Wenn ihn sein Trainer auf die Bank setzt, muss er seine Entscheidung akzeptieren. Der Coach kann schließlich nur elf Spieler einsetzen und nicht mehr. Dann zählt es auch nicht mehr, ob man im Training die richtige Einstellung gezeigt hat, denn die Mannschaft stellt nun einmal der Trainer auf.
Also setzt er sich, gegen die Kälte dick in Stadionjacke und lange Hose eingepackt, auf die Bank des Juventus Stadium und macht es sich neben den weiteren Reservisten bequem. Auch wenn er in seinem Herzen weiß, wie viel er dieser Nationalmannschaft geben könnte.
Andrea Belotti hat es verstanden, auf seinen Moment zu warten. Beim WM-Qualifikationsspiel der Squadra Azzurra gegen die spanische Nationalmannschaft hat er eine Stunde lang seine Mannschaftskameraden angefeuert, bevor er sich seiner dicken Jacke entledigte und anschließend zum Aufwärmen bewegte. Später dann der Ruf: "Andrea! Du bist dran!"
Der Hahn, der keiner ist
Vor gut einem Jahr hat Andrea "il Gallo" ("der Hahn") Belotti den Schritt von Palermo nach Turin gemacht. Nicht nur die besseren fußballerischen Perspektiven, auch die Nähe zur Heimat Bergamo waren entscheidende Beweggründe für den damals 21-Jährigen.
Heimatverbundenheit und Bodenständigkeit sind Eigenschaften, die den Mittelstürmer ganz treffend beschreiben - und ihn vom Hahn unterscheiden, der schließlich alles tut, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Doch hat das Tier, das Belotti regelmäßig beim Torjubel imitiert, ohnehin gar nicht so viel mit ihm selbst zu tun, schließlich ist das eigentümliche Ritual keinem Federvieh, sondern seinem besten Freund Juri, Nachname: Gallo, gewidmet.
Zelebrieren darf er seinen Torjubel immer häufiger. Zehnmal traf il Gallo in der laufenden Spielzeit. Einmal im Pokal. Nachdem er sechsmal im ersten und zwölfmal im zweiten Jahr in der Serie A jubeln durfte, ist er also auf gutem Wege, seine Torausbeute erneut zu verdoppeln. Der Wert des Stürmers zeigt sich allerdings nicht nur in seinen Tor-Statistiken.
Klassik trifft Moderne
Belotti verkörpert äußerlich den klassischen Mittelstürmer, die traditionelle Nummer Neun:
... im Strafraum durch intelligente Laufwege und geborenen Torinstinkt immer bereit, mit dem ersten Kontakt abzuschließen.
... mit dem Rücken zum Tor stehend durch seine körperliche Präsenz schwer zu verteidigen.
... technisch in der Lage, seinen Gegner im Eins-gegen-Eins stehen zu lassen.
Die Bandbreite seiner offensiven Möglichkeiten geht allerdings über die Strafraumpräsenz des klassischen Mittelstürmers hinaus. Trotz seines bulligen Körpers verfügt Belotti nämlich über einen schnellen Antritt und eine gute Ballkontrolle. Deshalb fungiert er auch in Torinos Kontersituationen als brandgefährliche Anspielstation.
All dies macht ihn zwar zu einem sehr guten Spieler, besonders allerdings fällt der 1,81 Meter große Stürmer durch seine defensive Arbeitsrate auf. Hier zeigt sich der wahre Charakter des Gallos. Denn für Pressingsituationen oder dem Aushelfen in Unterzahlsituationen ist er sich nicht zu schade. Die Zweikampfwerte sprechen eine eindeutige Sprache.
Die Auslandsklausel
Und wie es in der Welt des Fußballs heutzutage nun einmal so ist, blieb der besondere Spielstil des Andrea Belotti nicht unbemerkt. Spekulationen um ein Interesse aus England sind sowieso selbstverständlich. Doch um all dem vorzubeugen, verlängerte Torino Manager Urbano Cairo einfach kurzerhand den Vertrag. Einen Vertrag mit besonderen Konditionen.
