Über Schalke 04 und den VfL Wolfsburg landete Julian Draxler bei Paris Saint-Germain. Im ersten Teil des ausführlichen Interviews mit SPOX und DAZN spricht der 26-Jährige über seinen Weg zum Profifußballer, sein enttäuschendes erstes Mal im Schalke-Trikot und den Druck seines Vaters.
Außerdem: Warum er nicht in der Lage war, Zweikämpfe gegen einen 17-Jährigen von Borussia Dortmund zu gewinnen, bei welcher Begegnung ihm die Spucke wegblieb, wann er am liebsten den Kameramann umarmt hätte und warum er sich allein fühlte.
Der zweite Teil des Interviews mit SPOX und DAZN erscheint am Dienstag. Dort spricht Draxler über seinen Abschied von Schalke, seine Fehler sowie seine Zeit in Wolfsburg und bei PSG.
Julian, wie haben Sie Ihre Liebe zum Fußball entdeckt?
Julian Draxler: Es gibt wohl nur wenige Familien, die so fußballverrückt sind wie meine. Es ist egal, ob wir über meine Cousine, meine Tante oder meine Mama sprechen: Meistens gibt es nur ein Thema - und das ist Fußball. Für die Jungs, sprich meinen Vater oder meinen Bruder, gilt das sowieso. Wenn man in so einer Familie aufwächst, führt kein Weg am Fußball vorbei.
Wie kann man sich das im Alltag vorstellen?
Draxler: Auf Familienfeiern oder Geburtstagen dreht sich meistens schon die erste Frage um Fußball. Da wird über die Lage auf Schalke, den Trainer, das Management oder die Spieler gesprochen. Natürlich geht es oft auch um mein fußballerisches Leben - aber genauso um das meines Bruders. Patrick spielt beim BV Rentfort, da wird bei uns kein Unterschied gemacht zwischen den Vereinen und Ligen.
Ihr Vater ist Schalke-Fan und hat Sie schon früh mit ins Stadion genommen. Wie erinnern Sie sich daran?
Draxler: Es war ein Spiel gegen den VfB Stuttgart im Parkstadion. Ich kann mich zwar nicht mehr ans Ergebnis erinnern, aber umso besser an meine ersten Eindrücke. Es hat in Strömen geregnet, es gab ganz alte Sitzbänke und keine Überdachung. Seit diesem Tag bin ich mit dem Mythos Schalke infiziert.
Sie sind in Gladbeck geboren, Ihr Elternhaus ist nur 15 Autominuten von der Arena entfernt. Was für eine Bedeutung hat Schalke in dieser Region?
Draxler: Man spricht bei uns im Ruhrgebiet gerne von einer Religion. Wenn man in die Arena fährt, hängen überall auf dem Weg dorthin Schalke-Fahnen in den Gärten. Es ist egal, ob der Verein gerade auf Platz 16 oder auf den Champions-League-Rängen steht: Die Liebe zum Klub ist immer da.
DAZNJulian Draxler: "Das sind doch keine Schalke-Trikots"
Wie sehen Ihre ersten Erinnerungen ans Fußballspielen aus?
Draxler: Ich habe viel mit meinem Vater und meinem Bruder gespielt, meistens bei uns im Garten. Patrick ist vier Jahre älter ist als ich, insofern war ich in unseren Duellen oft der Verlierer.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie talentierter sind als Ihr Bruder?
Draxler: Ich hatte irgendwann den Vorteil, dass ich bei Schalke trainieren durfte und somit eine professionelle Ausbildung genossen habe. Patrick war auch talentiert, für ihn war Fußball aber eher ein Hobby, während ich bei Schalke die Jugendmannschaften durchlaufen habe. Im Alter von 15 oder 16 Jahren hat man den Unterschied wahrscheinlich gemerkt.
Sie sind mit acht Jahren zu Schalke gewechselt. Wie kam das zustande?
