Duncan Niederauer hat kein Berufsleben geführt, das von großer Emotion getrieben worden ist. Er war Banker und später Partner bei Goldman & Sachs, eines der größten Finanzunternehmen der Welt. Später wurde Niederauer CEO der New Yorker Börse. Knallharte Umgebungen, in denen Zahlen, Statistiken und der pure Erfolg das Sagen haben. Wer nicht funktioniert, fliegt. Ohne Ansage, ohne Anlauf. Ohne Rücksicht auf menschliche Verluste.
Aber Niederauer, heute 63 Jahre alt, hat es geschafft, sich von diesem knallharten Do-or-Die-Geschäft menschlich nicht beeinflussen zu lassen. Der Mann aus New Jersey, der 2013 von Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. von England als Honorary Commander of the British Empire (CBE) für seine Bemühungen um die Förderung des Friedensprozesses in Nordirland ausgezeichnet wurde, also zum Ritter geschlagen wurde, ist in vielen Beziehungen das Gegenteil von dem, was man von einem solchen Mann erwarten dürfte.
Da ist es auch völlig normal, dass Niederauer im Mai des vergangenen Jahres aus einer Gondel sprang und eine im wahrsten Sinne feuchtfröhliche Party im Wasser feierte. Niederauer hatte das wirklich sehr schicke Trikot des FC Venedig an und zelebrierte mit allen anderen in der Stadt den Aufstieg des Klubs in die Serie A.
Niederauer ist seit 2020 Präsident des Klubs und Aufstiege müssen nun mal entsprechend gefeiert werden. "Ich weiß nicht, ob ich heute nochmal das gleiche machen würde, aber für diesen Moment... alle sprangen, wie hätte ich anders reagieren sollen? Wir waren wie eine Familie, alle waren zusammen und feierten zusammen. Ich habe meiner Frau gesagt, dass wir dieses Erlebnis nie wieder vergessen werden."
FC Venezia: Der Aufstieg kam früher als gedacht
Niederauer macht so vieles anders als manch anderer Investor eines Fußball-Klubs weit weg von zu Hause. Nicht nur bei der Aufstiegsparty im Mai 2021, das die Rückkehr ins Oberhaus seit 19 Jahren besiegelte, sondern auch ansonsten zeigt Niederauer sehr viel Nähe zu Mitarbeitern und Spielern. "Man hat mir gesagt, ich soll die Spieler nicht so nah an mich heranlassen. Das würde mein Urteilsvermögen lindern und es würde nicht funktionieren. Aber ich lehne das komplett ab. Ganz egal, in welchem Business ich gerade bin. Wenn man auf das Wohl der Menschen achtet, mit denen man arbeitet, können sie großartige Sachen machen."
Der Erfolg in Venedig gibt Niederauer recht, denn der Klub macht wirklich gute Arbeit. Der Aufstieg im vergangenen Jahr war kein Selbstläufer und auch nicht zu erwarten. In einer Liga, in der Berlusconi-Klub Monza oder Traditionsklub Parma mit Wut im Bauch investierten, um sofort aufzusteigen, blieb Venedig bescheiden. Keine großen Transfers, punktuelle Verstärkungen. Und irgendwann, wenn die Zeit kommt, würde man den Aufstieg dann schon anpeilen. Aber in Pandemiezeiten, in denen auch im Fußball viel in sich zusammenstürzte, lebte der Klub von seinen gesunden Strukturen und der Zusammengehörigkeit, die vom obersten Boss gelebt wurde.
"Wir hatten die Serie A eigentlich in zwei bis drei Jahren anvisiert, aber wir sind jetzt unserem Zeitplan voraus. Das ist zwar gut, aber wenn man zwei Jahrzehnte nicht in der höchsten Liga spielt, hat man nicht die Infrastruktur für ganz oben und dann muss man all das im Rahmen unseres Budgets anpacken", so Niederauer. Nicht immer wurde der Klub mit so viel Umsicht geführt. Nach dem Abstieg 2002 war der Klub gleich drei Mal insolvent, musste immer wieder von ganz unten anfangen.
