Die italienische Hymne "Frattelli d'Italia" gehört wahrscheinlich zu den eingängigsten Melodien in der Welt des Fußballs. Der Einstieg, der an einen Marsch erinnert, der melodische, fast schon melancholisch anmutende Hauptteil, der Tempowechsel in den Refrain, welcher wiederum von einen kämpferisch gebrüllten "Si" zum Abschluss nochmal unterstrichen wird.
Das perfekte Lied sozusagen, um vor zigtausenden Zuschauern die richtige Portion Adrenalin anzusammeln, die auf dem Rasen dann das ein oder andere Prozent mehr herauskitzelt. Das fühlte auch Mirko Valdifiori, als er am 31. März 2015 das erste Mal mit dem Trikot der Azzurri auf dem Rasen stand.
Arm in Arm mit seinen Nationalmannschaftskollegen, angeführt von Lead-Sänger Gigi Buffon, sang er die Hymne mit: "Die Hymne ist Gänsehaut pur. Wenn man sie hört, kommt sofort ein Zugehörigkeitsgefühl auf. Währenddessen habe ich zu den Tribünen geschaut und dort meine Verwandten gesehen. Diesen Moment werde ich nie vergessen."
Ein Gefühl, das sicher bei jedem Spieler entsteht, egal welchem Land er angehört, ob das Lied nun stadiontauglich ist oder nicht.
Doch bei Valdifiori ist es anders: Der Mittelfeldspieler ist zu dem Zeitpunkt 28 Jahre alt, Gegner wie Wayne Rooney oder Joe Hart kannte er bisher nur als unscharfe Protagonisten seiner REM-Phasen: "Das Debüt in der Nationalmannschaft war etwas Großes, eine umwerfende, magische Nacht. Es war unglaublich, Wayne Rooney decken zu müssen oder von ihm angelaufen zu werden."
Unauffälig und unterschätzt
Als Kind wollte er eigentlich Polizist werden. Schließlich wurde er zum Ordnungshüter im Mittelfeld, der im Hintergrund die Strippen zieht und dafür sorgt, dass das Konstrukt Mannschaft funktioniert.
2014 war Valdifiori mit dem Provinzklub Empoli rund um Coach Maurizio Sarri in die Serie A aufgestiegen. Valdifiori war Dreh- und Angelpunkt in der Toskana, für den Trainer war er unersetzlich. Aufmerksamkeit erlangten aber andere. Seine Art, Fußball zu spielen, spiegelt seine Karriere wider: unauffällig und unterschätzt.
In seinem ersten Jahr überhaupt in der Serie A begeisterte er durch die Bank Italiens Fußballwelt. Sogar die Medien kamen nicht drum herum, den Spieler genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Journalie verblieb mit offenen Mündern.
Die Begeisterung fand bei den sonst so launischen Schreiberlingen in den Redaktionen Italiens die ganze Saison durch kein Ende. Die Gazzetta dello Sport sieht in ihm den perfekten Sechser: "Im Handbuch der guten Regisseure steht: Sei immer anspielbar, verstecke dich nie, habe nie mehr als zwei Ballberührungen, entlaste deine Nebenmänner, indem du dich anbietest - Mirko Valdifiori hat diese Regeln studiert, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergingen."
Pirlo als Vorbild
Die ruhige Spielweise, die unglaubliche Übersicht, die perfekt getimten Pässe und die Omnipräsenz des Mittelfeldakteurs aus der kleinen Gemeinde Lugo in der Emiglia Romagna ließen die Fußballbegeisterten schnell zu Superlativen greifen, die schließlich in der größten Ehre gipfelten, die einem Sechser in Italien zuteilwerden kann: Er wurde mit dem Regisseur schlechthin verglichen. Er wurde zum "Pirlo di Provincia", dem "Pirlo aus der Provinz".
"Andrea war schon immer mein großes Vorbild. Schwieriges sieht bei ihm einfach aus. Er begeistert mich immer wieder aufs Neue durch sein Talent und seine Fähigkeit, noch immer den Unterschied zu machen", gestand Valdifiori nach einem Meisterschaftsspiel gegen Juventus Turin. Eine Begegnung auf dem Spielfeld blieb aus, da Pirlo verletzungsbedingt nicht spielen konnte, doch ließ sich der Altmeister nicht lumpen.
