Ilicic verbrachte im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen den Lockdown mit seiner Frau Tina und seinen Töchtern Sofia und Victoria in Bergamo, eine der am schlimmsten vom Virus heimgesuchten Städte des Landes und ist seitdem nicht mehr der von Sorgen befreite Torjäger, der er zuvor zu sein schien. La Gazzetta dello Sport schreibt, er habe einen "psychologischen Kurzschluss" erlitten, La Reppublica berichtet von einem "Rückfall in dunkle Zeiten".
Atalantas Held ist offensichtlich wieder der Junge, der in seinem Leben durch zahlreiche Tiefen gehen musste, ehe er die Möglichkeit bekam, ein Teil dieser Millionenindustrie zu werden. Der Junge, der in der vom Krieg heimgesuchten Stadt Prijedor in Bosnien-Herzegowina groß wurde und seinen Vater verlor, als er sieben Monate alt war.
Kriegsflucht und Selbstzweifel: Die harte Jugend von Josip Ilicic
Etwas mehr als drei Jahre später, 1992, kam es durch serbische Milizen dann auch noch zu einem grausamen Massaker in Prijedor, bei dem hunderte Kroaten und Bosnier starben. Ilicic floh mit seiner Mutter Ana und seinem älteren Bruder Igor nach Slowenien, wo er fortan seine restliche Jugend verbrachte. In Frieden und mit der Gelegenheit, sein fußballerisches Talent zu entfalten, ja. Aber auch mit Problemen.
Sein zweiter Profiverein, Interblock Ljubljana, deklarierte ihn nach einem Abstieg in die zweite slowenische Liga zu einem der Sündenböcke und verbannte ihn in die Reservemannschaft. Ein schwerer Rückschlag mit Anfang 20. Ilicic dachte, geplagt von Selbstzweifeln, sogar über ein frühes Karriereende nach. Dazu kam es nicht, weil andere den Glauben an ihn nicht verloren hatten.
Ein Angebot von NK Maribor, dem bekanntesten Verein Sloweniens, veranlasste ihn dazu, sich eine zweite Chance zu geben. Eine Chance, die er innerhalb von nur elf Spielen nutzte, um in Europas Elite und zu unerwartetem Wohlstand zu gelangen. Ilicic überzeugte in der Europa-League-Qualifikation gegen US Palermo nämlich so sehr, dass die Italiener ihn Ende August 2010 kurzerhand für 2,3 Millionen Euro unter Vertrag nahmen. Maribor hatte Anfang Juli gerade einmal 80.000 Euro für ihn bezahlt. Es war der Beginn einer Erfolgsgeschichte.
"Unersetzlich": Josip Ilicics Ausfall trifft Atalanta ins Mark
Bei Palermo musste Ilicic zunächst auf dem rechten Flügel ran, blühte aber erst auf, als Javier Pastore den Verein verließ und ihm die Position des klassischen Spielmachers überließ. Eine ähnliche Rolle bekleidete er auch bei der Fiorentina, seiner zweiten von drei Stationen in Italien.
Im Team von Atalanta ist er meist neben Papu Gomez und/oder Duvan Zapata in der Spitze zu finden. Ilicic gehört aber nicht der Sorte Stürmer an, die man als "gewöhnlich" definieren würden. Seine Statur ermöglicht es ihm, den Ball problemlos festzumachen und zu verteilen. Er ist für seine Größe von 1,90 Metern aber erstaunlich trickreich, sein Spiel steht für Unvorhergesehenes.
"La nonna" versucht es aus allen Lagen, außer Cristiano Ronaldo gibt kein Spieler in der Serie A im Schnitt so viele Schüsse ab wie er. Zur Not trifft er, wie beim 7:0 gegen den FC Turin Ende Januar, auch von der Mittellinie aus. "Seine Kreativität", meint Trainer Gasperini, "kennt keine Grenzen". Ilicic sei "unersetzlich", so wie Ciro Immobile für Lazio, Paulo Dybala für Juventus oder Romelu Lukaku für Inter.
"Was, wenn ich morgen meine Familie nicht mehr sehe?"
Umso bitterer ist sein Ausfall im Champions-League-Viertelfinale gegen PSG. Im Leben dreht sich aber nun einmal nicht alles um Fußball. Das merkte Ilicic schon im Sommer 2018, als ihn eine Lymphknotenentzündung im Hals heimsuchte und zu einem einwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus zwang.
"Andere Menschen lagen deshalb schon im Koma. Mir ging es schrecklich und ich kam wirklich an einen Punkt, an dem ich Angst bekam", berichtete er hinterher. "Ich dachte mir vor dem Einschlafen: Was, wenn ich morgen nicht mehr da bin? Was, wenn ich morgen meine Familie nicht mehr sehe?"
Fragen, die ihn womöglich auch während des Lockdowns beschäftigten, als er täglich mit dem Leid in Norditalien konfrontiert wurde - und seitdem nicht mehr losließen. "Wir umarmen Josip", sagt Gasperini. In der Hoffnung, dass er überhaupt noch einmal nach Bergamo zurückkehrt.
Josip Ilicic im Steckbrief
geboren | 29. Januar 1988 in Prijedor, Bosnien-Herzegowina |
Größe | 1,90 m |
Gewicht | 79 kg |
Position | Sturm (hängende Spitze, rechte Außenbahn) |
starker Fuß | links |
Profistationen | NK Bonifika, NK Interblock, NK Maribor, US Palermo, AC Florenz, Atalanta Bergamo |
Pflichtspiele/-tore/-vorlagen | 423/129/70 |