser werden."
Manchester Uniteds Problem war in den letzten Jahren wohl kaum die individuelle Qualität. An teuren Stars und großen Namen mangelte es selten, an einer echten Mannschaft dagegen umso mehr. Den Red Devils fehlte eine klare Linie. Auf dem Platz führte der Individualismus dazu, dass sich keine Handschrift der jeweiligen Trainer erkennen ließ. Auch aus der Transferpolitik des Klubs ist kaum abzulesen, welche Art von Fußball gespielt werden soll.
"Ich denke, dass er eine klare Linie hat, die er mit dem Team verfolgen will", sagte Bruno Fernandes jüngst im Gespräch mit Sky Sports: "Ich möchte dieser Linie folgen, weil ich glaube, dass wir auf diese Weise erfolgreich sein können." Doch wie sieht diese aus - und kann ten Hag seine Ideen mit diesem Kader überhaupt umsetzen?
Erik ten Hag: Manchester United will "proaktiven Fußball spielen"
"Wir wollen einen proaktiven Fußball spielen - mit dem Ball und ohne", sagte der Niederländer in einem Vorstellungsinterview mit den Klubmedien. In der Zeit nach Sir Alex Ferguson befand sich United lange auf der Suche nach sich selbst. Insbesondere in den vergangenen Jahren wirkte das Team oft lethargisch und ideenlos.
In den bisherigen sechs Testspielen war klar zu sehen, dass ten Hag diese Muster aufbrechen möchte. Nach einer starken ersten Halbzeit gegen Aston Villa und einer 2:0-Führung verlor das Team im zweiten Durchgang komplett die Kontrolle. Erstmals soll der Trainer auch in der Kabine etwas lauter geworden sein. Als "inakzeptabel" beschrieb er das 2:2, das sich wie eine Niederlage anfühlte. Gleichzeitig war er zufrieden, dass es in einem Testspiel passiert war.
Die Ergebnisse sind ohnehin zweitrangig. Sowohl das 4:0 gegen den FC Liverpool als auch die 0:1-Niederlage gegen Atletico Madrid lassen sich nicht durch Zahlen bewerten. Grundsätzlich lässt sich aber schon jetzt erkennen, wohin die Reise in der kommenden Saison gehen kann - wenn alles passt. Es spricht für die Qualität des gesamten Trainerteams, das gewisse Grundprinzipien schon jetzt sehr deutlich werden.
Das betrifft vor allem das engmaschige Positionsspiel. Im Spielaufbau wirken die Red Devils schon jetzt sicherer als noch in den letzten Jahren. Die Abstände zu den Mitspielern sind nicht nur kürzer, sondern die Räume im Mittelfeld sind auch besser besetzt. Gerade durch das aktive Freilaufverhalten der Spieler ohne Ball zeichnet sich der proaktivere Ansatz ten Hags aus.
Manchester United: Vermeintliche Flops profitieren von ten Hag
Profitieren könnten davon einige Stars, die bisher auf ihren großen Durchbruch gewartet haben oder denen es nicht gelang, sich ins Team zu integrieren. Raphael Varane beispielsweise, dem es im Spielaufbau Sicherheit geben dürfte, wenn das Mittelfeld sich aktiver anbietet.
Der verbesserte Spielaufbau führt aber auch dazu, dass einstige Sorgenkinder aus der Offensive in der Vorbereitung auf sich aufmerksam machen konnten. Jadon Sancho (22), Marcus Rashford (24) und Anthony Martial (26) verzückten die United-Fans mit starken Dribblings, viel Dynamik, Tempo und einigen sehenswerten Toren.
In den letzten Jahren hing offensiv zu viel von Bruno Fernandes ab. United schaffte es aus dem Ballbesitz heraus nicht, Tempo in seine Aktionen zu bekommen und auch nach offensiven Umschaltmomenten wirkten die Laufwege oft intuitiv und wenig durchdacht. In der Vorbereitung war aber plötzlich Zug im Offensivspiel.
