Neun Jahre lang dominierte Juventus Turin die italienische Serie A, ehe Inter Mailand der Übermacht in der vergangenen Saison ein Ende bereitete. Noch im Mai des vergangenen Jahres wurde Massimiliano Allegri angestellt, um den Rekordmeister möglichst schnell zu stabilisieren.
Zwar ging mit Cristiano Ronaldo der Top-Torschütze zu Manchester United, einen riesigen Umbruch im Kader gab es aber nicht. Die meisten Spieler auf der langen Liste der Zu- und Abgänge wurden verliehen oder kamen von einer solchen Leihe zurück. Weston McKennie war mit 20,5 Millionen Euro der teuerste Sommertransfer - auch weil Manuel Locatelli erstmal von US Sassuolo ausgeliehen wurde. Anschließend greift eine Kaufpflicht, bei der sich die Ablösesumme auf mehrere Jahre verteilt.
Das Vorgehen auf dem Transfermarkt unterstrich, dass man in Turin große Hoffnungen darauf setzte, dass Allegri sich schnell zurechtfinden würde. Das ging ganz offenkundig schief. Juventus stand nach der Hinrunde auf Platz 5 der Serie A und hatte mit nur 27 Toren den mit Abstand schwächsten Angriff unter den besten neun Klubs.
Juventus: Alte Dame ist offensiv zu träge
Alvaro Morata und Paulo Dybala waren damals die Toptorjäger in der Liga und sind es noch heute - der Spanier mit acht, sein Kollege mit sieben Treffern. Ohne Ronaldo wurde das größte Problem von Juventus schnell offensichtlich: Sie sind im letzten Drittel zu abhängig von Einzelspielern und insgesamt zu ungefährlich.
Die Alte Dame ist offensiv träge und selbst im nationalen Vergleich allenfalls durchschnittlich. Diverse Statistiken unterstreichen das. 13,7 Abschlüsse (Platz 8) führen unter Einbeziehung verschiedener Variablen wie Schussposition oder Körperteil derzeit zu 1,34 erwartbaren Toren pro Spiel (Platz 10). Juve erspielt sich also nicht nur wenige Chancen, sondern tendenziell auch noch schlechte.
Besonders eindrücklich zeigt das die durchschnittliche Distanz der Abschlüsse: 15,45 Meter sind ein höherer Wert als bei acht anderen Teams. Verkürzt lässt sich sagen, dass die Tagesform des 36-fachen Meisters davon abhängt, ob Dybala einen guten Tag erwischt - und der Argentinier verpasste in dieser Saison nicht nur schon 13 Pflichtspiele durch kleinere Verletzungen, sondern lässt darüber hinaus auch nicht selten die entsprechende Form vermissen.
Tiefpunkt der bisherigen Saison war für die Italiener zweifelsohne die deutliche 0:4-Niederlage in der Champions-League-Gruppenphase gegen den FC Chelsea. Sehr lange schien es so, als wäre der zweimalige Gewinner der Königsklasse nicht konkurrenzfähig - international, aber selbst national.
Dusan Vlahovic war ein fehlendes Puzzleteil für Juve
Gerade in diesem Kalenderjahr fuhren die Bianconeri aber wieder konstant gute Ergebnisse ein. Seit zwölf Pflichtspielen ist die Mannschaft von Allegri ohne Niederlage, lediglich eine kurze Phase mit drei Unentschieden in Serie gegen Atalanta, den FC Turin und bei Villarreal (alle 1:1) trübt das Bild etwas.
Doch was ist dieser kleine Aufstieg wert? Zumindest ist der Abstand auf Tabellenführer Milan und die Champions-League-Plätze geschrumpft. Auf Platz eins fehlen zwar immer noch sieben Punkte, aber Inter (drei Punkte Vorsprung) und Napoli (vier Punkte) sind in Reichweite. Der Wintertransfer von Dusan Vlahovic hat an der kleinen Aufholjagd einen großen Anteil.
Gar nicht so sehr wegen seiner vier Treffer, die er in bisher neun Einsätzen erzielte, sondern vor allem wegen seiner Präsenz in den für Juve wichtigen Offensivräumen. Morata ist ein Stürmer, der weiträumiger agiert, der aber dementsprechend eingebunden werden muss. Vor allem wenn Dybala fehlte, waren die vielen Läufe des Spaniers zu oft nutzlos. Ließ er sich beispielsweise ins Mittelfeld fallen, gab es keinen anderen Spieler, der die Neunerposition konsequent besetzte.
Auch Vlahovic beteiligt sich viel am Ballbesitzspiel seiner Mannschaft, konzentriert sich aber mehr darauf, seine Position zu halten, was der von Individualismus geprägten Offensive guttut, aber auch Morata selbst hilft. Denn gerade weil er so ein weiträumiger Spielertyp ist, können beide auch gut miteinander harmonieren. In der Rückrunde macht Juve so im Schnitt 0,5 Tore mehr pro Spiel.