Draxler: Genau wie mein Bruder habe ich früher beim BV Rentfort gespielt. Als Patrick zum SSV Buer gewechselt ist, bin ich praktisch mit ihm dorthin gewechselt, damit mein Papa nicht doppelt und dreifach fahren muss. Nach einem halben Jahr bei Buer lag eines Tages eine schriftliche Einladung zum Probetraining bei Schalke im Briefkasten. Die ganze Familie war nervös, ich natürlich am meisten. Ich habe nur einmal mittrainiert, dann haben die Schalker Verantwortlichen gesagt, dass sie mich gerne haben möchten. Ich war natürlich stolz wie Oskar. Mein Papa war sich zunächst aber gar nicht sicher, ob wir zusagen sollen, weil die Fahrerei schon mit viel Aufwand verbunden ist, wenn dein Kind drei-, viermal pro Woche auf Schalke trainiert. Meine Eltern waren beide berufstätig, von daher war das nicht so einfach. Mein Bruder hatte früher auch mal die Chance, bei Schalke zu spielen. Damals hat mein Papa aber gesagt, es sei für Patrick zu früh und für ihn zu viel Aufwand. Bei mir hat er den umgekehrten Weg gewählt und mich trotz meines jungen Alters angemeldet.
Wie war es, als Sie zum ersten Mal das Schalke-Trikot trugen?
Draxler: Ganz ehrlich? Ein bisschen enttäuschend. Ich dachte: Okay, jetzt spiele ich bei Schalke, jetzt kann ich das Trikot der Großen anziehen. Dann hat der Trainer vor meinem ersten Spiel die Trikots verteilt und ich dachte nur: Das sind doch keine Schalke-Trikots. (lacht) Es waren leider nicht dieselben wie die der Profis.
Haben Sie Druck gespürt, unbedingt Profi werden zu müssen?
Draxler: Anfangs nicht. Mit acht, neun Jahren macht man sich solche Gedanken nicht. Drei, vier Jahre später war es aber mein klares Ziel, Profi zu werden. Ich habe natürlich schnell gemerkt, dass ich damit nicht allein war.
Wie viel Druck kam von Ihrem Vater?
Draxler: Eine ganze Menge. Er hat zwar nie gesagt, ich müsse es unbedingt schaffen, er hat mich aber sehr stark in diese Richtung geschubst. Wenn wir am Samstag verloren oder ich schlecht gespielt hatte, war das Wochenende für die gesamte Familie gelaufen, weil mein Papa einen Riesenhals hatte. Da war er schon richtig sauer und sehr, sehr kritisch. Manchmal habe ich meine Leistung gar nicht als so schlecht empfunden. Er hat mir dann klargemacht, dass das nicht reicht. Mein Papa war definitiv fordernd. Im Nachhinein bin ich ihm dafür unglaublich dankbar, weil ich so einen Ehrgeiz entwickelt habe, den ich sonst vielleicht nicht gehabt hätte.
Julian Draxler: "Eigentlich war ich das Gegenteil eines Malochers"
Wie würden Sie den jungen Julian Draxler als Fußballer beschreiben?
Draxler: Eigentlich war ich das Gegenteil eines Malochers. Wenn man es böse formulieren möchte: ein Schönwetterfußballer. Gute Technik, gute Übersicht, gutes Dribbling. Aber keiner, der den 50-Meter-Sprint nach hinten gemacht hat, um einen Ball zu gewinnen. Natürlich gehört die Defensivarbeit heutzutage zum Profifußball dazu, ich habe sie mir auch angeeignet. In der Jugend war das aber anders. Wenn Sie meine früheren Trainer fragen, werden alle dasselbe sagen: 'Julian hatte außergewöhnliche Fähigkeiten, Verteidigen mochte er aber gar nicht.' Auch zu Beginn meiner Profikarriere wollte ich jede Situation spielerisch lösen, sodass mir das Körperliche und Kämpferische abgegangen ist. Das war für die Schalker, die Fans und das Umfeld nur schwer zu akzeptieren. Ich wusste um die Bedeutung dieser Attribute, sie lagen aber nicht in meinem Naturell.
Hatten Sie aufgrund Ihrer Defizite im Spiel gegen den Ball auch schwierige Zeiten in der Jugend?
