Am 8. Juli 2014 ist das Estadio Mineirao in Belo Horizonte Schauplatz des WM-Halbfinals zwischen Deutschland und Gastgeber Brasilien. In der 23. Spielminute schiebt Thomas Müller den Ball im Strafraum herüber zu Miro Klose, der trotz seiner 15 WM-Treffer von den brasilianischen Verteidigern sträflich allein gelassen wird. Der erste Versuch scheitert an Torhüter Julio Cesar, doch der Nachschuss sitzt. Deutschland führt 2:0, Brasilien ist am Boden, der Rest bekannt.
Wenig später stemmt Philipp Lahm den Pokal im Nachthimmel von Rio de Janeiro in die Höhe. Deutschland ist Weltmeister, Klose geht mit 16 Toren als bester WM-Torjäger aller Zeiten in die Geschichtsbücher ein. Und gewinnt nach 13 langen Jahren im DFB-Dress endlich die ersehnte Trophäe.
"Nach der WM-Endspiel-Niederlage 2002 dachte ich auch, diese einmalige Chance ist vorbei: Wie soll ich jemals wieder ein WM-Finale erreichen?", verrät er im März 2015 dem kicker. Als sich ihm im Spätherbst seiner Karriere schließlich doch noch die zweite Chance bietet, ergreift er sie am Schopf. Es die die Krönung seiner Laufbahn.
Stotterstart in Rom
Doch die WM kostet Kraft. Zu viel Kraft für einen 36-Jährigen, der sich als Alleinunterhalter zwischen den Abwehrreihen aufreiben muss. Während seine mehr als zehn Jahre jüngeren Weltmeister-Kollegen wie Müller, Mario Götze oder Toni Kroos den turbulenten Sommer wegstecken und in ihren Klubs von Anfang an da sind, muss der Altmeister dem Turnier und der brasilianischen Hitze Tribut zollen.
Klose zieht die falschen Schlüsse, hört nicht auf seinen Körper. Angetrieben vom eigenen Ehrgeiz versucht er seine Fitness zu erzwingen. "Ich habe zu viel gemacht, in jedem Training noch mehr Läufe und Sprints, und mich so kaputt gearbeitet", gesteht er ein. Daraus resultiert schlussendlich ein verkorkster Saisonstart mit Lazio - und der ungeliebte Platz auf der Bank. In den ersten 14 Saisonspielen kommt er zwar immer zum Einsatz, davon jedoch gleich neun Mal nur als Teilzeitkraft.
"Niedergang eines Stars"
Zu wenig, selbst für einen Teamplayer wie Klose. "Ich habe bislang nur wenige Spielminuten bekommen und kann nicht sagen, dass ich zufrieden bin", beklagt er sich dann auch im Dezember in der Welt am Sonntag. Doch der Tiefpunkt der Saison sollte erst Folgen: Das "Derby della Capitale" gegen die Roma am 11. Januar.
Als Joker wieder nur eine knappe halbe Stunde im Einsatz, vergibt Klose die mögliche Siegchance gegen einen stark reagierenden Roma-Keeper Morgan de Sanctis. Dass Lazio ohne ihn eine 2:0-Führung verspielt: geschenkt. Für die Gazetten ist sein Blackout ein gefundenes Fressen. Der Corriere della Sera etwa spricht genüsslich vom "Niedergang eines Stars. Die Jahre vergehen nicht für alle gleich". Vor zwei Jahren hätte er "das Tor noch niedergerissen". "Klose ist kaum gefährlich", moniert auch der Corriere Dello Sport. Die Saison für den Weltmeister scheint als Fehlschlag abgestempelt, nicht mehr als das Auslaufen eines großen Namens.