Besonders hart traf es den Verein nach dem ersten Abstieg 2002: Klub-Eigentümer Maurizio Zamparini hatte nach 15 Jahren Venedig die Lust an Stadt und Klub verloren und suchte sich ein neues Spielzeug. Als er drauf und dran war, den FC Genua zu kaufen, bekam er über Nacht die Möglichkeit, den FC Palermo zu ergattern und griff zu. Doch dann passierte das, was landesweit als Furto di Pergine, also als Diebstahl von Pergine, in die Geschichte einging. Zamparini nahm mitten in der Vorbereitung zwölf Spieler und den Trainer mit nach Palermo. Sie alle setzte er in einen Kleinbus und ließ sie einfach in Palermo weitermachen. Selbst Klub-Idol Filippo Maniero saß mit im Bus.
Cuisance, Busio und Tessmann: Eine Boyband für Venedig
Es folgten viele Jahre mit weiteren Rückschlägen, doch Venedig blieb immer interessant. In einer Touristenhochburg kann man Geschäfte machen - die Umgebung, die Schönheit, die Anziehungskraft auch für einen Fußballverein nutzen. 2015 stieg schon Joe Tacopina, heute Vorsitzender beim Zweitligisten SPAL Ferrara, ein. Ein Italo-Amerikaner und Jurist, der Finanzen, Infrastruktur und Organisation in die richtige Richtung lenkte und dem Klub Weitsicht verpasste. 2020 trat er dann seine Stakes an Niederauer ab und dieser setzt die gute Arbeit Tacopinas fort.
Vor allem setzen sie auf die richtigen Leute. Mit Mattia Collauto wurde ein äußerst fähiger Sportdirektor eingesetzt, der ein europaweites Scoutingnetzwerk aufbaute. Vereinslegende Paolo Roggi kam mit Collauto mit ins Boot. Ivan Cordoba, einst eisenharter Verteidiger bei Inter, arbeitet als Berater mit. Roggi arbeitet vor allem an der internationalen Talenterekrutierung.
Als Trainer kam Paolo Zanetti, der schon in Ascoli hervorragende Arbeit machte und nun seinen guten Weg fortsetzt. Auch die Marketingabteilung macht einen guten Job. Die sehr schicken Trikots, die es schon in der Serie B gab, waren ein Verkaufsschlager weltweit. Zwischendurch waren sie sogar ausverkauft. Geld, das man wieder gut investiert hat, um weiter zu wachsen.
Der Klub plant nicht nur den kurz- und mittelfristigen Erfolg, sondern denkt - anders als die vielen Jahre zuvor - auch an morgen. Die Transferpolitik ist auch entsprechend langfristig angelegt. Das verfügbare Budget wird nicht für fertige Spieler ausgegeben, die sofortigen Erfolg darstellen sollen. Der 19 Jahre alte Gianluca Busio, schon vor Augsburgs Ricardo Pepi der Blickfang der MLS, kam dank der guten Kontakte nach Übersee. Tanner Tessmann (20) ebenso.
Und nun kam mit Bayerns Michael Cuisance, der mit seinen 22 schon reichlich an seinem Badboy-Image gearbeitet hat, aber jung genug ist, um sein zweifelsfrei großes Talent unter Beweis zu stellen. Vielleicht funktioniert er in einem familiären Umfeld wie Venedig. Wenn sie wachsen, wachsen sie alle gemeinsam.
Abstieg wäre für Venedig kein Beinbruch
Und wenn nicht? Was, wenn Venedig absteigt, was bei 17 Punkten in 19 Spielen durchaus ein Kampf bis zum Schluss wird. Kein Problem. Niederauer hat sich nicht wie einige US-Investoren zuvor von der Möglichkeit eines Abstiegs zurückschrecken lassen. Wenn die Show in der Serie B weitergehen muss, dann ist das halt so.
"Auch wenn wir in dieser Saison in der Serie A nicht erfolgreich sind, heißt das nicht, dass wir gescheitert sind", sagt Niederauer. "Wir haben unseren Verein, unser Geschäft, unser Stadion und unser Trainingsgelände verbessert. Auf lange Sicht - was man bei jedem Projekt wie diesem machen muss - bedeuten diese Verbesserungen für mich kein Scheitern."
Gelingt der Klassenerhalt, wird man ihn wahrscheinlich wieder im Wasser sehen.