Draxler: Einmal ist es mir zum Verhängnis geworden. Als ich 15 oder 16 Jahre alt war, wurde die U16 aufgelöst. Es gab also nur noch die U17 und ich war körperlich total im Nachteil. Dann kam mein damaliger U17-Trainer auf die Idee, mich auf der Sechs spielen zu lassen, um mir die Bedeutung der Defensivarbeit einzubläuen. Er wollte mit allen Mitteln erreichen, dass ich es lerne. Heute weiß ich, dass er mich nur voranbringen wollte, damals habe ich das aber nicht verstanden und auch nicht akzeptiert. Ich war im Kopf einfach noch nicht so weit und hatte riesige Probleme in meinem ersten U17-Jahr. Ich war schlicht nicht in der Lage, in einem körperbetonten Spiel Zweikämpfe gegen einen 17-Jährigen von Borussia Dortmund zu gewinnen. Das war eine Phase, in der ich nicht gut gespielt und zum ersten Mal gemerkt habe, dass die anderen auch richtig gut sind. Mit dieser Erkenntnis, dass es plötzlich für mich nicht mehr steil nach oben ging, hatte ich zunächst meine Probleme.
Wie ging es dann weiter?
Draxler: Ich saß zwischenzeitlich ein paar Wochen auf der Bank. Da können Sie sich ja vorstellen, wie ich mich gefühlt habe und wie die Gemütslage bei uns zu Hause war. Mit der Zeit habe ich dann mehr und mehr versucht, so gut wie möglich zu verteidigen. Mein Trainer hat das wahrgenommen und mich irgendwann wieder offensiver, meistens auf der Zehnerposition, spielen lassen. Da habe ich mich deutlich wohler gefühlt. Im Nachhinein war es ein ganz wichtiger Prozess in meiner Entwicklung.
Haben Sie damals über einen Vereinswechsel nachgedacht?
Draxler: Nein, gar nicht. Meine Situation hat sich ja recht schnell wieder entspannt. Wenn ich ein, zwei Jahre auf der Bank gesessen hätte und nicht weitergekommen wäre, hätte ich vielleicht darüber nachgedacht. Aber mein Ziel war es, für Schalke in der Bundesliga zu spielen. Vom Trainingsgelände aus konnte man immer die Arena sehen - und da wollte ich unbedingt rein.
Es heißt, der BVB sei damals an Ihnen interessiert gewesen.
Draxler: Zu Westfalenauswahlzeiten ist irgendwann mal durchgesickert, dass ich auf Schalke ein paar Probleme habe. Borussia Dortmund hatte damals einen sehr erfolgsbesessenen Trainer, der immer die besten Spieler aus der Region holen wollte. In der Westfalenauswahl spielte damals zum Beispiel Thomas Eisfeld vom BVB, der jetzt beim VfL Bochum unter Vertrag steht. Die Jungs haben dann teilweise im Auftrag ihrer Trainer bei mir nachgefragt, ob ich mir einen Wechsel vorstellen könne. Für mich war das aber kein Thema.
Wie wichtig war U19-Trainer Norbert Elgert für Ihre Entwicklung?
Draxler: Ich war nicht mal ein Jahr bei ihm, weil Felix Magath mich schon Anfang 2011 zu den Profis hochgezogen hat - und trotzdem könnte ich so viele Geschichten über ihn erzählen, das ist Wahnsinn. Wenn ich darüber nachdenke, wie sehr er mich geprägt, was er für Werte vermittelt hat, kenne ich im Fußball niemand Vergleichbaren. Bei ihm geht es nicht nur um Fußball. Von ihm nimmt man auch andere Dinge mit. Zum Beispiel, wie man sich zwischenmenschlich zu verhalten hat, wie eine Gesellschaft funktionieren sollte - solche Sachen. Norbert Elgert ist ein Riesen-Vorbild. Natürlich ist er auch sportlich eine Koryphäe, insbesondere taktisch. Bei mir ist aber mehr hängengeblieben, wie er als Mensch ist.
Erinnern Sie sich an ein konkretes Erlebnis, in dem er Ihnen etwas fürs Leben mitgegeben hat?
Draxler: Es sind Kleinigkeiten. Als junger Fußballer ist man egoistisch, will seinen Weg gehen und seine persönlichen Ziele erreichen. Norbert Elgert wollte zwar, dass man hin und wieder seine Ellenbogen einsetzt, bei ihm stand aber immer der Teamgedanke im Vordergrund. Ich kann mich an eine ganz passende Geschichte erinnern.
Erzählen Sie.