Massimiliano Allegri: Pragmatismus und Statik statt Mut und Dynamik
Dennoch sind die Sorgen groß, dass es in dieser Saison nicht zu einem Titel reicht. Im Finale der Supercoppa verlor Juve gegen Inter Mailand mit 1:2 nach Verlängerung, ein großes Comeback in der Serie A ist noch weit entfernt. Vom Champions-League-Titel sollte Juventus aktuell sowieso nicht träumen. Bleibt die Coppa Italia, wo sich die Allegri-Elf einen mehr als glücklichen Last-Minute-Sieg bei der AC Florenz im Halbfinal-Hinspiel sicherte.
Trotz der zuletzt besseren Ergebnisse sind es vor allem die Leistungsschwankungen, die Sorgen bereiten sollten. Insbesondere mit aggressiven Gegnern tut man sich schwer - paradoxerweise aus Gründen, die im Gegensatz zur Offensivphilosophie des Trainers stehen.
Ein paar der Freiheiten, die die Angreifer haben, würden dem einen oder anderen Verteidiger sicher gut zu Gesicht stehen. Matthijs de Ligt ist wahrscheinlich einer der spielstärksten Innenverteidiger seiner Altersklasse, nur zeigt er davon im schwarz-weiß-gestreiften Trikot zu wenig. Vermutlich, weil er nicht mehr Risiko eingehen darf.
Das Aufbauspiel ist meist träge und berechenbar. Allegri legt viel Wert auf Sicherheit und Statik in Ballbesitz. Das führt dazu, dass das Team in den Umschaltmomenten nach Ballverlust nicht allzu große Räume schließen muss. Der 54-Jährige Trainer ist ein Pragmatiker.
Juventus fehlen die Spielmacher
Nur ist Pragmatismus nicht immer die beste Wahl. Es ist kein Zufall, dass sein Team gegen Chelsea, Inter, Milan, Atalanta oder jüngst eben auch gegen Villarreal große Probleme hatte. Sie alle haben gemein, dass sie mit viel Physis und hoher Intensität pressen.
Juves statischer Ausrichtung fehlt es dann vor allem an Zeit, um den Ball in Ruhe nach vorn tragen zu können. Es wäre aber zu einfach, das nur an Allegris Pragmatismus und dem fehlenden Risiko im Passspiel der Verteidiger festzumachen. Den Bianconeri fehlt im Mittelfeld ein Verbindungsspieler. Einer, der wie Andrea Pirlo zu seinen besten Zeiten in der Lage ist, Takt und Tempo vorzugeben, sich in den Zwischenräumen anzubieten und anschließend einen Angriff einzuleiten.
Oft soll Locatelli in einer tieferen Mittelfeldrolle Spielmacheraufgaben übernehmen, die ihm aber nicht hundertprozentig liegen. Der Europameister fühlt sich wohler, wenn er sich mit voller Freiheit und Dynamik in die Offensive einschalten kann.
Am besten funktioniert der Spielaufbau im Mittelfeld noch mit Ex-Barca-Star Arthur. Der Brasilianer ist sehr passstark und hat ein gutes Gespür für die Zwischenräume auf der Sechserposition. Echtes Vertrauen bekommt er von Allegri aber nicht. Über die Gründe kann nur gemutmaßt werden. Auffällig ist aber, dass Arthur vor allem gegen Teams auf der Bank sitzt, die mit viel Aggressivität und Intensität spielen. Traut der Italiener ihm die dafür notwendige Pressingresistenz nicht zu?
Champions League: Richtungsweisendes Rückspiel gegen Villarreal
Juventus besteht aktuell aus vielen Einzelteilen, die für sich genommen das Potential haben, jedes Spiel zu entscheiden. Durch die Verpflichtung von Vlahovic haben sie sich vor allem in der Offensive etwas mehr zusammengefügt.
Zugleich ist dieses Gebilde sehr fragil. In den letzten Wochen stand der Erfolg auf wackeligen Beinen. Insgesamt fehlt dann doch an zu vielen Stellen der Klebstoff, der die Einzelteile zusammenhalten kann. Das betrifft sowohl den Kader, dem ein tiefer Spielmacher abgeht, als auch den Trainer, der an seiner vorsichtigen und statischen Philosophie festhält.
Das Rückspiel im Champions-League-Achtelfinale gegen den FC Villarreal könnte richtungsweisend für die Alte Dame werden. Denn auch Erfolgserlebnisse können ein solcher Klebstoff sein, den es vor allem für die Ziele in den beiden verbliebenen nationalen Wettbewerben braucht.
Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal in der langen Klubgeschichte, dass Juventus ohne großen Glanz die Kurve in einer schwierigen Saison bekommt. Viel mehr sollte den Klub aber die Frage beschäftigen, wie nachhaltig der aktuelle sportliche Weg ist.