Vom Sündenbock zum Torgaranten
Doch einmal mehr kämpft sich Klose zurück. Er findet seine Fitness, seine Form, seinen Torriecher - und wird bei Lazio erneut unersetzlich. Nach dem Derby wird er nur noch zweimal eingewechselt, 15 Mal dagegen steht er in der Startelf. Neun seiner bislang zwölf Saisontore erzielt er in dieser Zeit, kein Teamkollege ist erfolgreicher. Dass er dabei "nur" auf insgesamt 1730 Spielminuten kommt, sei ihm angesichts seines Alters verziehen: Die Luft reicht eben nicht mehr für volle 90 Minuten. Meistens ist um die 70. Spielminute herum Schluss.
Ein Teilzeitjob ist es jedoch noch lange nicht. Lazio verdankt es seinen Toren, dass man zwei Spieltage vor Schluss auf Champions-League-Kurs ist. Im direkten Duell gegen Roma am 25. Mai (ab 18 Uhr im LIVE-TICKER) soll dem Stadtrivalen Platz zwei, die Vizemeisterschaft und damit die direkte Qualifikation für die Königsklasse noch entrissen werden. Das Saisonziel "Internationales Geschäft" wäre übertroffen.
Titelchance Coppa Italia
Und dann ist da noch der Pokal. Die Coppa Italia ist die einzige Titelchance für einen Verein, der nicht Juventus Turin heißt. Schließlich ist die Meisterschaft ist für die "Alte Dame" auf Dauer reserviert, und international reicht es für die Konkurrenz aktuell nicht für den ganz großen Coup. In der Coppa könnte Klose mit den Biancocelesti aber zuschlagen. Es wäre sein zweiter Titel in Italien: 2013 konnte das stadtinterne Pokalfinale gegen die Roma bereits gewonnen werden.
Damals stand "Il Panzer" von Anfang an auf dem Platz und gehörte zu den agilsten und gefährlichsten Akteuren. Dank seiner Erfahrung weiß auch diesmal kaum einer bei Lazio besser, wie man ein Finale gewinnt. Und so will er dem vorzeitigen Meister und Champions-League-Finalisten auch am Mittwochabend das mögliche Triple streitig machen. "Es ist ein Finale, im Fußball ist alles möglich" - wenn ein Klose so etwas sagt, spricht er aus Erfahrung.
Dass der launische italienische Blätterwald an Stimmungsschwankungen nicht spart, ist bekannt. Kein Wunder also, dass die Lobeshymnen auf den Angreifer wieder erklingen. "Klose trifft und überrascht weiter. Er ist das Juwel einer Mannschaft, die sich immer wieder erneuert. Stimmt es wirklich, dass Klose bald 37 wird?", fragt die Gazzetta dello Sport. "Klose ist der Beste auf dem Spielfeld. Lazio mit einem Vier-Sterne-Sturm", feierte auch der Corriere dello Sport nach Kloses zehnten Saisontreffer gegen Empoli. Übrigens nur drei Monate nach der Schelte aus dem Roma-Derby.
Letzte Titelchance?
Und so wird der Strafraumfuchs auch im Pokalfinale aller Voraussicht nach in der Startelf stehen. Ob es seine letzte Titelchance mit Lazio wird, bleibt ihm überlassen: Sein Vertrag verlängerte sich dank einer Einsatzklausel automatisch bis zum Sommer 2016. Bleibt er also? "Es wird eine spontane Entscheidung, die ich mit meiner Familie treffe, wie immer. Es stehen viele Dinge im Raum: Ob und wo wir weitermachen", hält er sich im kicker bedeckt. Schwer vorstellbar jedoch, dass er sich die Champions League nach vier Jahren Abstinenz entgehen lässt.
Wie es für Lazios Methusalem auch weitergeht: Der nimmermüde Dauerläufer hat auch in dieser Saison wieder gezeigt, dass er noch nicht zu den ganz alten Eisen zählt. Mit einem Sieg in der Coppa hätte eine starke Spielzeit ihren gebührenden Abschluss gefunden - den Leistungsschwankungen in der Hinrunde zum Trotz.
Das Tor gegen Brasilien hat ihm seinen Platz in der Weltgeschichte des Fußballs ohnehin dauerhaft gesichert.
Der Endspurt in der Serie A