Draxler: Nach einer Weihnachtsfeier waren wir kurz bei ihm zu Hause in Schermbeck. Im Eingangsbereich hingen überall Bilder und zunächst habe ich mir gar nichts dabei gedacht. Letztlich hatte jedes einzelne Bild eine wichtige Bedeutung. Zum Beispiel hing da eines, auf dem ganz viele Zugvögel abgebildet waren, die auf ihrem Weg in den Süden sind. Im ersten Moment fragt man sich, warum er sich diese Vögel an die Wand hängt. Dann kommt er dazu und fragt: 'Wie viele Vögel siehst Du da?' Keine Ahnung. 500? Oder 1000? Das kann man ja schwer einschätzen. Dann fragt er: 'Was meinst Du, wie viele von denen alleine im Süden ankommen würden?' Auf sich allein gestellt? Wahrscheinlich keiner. 'Richtig, alleine wäre der Vogel bei der ersten Sturmböe weg, aber zusammen schaffen es die Vögel in den Süden.' Da sieht man einfach, wie dieser Mensch tickt, welche Gedanken er sich macht.
Gab es für Sie einen prägenden Moment, in dem Sie gemerkt haben, dass Sie es zum Profi schaffen können?
Draxler: Das Schlüsselerlebnis war für mich ein U15-Turnier in Spanien. Da waren zig namhafte Mannschaften dabei: Real Madrid, der FC Barcelona, Paris Saint-Germain und der FC Arsenal zum Beispiel. Bei diesem Turnier wurde ich Torschützenkönig und als bester Spieler ausgezeichnet. Ich war 14 oder 15 Jahre alt. Danach habe ich mir gedacht: Da waren jetzt alle Top-Klubs dabei und ich konnte mithalten. Dann brauche ich mich vor niemandem verstecken. Jetzt geht es nur noch in eine Richtung.
Julian Draxler: "Hallo, ich bin Julian. Ich soll heute hier trainieren"
Mit 16 trainierten Sie zum ersten Mal mit den Profis. Wie aufgeregt waren Sie?
Draxler: Extrem. Es ging aber weniger ums Fußballspielen. Es ging darum, wie der erste Weg in die Kabine abläuft, wie man die Spieler begrüßt. Ein, zwei Jahre zuvor stand ich ja noch neben dem Trainingsplatz und habe mir die Einheiten angeschaut.
Wie lief es dann ab?
Draxler: Ich habe im Vorfeld mit meinem Papa im Auto gesprochen. Ich konnte ja nicht in die Kabine gehen und Jermaine Jones mit Herrn Jones ansprechen. Solche Sachen hatte ich wirklich im Kopf. Letztlich habe ich dann einfach nur gesagt: 'Hallo, ich bin Julian. Ich soll heute hier trainieren.' Ich habe mich nur vorgestellt und es vermieden, die Spieler direkt anzusprechen, weil ich nicht wusste, ob ich sie siezen oder duzen soll. Als Raul, der gerade frisch nach Schalke gekommen war, plötzlich vor mir Stand, ist mir dann die Spucke weggeblieben. Ich wollte auf Englisch sagen: 'Hello, I am Julian.' Da kam aber nur Genuschel raus. Ich habe ihm kurz die Hand gegeben, bin schnell weitergangen, habe mich hingesetzt und die Klappe gehalten.
Warum hat Raul Sie so sehr fasziniert?
Draxler: Ich mochte ihn schon immer. Wenn ich Real Madrid früher in der Champions League gesehen habe, stand er auf dem Platz, irgendwann sogar als Kapitän der Galaktischen. Und plötzlich steht derselbe Mensch in der Kabine neben dir, da musst du dich schon kneifen. Du fragst dich im ersten Moment, wie es Felix Magath wohl geschafft hat, dass Raul jetzt für Schalke spielt. Und im nächsten Moment fragst du dich, wie du es eigentlich geschafft hast, gerade mit ihm in einer Kabine zu sein.
Haben Sie Raul irgendwann mal angesprochen?