Denn neben den 1,5 Millionen Euro Nettogehalt und der Vertragslaufzeit bis 2021, die der Arbeitskontrakt des 22-Jährigen beinhaltet, gibt es auch eine Ausstiegsklausel. Satte 100 Millionen Euro soll der Verein zahlen, der Andrea Belotti über die Staatsgrenze zu sich holt. Ja, über die Staatsgrenze. Die Klausel gilt nämlich nur für ausländische Vereine.
Ob Belotti gleich 100 Millionen Euro wert ist? Torino-Trainer Sinisa Mihajlovic hat da seine eigene Meinung: "Der Markt bestimmt den Wert eines Spielers. Aber die Preise, die wir jetzt haben, sind übertrieben - für jeden. Wenn es einen Verein gibt, der diesen Preis zahlen will, okay. Aber hoffentlich wird Belotti mindestens so lange bleiben, wie ich Trainer von Turin bin."
Trainer von Turin ist Mihajlovic übrigens erst seit dem vergangenen Sommer. Grund dafür, dass Belotti überhaupt beim FC Torino spielt war Giampiero Ventura. Eben jener Giampiero Ventura, der heute Trainer der italienischen Nationalmannschaft ist und sich nach 15 Toren in 24 Spielen im Kalenderjahr 2016 dazu veranlasst sah, Belotti für seine Nationalmannschaft zu nominieren.
Zur rechten Zeit am rechten Ort
"Andrea! Du bist dran!" Er macht sich also für den Einsatz bereit und wird für jenen Graziano Pelle eingewechselt, welcher sich nach einer bärenstarken EM als unverzichtbare Sturmspitze verstand. Belotti bekommt seine Chance, doch bemerkt er nicht, dass sich in seinem Rücken eine noch viel größere Chance auftut.
Denn der so selbstbewusste Pelle verweigert Trainer Ventura den Handschlag und wird daraufhin aus dem Kader gestrichen. Es ist die Chance, auf die Belotti gewartet hat.
Nach seinem zweiten Nationalmannschaftseinsatz gegen Spanien war er also plötzlich nicht mehr nur Italiens Stürmerhoffnung Nummer Eins, sondern bereits Italiens Stürmer Nummer Eins. Denn in den darauffolgenden zwei WM-Qualifikationsspielen traf Belotti gleich dreimal und sicherte sich so seinen Platz neben seinem früheren Turiner Klubkameraden Ciro Immobile.
"In jedem Training, in jedem Spiel"
So sicher wie sein Platz im Angriff der Squadra ist auch der Umstand, dass internationale Top-Teams die Entwicklung des Andrea Belotti trotz einer Ausstiegsklausel von 100 Millionen Euro verfolgen werden. Für ihn ist ein Wechsel allerdings noch kein Thema, denn Belotti ist ein heimatverbundener und bodenständiger Spieler. Und so wendete er sich direkt nach der Verlängerung an die Tifosi der Granata: "Die Unterschrift macht mich glücklich und stolz. Ich danke dem Präsidenten Cairo und dem gesamten Verein. Das Vertrauen werde ich euch zurückzahlen, indem ich immer alles geben werde. In jeder Minute des Trainings, sowie in jedem einzelnen Spiel", verspricht Belotti den Fans via Instagram.
Doch um das Versprechen erstmals einzulösen, hat er nun nicht nur irgendeines dieser Spiele vor der Brust. Die Last der 100-Millionen-Euro-Klausel trägt Andrea Belotti nämlich erstmals im Derby della Mole gegen Juventus auf seinen Schultern.
Jenes Derby della Mole, welches für die Tifosi der Granata das Spiel des Jahres ist. Eine normale Leistung wird hier wohl nicht reichen. Vielleicht aber die eines klassischen Mittelstürmers und die eines modernen zusammen, die eines Andrea Belotti.
Andrea Belotti im Steckbrief