Luiz Gustavo bedient auf der rechten Außenbahn den freistehenden Florian Thauvin. Der zieht direkt in Richtung Strafraum und flankt den Ball perfekt an den Fünfmeterraum zu Mittelstürmer Valere Germain. 2:0 für Marseille, zweiter Assist des Abends für Thauvin. "Droit au But", wie es im Vereinslogo von Olympique Marseille heißt. "Geradewegs aufs Tor" - ein Motto, dass auch Thauvins Spielweise beschreibt.
Am Ende feierte OM einen 3:0-Heimsieg gegen St. Etienne und schraubte seine Serie von ungeschlagenen Ligaspielen auf zwölf. Thauvin war in dieser Phase an 13 Treffern der Südfranzosen beteiligt und hat großen Anteil daran, dass der Klub seit Wochen punktgleich mit Monaco und Lyon um die Champions-League-Plätze hinter Paris kämpft.
Doch Thauvin ist kein Riesentalent a la Kylian Mbappe oder Ousmane Dembele, das noch vor seinem 21. Geburtstag Ablösesummen jenseits der 100-Millionen-Euro-Marke geknackt hat.
Vielmehr ist Thauvin in Marseille bereits Rückkehrer. 2013 zahlte OM zwölf Millionen Euro an den OSC Lille, Thauvin spielte zwei ordentliche Jahre an der Cote d'Azur und versuchte anschließend sein Glück in England. 2015 wechselte er für 18 Millionen Euro zu Newcastle United. Bei den Magpies kam der junge Offensivspieler allerdings überhaupt nicht zurecht und wurde nach sechs Monaten zurück an Marseille verliehen. Nach 18 Monaten als Leihspieler zog Olympique in diesem Sommer die Kaufoption über elf Millionen Euro.
Kein Platz bei Didier Deschamps?
Die offensiven Möglichkeiten von Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps an dieser Stelle alle aufzuzählen, würde in eine Liste ausarten, in der es Thauvin gerade so und nur aufgrund seiner aktuellen Topform sowie verletzter Stars unter die Top-10 schaffen würde. Um im Sommer 2018 in Russland dabei zu sein, muss Thauvin wohl den Großteil der Saison auf Spieler-des-Monats-Niveau durchhalten.
In der Equipe Tricolore debütierte Thauvin erst in diesem Jahr und lief in zwei Einsätzen, jeweils unter zehn Minuten, in Testspielen gegen Paraguay und Wales auf. Doch Deschamps hält viel vom talentierten Außenstürmer: "Er ist ein Spieler mit besonderen Qualitäten. Er kann den Unterschied ausmachen, sowohl mit Vorlagen als auch selbst als Torschütze. Seine Entwicklung verlief nicht geradlinig, aber in diesem Jahr zeigt er konstant starke Leistungen."
Thauvin: Das unverstandene Talent
Auf der Suche nach Gründen, warum Thauvin mit 24 Jahren erst zwei Länderspiele bestritten hat und noch nie in einem Punktspiel für Frankreich zum Einsatz kam, trifft man nicht sofort auf die Namen Mbappe oder Dembele, an denen er nicht vorbeikommen würde. Die waren bei der EM 2016 genauso wenig im Kader wie Thauvin, der damals immerhin schon 23 war.
Es kommen viele Faktoren zusammen, wenn man erklären will, warum Thauvin nicht schon früher sein ganzes Talent auf den Platz bringen konnte. Der Wechsel nach Newcastle war ein Fehler, in Marseille hätte er schon früher zum Stammspieler reifen können. Außerdem waren beide Klubs in den letzten Jahren internen Unruhen ausgesetzt. Der sportliche Erfolg blieb aus - und Thauvin war nie Teil einer intakten, funktionierenden Mannschaft, die ihn als Spieler vorangebracht hätte.
"Er hat jetzt eine Position gefunden, auf der er seine Stärken ausspielen kann", ergänzte Deschamps bei Thauvins Nominierung. In der Tat kam er 2017 so gut wie immer rechts außen zum Einsatz. In den Jahren zuvor musste er oft auf links spielen oder als Zehner auflaufen, was ihm überhaupt nicht schmeckte.
Aber auch sein Charakter stand Thauvin schon das eine oder andere Mal im Weg. Läuft es nicht glänzend, nennt man ihn gerne "unverstanden". 2013 wurde ihm bereits unprofessionelles Verhalten vorgeworfen, als er seinen Wechsel von Lille nach Marseille erstreikt hatte. 2015 legte sich Thauvin öffentlich mit seinem Trainer Marcelo Bielsa und Mitspieler Dimitri Payet an.
Thauvin will mehr Geld - und soll beim FC Bayern auf dem Zettel stehen
2017 macht Thauvin Schlagzeilen als Vorbereiter, Torschütze, Spieler des Spiels und des Monats. Wer in Frankreich derzeit von Neymar spricht, der muss auch von Thauvin sprechen. An mehr Treffern als die beiden war nur Edinson Cavani (19) beteiligt.
Aber dann kommt sie doch noch, die Schlagzeile zum Jahresende, die wieder an Thauvins Einstellung zweifeln lässt. Obwohl er erst im Sommer einen Vertrag bis 2021 in Marseille unterschrieben hat, fordert er jetzt bereits eine Gehaltserhöhung. Französischen Medienberichten zufolge will er künftig so viel verdienen wie Payet.
Laut L'Equipe hat sich Thauvin außerdem ins Blickfeld des FC Bayern München und Atletico Madrid gespielt, wo er als Nachfolger von Arjen Robben beziehungsweise Antoine Griezmann gehandelt wird. Er könnte Olympique Marseille also wieder ganz schnell verlassen.
Ob es im nächsten Sommer zu einem Transfer kommen wird, bleibt Spekulation. Sicher ist: Thauvin bringt das Potenzial mit, in einer großen Mannschaft zu einem großen Spieler zu reifen. Dazu muss er aber professioneller werden und darf nicht in die Leistungsschwankungen der Vorjahre verfallen. Sein Spielstil lässt sich jedenfalls gut mit dem von Robben und Griezmann vergleichen. Eben "Droit au But".