Draxler: Das habe ich mich damals nicht getraut. Ich habe aber irgendwann gemerkt, dass er sehr früh begriffen hat, dass ich ein großes Talent bin. Ich habe ja auch relativ früh in der Bundesliga gespielt. Raul spielte damals meistens auf der Zehnerposition und ich auf der linken Außenbahn. Er wusste, dass er mich auf den richtigen Weg bringen muss, damit ich ihm Vorlagen gebe und das Zusammenspiel passt. Ich habe alles von ihm aufgesaugt und in erster Linie versucht, mein Spiel so zu verändern, dass er mit mir zufrieden ist. Wenn er gesagt hätte, ich sei noch nicht so weit, hätte ich vermutlich keine Rolle mehr gespielt. Ich habe ihn im Nachgang von Trainingseinheiten oder Spielen gefragt, welchen Laufweg ich machen soll, wenn er den Ball hat, welches Zuspiel er haben möchte, wenn ich den Ball habe. Er hat dann gemerkt, dass ich von ihm lernen wollte. Heutzutage gibt es viele 17-, 18- oder 19-Jährige, die denken: Ich mache das schon irgendwie. Bei mir war es genau andersherum. Daraus ist dann irgendwann eine Freundschaft entstanden.
Haben Sie noch Kontakt?
Draxler: Ja. Es ist zwar nicht so, dass wir jede Woche miteinander telefonieren. An unseren Geburtstagen oder an denen seiner Frau schreiben wir aber miteinander oder sehen uns sogar. Ich bin sehr stolz, dass ich Raul meinen Freund nennen darf.
gettyJulian Draxler: "Meinen ersten Schluck Alkohol habe ich getrunken, nachdem wir das Pokalfinale gewonnen hatten"
Als Sie bei Schalke debütierten, waren Sie noch Schüler. Felix Magath hat Ihnen empfohlen, die Schule abzubrechen, Sie haben es nicht gemacht. Wie lief die Entscheidungsfindung?
Draxler: Es war extrem schwierig für mich. Wichtig ist: Felix Magath hat mich zu keiner Zeit dazu gedrängt oder gar gezwungen, die Schule abzubrechen. Er hat aber gesagt, dass er bei mir das Potenzial sieht, regelmäßig zu spielen und dass es schwierig werden könnte, drei Wettbewerbe mit Schalke und die Schule unter einen Hut zu kriegen. Er hat mich zu dieser Zeit gerade auf dem Weg in die erste Elf gesehen und mir daher empfohlen, die Schule zu unterbrechen. Ich war hungrig, hatte Lust aufs Fußballspielen und wollte die Schule dann tatsächlich unterbrechen. Das ging aber nicht.
Warum nicht?
Draxler: Weil ich das Schuljahr schon angefangen hatte. Erst hat sich das Familienministerium eingeschaltet, dann das Schulministerium und später ging es bis in die Politik. Letztlich habe ich es irgendwie geschafft, auf Schalke zu spielen und auf der Gesamtschule Berger-Feld mein Fachabitur zu machen. Das war eine ziemlich turbulente Zeit. Meine Eltern wurden teilweise so dargestellt, als wären sie nicht verantwortungsvoll. Da ist schon viel auf mich und meine Familie eingeprasselt. Man muss sich das mal vorstellen: Man arbeitet jahrelang auf etwas hin, dann ist man kurz davor, Fuß zu fassen, und soll sagen: Ich kann morgen früh nicht trainieren, weil ich zur Schule muss. Ganz ehrlich: Ich hatte nur Fußball im Kopf und wollte mich nicht mit Kunstunterricht befassen. Für Außenstehende ist es vielleicht sehr schwer zu verstehen und ich würde grundsätzlich auch jedem empfehlen, die Schule abzuschließen und einen guten Abschluss zu machen, aber in meinem speziellen Fall war das schon grotesk. Felix Magath sagt dir, dass du nah dran bist, du spielst an der Seite von Raul vor 60.000 Fans und musst am nächsten Morgen in die Schule. Das war schon ein bisschen verkehrte Welt.
Können Sie der Zeit heute etwas Positives abgewinnen?
Draxler: Definitiv. Heute bin ich unheimlich froh, dass ich die Schule durchgezogen habe und nach meiner Karriere keine Abendschule besuchen muss.
Ein normales Teenagerleben haben Sie damals sicher nicht geführt.
