Die Frage nach Sinn und Wesen des Fußballs an Weihnachten stellt sich aus Sicht der Briten nicht, genau so wenig wie die Frage nach Tee um 17 Uhr, der Queen oder getrennten Wasserhähnen. Wenn man als Kontinentaleuropäer am 26. Dezember leicht fröstelnd in einem englischen Stadion sitzt, fällt einem so unweigerlich dieser uralte Witz ein.
Ein Geisterfahrer hört im Verkehrsfunk die "Warnung vor einem Geisterfahrer" und wundert sich: "Ein Geisterfahrer? Nein, tausende!" Für die Briten, die Nation der Linksfahrer, ist tatsächlich die Winterpause auf dem Kontinent das eigentliche Mysterium.
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Was machen die Europäer nur zwischen den Jahren, wundert man sich auf der Insel. Fußball gilt hier offiziell als Wintersport und deswegen wird selbstverständlich auch an Weihnachten, dem ursprünglichen Fest der Sonnenwende, gespielt.
Fruchtbarkeitsrituale und Naturreligionen
Die Praxis erinnert an die vorchristlichen, heidnischen Ursprünge des Sports, der laut dem Historiker Derek Hammond in engem Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsritualen und "alten Naturreligionen" stand. "Es ging um die Sonne und die Erde, und ums Töten und um Sex", wird Hammond in David Winners Buch "Those Feet" zitiert.
Die Kirche brachte neue Feiertage mit sich, doch die Daten blieben oft die selben. Im Mittelalter trugen so ganze Dörfer während christlichen Festen feucht-fröhliche Wettkämpfe aus, in denen (zumindest vordergründig) ein Ball oder gerne auch Tier- oder Wikingerköpfe bewegt werden mussten.
"Am Weihnachtstag traf sich in South Cardiganshire die ganze Bevölkerung, arm und reich, Männer und Frauen, und stürzte sich mit so viel Gewalt in ein Fußball-Spiel, dass es beinahe eine ernsthafte Schlacht wurde", schrieb der Chronist Sir Laurence Gomme 1887 in seinem Buch "The Village Community".
Kein Sport, sondern mörderische Praxis
Diesen regellosen folk football muss man sich als organisierte Massenkeilerei vorstellen. "Wir haben es hier nicht mit freundschaftlichem Sport oder Freizeit zu tun, sondern mit einer blutigen, mörderischen Praxis", notierte 1578 der Puritaner Philip Stubbs entrüstet, "jeder wartet doch nur darauf, seinen Feind umzustoßen, oder ihn auf die Nase fallen zu lassen.... Auf diese Weise werden Halswirbel gebrochen, manchmal Rücken, manchmal Beine, manchmal Arme, manchmal spritzt aus den Nasen das Blut, manchmal verliert einer ein Auge, manchmal tut es dort weh, manchmal wo anders."
Der Historiker Sir Thomas Elyot sah das ähnlich: "Fußball ist nicht mehr als tierische Wut und extreme Gewalt", schrieb er 1531. Wer gut 500 Jahre später das internationale Hochglanzprodukt namens Premier League sieht, wird feststellen, dass sich im Grunde nicht viel geändert hat.
Mit Faustkämpfen hat der "Boxing Day" allerdings nicht zu tun. Nach dem ersten Weihnachtstag wurden auf der Insel traditionell Fresspakete an Arme und Bedienstete verteilt, es sind jene "boxes" (Schachteln), die dem Tag seinen Namen geben. Um den Fans während den Feiertagen unnötige Reisestrapazen zu ersparen, werden am 26. Dezember nach Möglichkeit Nachbarschaftsduelle angesetzt.
Häufige Derbys am Boxing Day
Der Spielpaarungscomputer erweist, ohne es zu wissen, auf diese Weise auch der folk-football-Historie seine Referenz. "Wenn man seine Lokalrivalen schlägt, fällt die Bescherung noch schöner aus", sagt der Trainer des Viertligisten Bradford City, Peter Taylor.
Das berühmteste Weihnachtsspiel in der englischen Fußballgeschichte fand natürlich gegen den Erzfeind statt. Am 25. Dezember 1915 kam es in der Nähe des französischen Dorfes Laventie zwischen britischen und deutschen Truppen zu einem spontanen Match im Niemandsland.
Bertie Falstead, ein Mitglied der Royal Welch Fusiliers, erinnerte sich kurz vor seinem Tod im Juli 2001 an das Ereignis: "Am Abend zuvor hatte man Lieder gesungen, dann kam man aus den Gräben. Irgendwo kam dann ein Fußball her, ich weiß nicht woher. Es kam kein echtes Spiel zustande, es war nur ein Gebolze, denn auf jeder Seite spielten um die 50 Leute mit. Niemand zählte die Tore mit".
Das Freundschaftsspiel war nach etwa 30 Minuten vorbei, als ein britischer Offizier seine Soldaten zurück in die Gräben beorderte. "Ihr seid da, um die Hunnen zu töten, nicht, um euch mit ihnen anzufreunden", sagte der Mann laut Falstead.
66 Tore an einem Spieltag
Sportlich gesehen gilt der der 19. Spieltag heute als Runde der verrückten Ergebnisse und zahlreichen Treffer. Am 26. Dezember 1963 fielen in der ersten Liga gar 66 Tore, ein bis heute unerreichter Spitzenwert. Dem Boxing Day wird auch eine besondere Bedeutung angemessen, weil er das Ende der Hinrunde markiert.
Inoffizielle "Weihnachtsmeister" kennt man auf der Insel zwar nicht; in statistischer Hinsicht gibt es auch nur einen schwachen Zusammenhang zwischen Tabellenführung am Boxing Day und dem Gewinn der Meisterschaft. Aber wer die Feiertage als Tabellenletzter begeht, steigt in der Regel auch ab. Seit Einführung der Premier League hat nur West Brom in der Saison 2004/2005 "The Curse of Christmas" (der Weihnachtsfluch) überlebt.
Gerade für die etwas kleineren Profivereine ist der Boxing Day eine wichtige Einnahmequelle, weil traditionell ganze Familien zu den Spielen kommen und die Stadien voll werden. Echte Schlager wie Liverpool gegen Everton werden seit dem Boom der Premier League in den Neunziger Jahren jedoch nicht mehr angesetzt, denn das wäre aus wirtschaftlicher Sicht eine Verschwendung: diese Spitzenspiele sind ja sowieso ausverkauft.
Taylor: "Vielen Besuchern brummt der Schädel"
"Die Spiele sind für viele eine gute Gelegenheit, nach all dem Essen und Trinken endlich aus dem Haus zu kommen", sagt Taylor. Die Atmosphäre in den Arenen ist deshalb eine Spur ruhiger als sonst; vielen Besuchern brummt noch der Schädel, und mit gestopften Truthahn im Magen kommt man schwerer von den Sitzen hoch.
Immerhin ruht das Leder heutzutage am 25. Dezember, das war vor fünfzig Jahren noch anders. Bis 1959 spielten die Teams sowohl am ersten als auch am zweiten Feiertag in Hin-und Rückspiel gegeneinander, dazwischen saß man sogar noch gemeinsam im selben Zug.
Soviel zeitliche und räumliche Nähe wäre heute selbst für den englischen Fußball ein Ding der Unmöglichkeit; allein schon, weil die privatisierte Eisenbahn - unabhängig von Schnee und Eis - nie und nimmer eine pünktliche Ankunft vor dem Anpfiff garantieren könnte.
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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.