Nach dem Spiel wartete er bei den Umkleidekabinen und überreichte seinem Bewunderer ein Trikot. "Dich in den Katakomben zu sehen, wie du nur deswegen wartest, um mir das Trikot zu schenken, war eine riesengroße Freude. Du hast zum zigsten Mal gezeigt, dass du ein großer Champion und ein großer Mensch bist", twitterte ein merklich gerührter Valdifiori nach der Aktion.
"Er war schon lange bereit für die Serie A"
Es war ein Zeichen für die Wandlung, die Valdifioris Karriere gerade durchlief. Zuvor war er ein Niemand im Fußball, ein Spieler wie viele andere. Pirlos Geste zeigte, dass er gesehen wird, dass er wahrgenommen wird, dass er respektiert wird, auch von den ganz Großen.
Sein Förderer Maurizio Sarri verstand sowieso nicht, wieso man den nun 29-Jährigen bisher nie auf dem Radar hatte. Bei dem italienischen Sender Rai machte er seinem Ärger ob der Blindheit vieler Fußball-Experten Luft: "Er war schon in der Serie B auf diesem Level. Er war schon lange bereit für die Serie A, aber keiner hat ihn gesehen. Er war schon immer da und ihr kommt erst jetzt darauf. Er ist meiner Meinung nach einer der besten zentralen Mittelfeldspieler Italiens geworden."
Maurizio Sarri im Porträt: Der qualmende Visionär
Sarri war es schließlich auch, der Valdifiori nach seinem Wechsel auf die Trainerbank in Neapel unbedingt mitnehmen wollte. Sarri sieht in ihm den Schlüssel für sein System, ein gut geöltes Scharnier, das alles zusammenhält und für einen reibungslosen Spielfluss sorgt: "Valdifiori denkt schnell mit, berührt den Ball nur ein oder zwei Mal und kann das Spiel schnell machen. Das macht aus ihm einen Qualitätsspieler."
Von Pirlo zum Pirlo aus der Provinz
Qualität, auf die auch Antonio Conte aufmerksam geworden ist. Der italienische Nationaltrainer ist auf der Suche nach einem Nachfolger für Pirlo und sieht diesen im Neuzugang von Napoli.
"Seine Einberufung ist der Lohn für einen Jungen, der sich von ganz unten nach ganz oben hochgearbeitet hat. Er hat bewiesen, dass er auf diesem Niveau mithalten kann. Außerdem passt er in mein System", sagte Conte kurz vor dem Spiel gegen die Engländer.
Valdifioiri schätzte die warmen Worte des Teamchefs und setzte alles daran, den Trainer von seinen Qualitäten zu überzeugen: "Die Worte, die Conte für mich übrig hatte, haben mich motiviert. Ich will immer besser werden und ihm zeigen, dass ich diese Auszeichnung verdient habe."
Endlich im Rampenlicht
Valdifioris Abschied aus Empoli stand schon längere Zeit im Raum. Nach Angeboten von Milan und Napoli standen für ihn alle Türen offen. Doch die Entscheidung fiel schwer.
"Sollte mich Napoli kontaktieren, wäre ich sehr stolz darauf. Doch fragt mich nicht, für wen ich mich zwischen Mailand und Neapel entscheiden werde, ich weiß es nicht", ließ er noch während der Saison verlauten. Schließlich folgte er dem Ruf seines alten Förderers nach Neapel.
Der Sechser wechselte für 5,5 Millionen Euro zu den Partenopei, um sich dort den großen Erwartungen der Fußball-Großfamilie Neapel zu stellen. Dort heißen seine Mitspieler nicht mehr Manuel Pucciarelli oder Massimo Maccarone, sondern Marek Hamsik oder Gonzalo Higuain.
Kein Problem für Valdifiori, dem eiserne Nerven nachgesagt werden. Zuletzt wurde er von den Trainern der Serie A als "die Entdeckung der Saison" ausgezeichnet. Mit 29 Jahren eine späte Ehre, aber immerhin bekommt er nun die Aufmerksamkeit, die ein Spieler seines Kalibers verdient.
Mirko Valdifiori im Steckbrief