Draxler: Nein, gar nicht. Ich habe mir immer gesagt, dass ich nie auf eine Party gehen werde, bis ich mein erstes Profispiel gemacht habe. Und das war tatsächlich so. Meinen ersten Schluck Alkohol habe ich getrunken, nachdem wir das Pokalfinale gewonnen hatten. Danach bin ich auch erstmals feiern gegangen. Vorher gab es für mich nur Schule, Training, Schule, Training, Schule, Training. Ich hatte natürlich meine Jungs, aber unser Weg ist irgendwann auseinandergegangen. Die anderen haben irgendwann Dinge ausprobiert, sind feiern gegangen, während ich dafür keine Zeit hatte, weil ich durch den Fußball auch an den Wochenenden unterwegs war und nebenbei die Schule machen musste. Irgendwann habe ich natürlich auch angefangen, mal abends rauszugehen, aber das kam bei mir sehr, sehr spät.
Haben Sie das Gefühl, etwas verpasst zu haben?
Draxler: Ich weiß, dass ich etwas verpasst habe. Eventuell sogar die Zeit, die andere als die coolste und spannendste Zeit ihres Lebens beschreiben würden. Aber ich bereue es nicht und würde mich tausendmal mehr ärgern, wenn ich das große Ziel Profifußballer verpasst hätte.
Am 15. Januar 2011 haben Sie Ihr Bundesliga-Debüt gefeiert. Inwiefern hatte sich das zuvor angedeutet?
Draxler: Ich wurde damals ins Trainingslager nach Belek eingeladen. Dort hatte ich dann ungefähr zehn Tage, um die Verantwortlichen von meiner Tauglichkeit für die erste Mannschaft zu überzeugen. Ab und zu habe ich dann in der A-Elf neben Raul trainiert, auch die Testspiele liefen ganz gut. Da habe ich schon geahnt, dass Felix Magath mit mir etwas ausprobieren möchte. Sicher sein konnte ich mir aber nicht. Er war kein Trainer, der dich in den Arm genommen und dir erzählt hat, was er mit dir vorhat.
Also war er wirklich der harte Hund?
Draxler: Das kann man schon so sagen, sein Verhältnis zur Mannschaft war distanziert. Hin und wieder gab er dir einen kleinen Wink, dass er gerade zufrieden ist, aber das war die absolute Ausnahme. Du hängst bei ihm tendenziell eher in der Luft, musst stabil in der Birne sein und dein Ding machen.
Wie ging es nach dem Trainingslager weiter?
Draxler: Wir sind aus Belek direkt ins Mannschaftshotel gefahren, weil das Spiel gegen Hamburg anstand. Ein, zwei Tage zuvor saß ich abends in meinem Hotelzimmer und habe mir Gedanken gemacht, ob ich wohl im 18er-Kader stehen könnte. Ich habe mir Zettel und Stift geschnappt und alles aufgeschrieben: Maximal sechs Spieler für die Verteidigung, vier für die Startelf, zwei für die Bank. Dasselbe Spiel fürs Mittelfeld und den Sturm. Ich habe geschaut, wer verletzt und wer gesperrt ist. So habe ich alle möglichen Varianten durchgespielt. Ehrlich gesagt war ich danach aber auch nicht schlauer.
Und dann?
Draxler: Ich war ja erst 17 und weiß noch, dass meine Eltern damals nach der Landung in Düsseldorf gefragt haben, ob sie mit mir rechnen können. Nur wusste ich in dem Moment selbst nicht, ob ich ins Teamhotel nach Duisburg oder nach Hause fahre. Nachdem wir ausgestiegen waren, kam der damalige Co-Trainer Seppo Eichkorn zu mir und sagte: 'Du steigst in den Bus.' Erst als ich gesehen habe, dass Raul und andere Stammspieler ebenfalls eingestiegen sind, war mir klar, dass ich wohl im Kader stehe. Als wir im Hotel waren, habe ich gleich meinen Papa angerufen: 'Hey, ich bin im Mannschaftshotel. Ich stehe im Kader.' Etwas später habe ich dann gemerkt: Moment mal, wir sind mit 20 Spielern im Hotel, im Kader stehen aber nur 18. Dann fing alles vorne an und ich saß wieder mit Zettel und Stift auf meinem Zimmer.
Julian Draxler: "Danach war in meinem Leben nichts mehr wie zuvor"
Wann hatten Sie Klarheit?