Durch die höhere Bewegungsrate im Zentrum öffneten sich zwischen den Linien Räume, die Spieler wie Fernandes, Rashford oder auch Martial für sich nutzen konnten. Ein besonderer taktischer Kniff tat zudem Ex-BVB-Star Sancho sehr gut: Rechtsverteidiger Diogo Dalot suchte häufig den Weg ins Zentrum und öffnete mit seinen Läufen mehrfach den Passweg auf Sancho, der seine Qualitäten durch den Raumgewinn besser einbringen konnte. Insgesamt wirkt das Team jetzt schon deutlich besser abgestimmt, wenngleich der Weg nach den letzten Jahren noch lang ist.
Erik ten Hag will Manchester United auf allen Ebenen verbessern
Es sind kleine Details, die ten Hag anpasst. Aber es sind eben auch die ganz großen Probleme, die er angehen will. Da geht es um die Grundeinstellung zum Spiel. Darum, den Takt selbst vorgeben zu wollen. Proaktivität auf allen Ebenen. Allerdings drohen dem neuen Trainer auch einige Probleme.
So gut die Vorbereitung war, so schwierig wird es sein, die Dynamik in der Offensive mit Cristiano Ronaldo aufrecht zu erhalten. Der mehrfache Weltfußballer könnte für die Red Devils zum Sorgenkind werden. Sein Anspruch ist riesig - an sich selbst, aber auch an den Klub. Entweder strukturiert sich alles um ihn herum, oder es gibt Ärger.
"Der König spielt am Sonntag", kündigte der 37-Jährige zuletzt sein Comeback gegen Rayo Vallecano an. Und genauso verhält er sich aktuell auch: Wie ein König, um den sich alles dreht. Schon in der vergangenen Saison war das ein Problem. In 38 Pflichtspielen kam er auf 27 Torbeteiligungen - alles andere als ein schlechter Wert. Im Pressing beteiligt er sich aber kaum, in der Offensive entfacht er nicht mehr die Dominanz von früher.
Ronaldo ist deshalb kein Spieler mehr, der es wert wäre, das ganze System auf ihn auszulegen und ihm dabei die Freiheiten zu geben, sich aus entscheidenden Prozessen herauszunehmen. Die Nachteile sind mittlerweile größer als die Vorteile dieser Herangehensweise. Er rechtfertigt diese Privilegien mit seinen Leistungen nicht mehr ausreichend. Und wenn es ten Hag nicht gelingt, ihn zum Umdenken zu bringen oder er sich nicht klar positioniert, droht ihm ein ähnliches Schicksal wie anderen Trainern zuvor.
Manchester United: "König" Ronaldo wird zum Problem
Dieses erste Testspiel mit CR7 gab einen ersten Eindruck davon. Eine Halbzeit lang agierte Ronaldo behäbig, beteiligte sich kaum am Kombinationsspiel oder am Pressing. Vieles von dem, was den Fans zuvor Hoffnung auf die Saison machte, verpuffte. Plötzlich waren da wieder diese Lethargie und Statik im Spiel zu beobachten. In der Halbzeit wurde der Superstar ausgewechselt, zehn Minuten vor Abpfiff verließ er das Old Trafford bereits.
Es scheint nicht so, als wäre der König bereit, seine eigenen Interessen in den Hintergrund zu rücken und sich in den Dienst des Klubs zu stellen. Vielleicht wäre ein Abgang deshalb das Beste für alle Seiten - vielleicht will ihn bisher aber auch genau deshalb niemand verpflichten. Eine Offensive, in der das Zusammenspiel auf Augenhöhe stattfindet und in der die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt wird, scheint der bestmögliche Weg für die Red Devils zu sein.
Ten Hag wird mit Manchester United nur dann erfolgreich sein, wenn es ihm gelingt, ein Team zu formen, das seinen Ideen vertraut und das bereit ist, dafür auch durch Täler zu gehen. Bleibt Ronaldo, wird das eine große Herausforderung.
Das unliebsame Jubiläum wird ten Hag wohl auch im Erfolgsfall nicht verhindern können. Dafür sind Manchester City und auch der FC Liverpool im Normalfall zu stark. Aber erstmals seit längerer Zeit ist am Old Trafford wieder so etwas wie Aufbruchstimmung zu spüren. Diesmal ist sie vielleicht sogar begründet - wenn alle dazu bereit sind, die notwendige Geduld aufzubringen.