Draxler: Wir haben am nächsten Morgen nochmal trainiert. Anschließend kam Felix Magath zu mir und sagte: 'Es kann sein, dass du heute reinkommst. Sei vorbereitet.' Ich war total aufgeregt, das Aufwärmen auf dem Platz ist ja schon geil. Du siehst erstmals hautnah die ganzen Abläufe rund um ein Bundesligaspiel. Das Spiel selbst lief dann katastrophal. Da hat sich Felix Magath wahrscheinlich gedacht: Schlechter kann es der Julian auch nicht machen - und dann bin ich eben nach 83 Minuten für Ivan Rakitic eingewechselt worden. Obwohl wir 0:1 verloren haben, war das auf jeden Fall einer der schönsten Tage meines Lebens. Da platzt du einfach vor Stolz.
Und es wurde noch besser:Nur zehn Tage später wurden Sie im Viertelfinalspiel des DFB-Pokals gegen den 1. FC Nürnberg nach 116 Minuten für Peer Kluge eingewechselt - und erzielten in der 119. Minute den Siegtreffer.
Draxler: Das war Hollywood. Drei Tage zuvor hatte ich in Hannover mein Startelfdebüt gegeben. Das war eigentlich kein besonderes Spiel, ich habe auch nicht besonders gut gespielt, aber es war schon verdammt cool, weil wir 1:0 gewonnen haben und es mein erster Sieg mit Schalke war. Und dann eben Nürnberg. Danach war in meinem Leben nichts mehr wie zuvor.
Welche Erinnerungen haben Sie an die Momente nach dem Spiel?
Draxler: Daran habe ich tausende Erinnerungen. So ein Erlebnis wirst du nie vergessen. Wenn ich mir heute das Interview angucke, das ich nach dem Spiel gegeben habe, erkenne ich mich kaum wieder. In dem Moment wusste ich gar nicht, wohin mit mir und habe versucht, irgendwie einen auf professionell zu machen. Aber ich war 17, am liebsten hätte ich den Kameramann umarmt. Am nächsten Tag sollte ich zur Schule, da habe ich gesagt: 'Ich geh' doch nicht zur Schule.' Es waren tausend Sachen auf einmal. Das Tor hat alles verändert.
Sie sind in Ihrer ersten Saison DFB-Pokalsieger geworden, haben im Halbfinale der Champions League gegen Manchester United gespielt. Wie kann ein Siebzehnjähriger das verarbeiten?
Draxler: Natürlich ist das schwierig. Ich glaube zwar, dass mir das relativ gut gelungen ist, aber nur, weil ich meine Familie hatte. Mir wurde immer wieder gesagt: Bleib ruhig, entspann dich, dreh nicht durch, arbeite weiter, das ist nur der Anfang. Wenn du all das erlebst mit 17, wenn du den Pokal gewinnst und im Finale ein Tor machst, wenn du gegen Inter Mailand 5:2 im San Siro gewinnst und im Halbfinale im Old Trafford spielst, denkst du dir natürlich schon: Okay, Fußball läuft. Dass du dich dann auch mal für den Größten hältst, ein, zwei Prozent weniger gibst und meinst, es würde schon alles von selbst laufen, ist ganz normal. Trotzdem würde ich sagen, dass ich den ganzen Trubel ganz gut verarbeitet habe. Ich bin zumindest nicht völlig größenwahnsinnig geworden.
Wie sieht eine Phase konkret aus, in der man sich für den Größten hält?
Draxler: Es gab bei mir ein halbes Jahr, in dem ich ein bisschen weniger trainiert und auch mal gesagt habe: Es ist ja nur Training. Das war zuvor für mich jahrelang undenkbar. Wenn du ein halbes Jahr nachdem du deinen ersten Profivertrag unterschrieben hast, einen neuen Vertrag unterschreibst, durch den du plötzlich das Zehnfache verdienst, ist das nicht leicht zu verarbeiten. Du glaubst, es wäre ein Selbstläufer. Du wirst nachlässig. Und sobald du im Training ein, zwei Prozent weniger gibst, fängst du auch an, im Spiel deine Gegenspieler zu unterschätzen. Die wiederum wissen jetzt, was du kannst, und passen besser auf dich auf. Ein, zwei gute Spiele zu machen und ein nettes Tor zu schießen, ist das eine. Es ist aber viel schwieriger, sich auf dem Niveau zu halten. Fußballspielen können in der Bundesliga alle. Das ist nicht mehr wie in der B- oder A-Jugend. Im bezahlten Fußball fressen sie dich mit Haut und Haaren auf, wenn du nicht voll da bist. Das habe ich relativ schnell begriffen - und deswegen bin ich aus der Schwächephase wieder herausgekommen.
DAZNJulian Draxler: "Früher konnte ich Raul um Rat fragen"
Nachdem Raul den Verein verlassen und Jefferson Farfan sich verletzt hatte, war Julian Draxler plötzlich der Mann, der alles machen sollte.
Draxler: So ungefähr. Wenn du mit Raul, Huntelaar und Farfan auf dem Platz stehst, müssen sich die meisten Gegner auf diese Jungs konzentrieren. Du hast dann auf der linken Seite deine Freiräume, keiner erwartet etwas von dir. Du hast zwei, drei gute Aktionen und jeder sagt: Der Junge ist talentiert, der kann was. Das reicht dir im ersten Moment. Wenn du aber deinen Vertrag verlängerst und die Leute wissen, dass du mehr Geld verdienst und die Zukunft von Schalke 04 sein sollst, steigen die Erwartungen. Das bist du nicht gewohnt. Früher konnte ich Raul um Rat fragen, mit ihm darüber reden, wie man mit gewissen Dingen umzugehen oder sich in gewissen Situationen zu verhalten hat. Aber auf einmal war keiner mehr da. Ich war alleine. Anfangs habe ich gedacht, ich bräuchte niemanden und wüsste, wie es funktioniert. Aber mit 19 weißt du gar nichts. Wenn du das erste Mal in so eine Situation kommst, bist du überfordert. Das war bei mir der Fall.
Wie hat sich das konkret geäußert?
Draxler: Solange du gut spielst und Tore machst, läuft alles von selbst. Wenn aber zum ersten Mal ein verlorenes Spiel an dir persönlich festgemacht wird, bist du plötzlich einem ganz anderen Druck ausgesetzt. Du nimmst deine Umgebung anders wahr, schaust ständig nach links und rechts. Auch im Privatleben. Hinzu kam damals meine persönliche Situation.
Inwiefern?
Draxler: Ich war zuhause ausgezogen, lebte mit meinem Bruder zusammen und sah meine Eltern nicht mehr so oft wie früher. Bei gewissen Dingen oder kleinen Problemen hatte ich mit 19 nicht die Reife, um so etwas schnell zu klären oder aus der Welt zu schaffen. Es gab zum Beispiel Situationen, in denen meine Mama gesagt hat, sie würde mich kaum noch sehen. Ich wollte in dem Moment aber lieber ausgehen oder ein bisschen in Düsseldorf feiern. Eben Dinge machen, die ganz normal sind für einen 19-Jährigen. Da war ich einfach noch nicht so weit, um solche Situationen sofort mit einem klärenden Gespräch wieder in Reih und Glied zu bringen. Stattdessen läufst du gegen eine Wand. Nachdem du gegen die Wand gelaufen bist, wachst du irgendwann auf und weißt wieder, worauf es wirklich ankommt. Diese Erfahrung möchte ich nicht missen.
War es für Sie besonders schwierig, mit der Erwartungshaltung umzugehen, weil Schalke Ihr Herzensverein ist?
Draxler: Natürlich. Schalke war für mich kein Arbeitgeber wie jeder andere. Es waren viele Augen auf mich gerichtet. Wenn wir verloren haben, musste ich mir nicht nur von den Fans anhören, dass ich scheiße bin, sondern auch von meinen Nachbarn, meiner Familie und den Freunden meiner Familie. Ich war zum Beispiel auf dem Geburtstag meines Onkels. Da saß dann jemand, der immer in der Nordkurve steht und mir plötzlich - auf gut Deutsch gesagt - erzählte, was für ein Arschloch ich doch bin. Das ist eben Ruhrpottsprache. Da nimmt man kein Blatt vor den Mund. Den Menschen ist in dem Moment egal, ob du erst 19 Jahre alt bist und noch in der Entwicklungsphase steckst. Gleichzeitig haben die Menschen ein sehr gutes Gespür dafür, ob du gerade auf dem Platz wirklich zu hundert Prozent da bist oder ob du Flausen im Kopf hast. Anfangs nimmst du als Teenager eher eine Abwehrhaltung ein und denkst dir: Was willst du mir eigentlich erzählen? Ich weiß schon, wie der Hase läuft. Aber im Nachhinein merkst du, dass die Leute meistens recht hatten.