Camp Nou, 89. Minute: Lionel Messi verwandelt den Foulelfmeter zum 2:1-Sieg gegen CD Leganes und hält die Minimalchance auf die Meisterschaft am Leben. Freude? Fehlanzeige! Der Argentinier bleibt regungslos stehen, auch die Teamkollegen klatschen nur ab. Auf der Bank verzieht Gerard Pique keine Miene.
Eine Szene mit Symbolcharakter, denn es rumort gewaltig beim FC Barcelona - nicht erst seit der 0:4-Niederlage gegen Paris St.-Germain. Die mit 63.378 Zuschauern niedrigste Besucherzahl in der Saison bei einem Ligaspiel, die geringste seit Februar 2015, sowie ein gellendes Pfeifkonzert von den Rängen untermalen das trostlose Ambiente.
"Barca ist eine Mannschaft, die sich Schritt für Schritt abschafft", bilanzierte etwa Ex-Trainer Bernd Schuster nach dem Spiel in Paris. Er sollte am Sonntag-Abend in gewisser Weise bestätigt werden.
Positiver, wenn auch bei Weitem nicht rosarot, ist die Gemengelage bei Atletico Madrid. Dank Kevin Gameiros Blitz-Hattrick bleibt die Hoffnung auf die direkte Qualifikation für die kommende Champions-League-Saison bestehen und in der Champions League selbst darf dank vier Auswärtstore wohl für das Viertelfinale geplant werden.
Eingeleitete Umbrüche
Dann wird Barcelona schon nicht mehr im Wettbewerb sein. Und das, obwohl die Katalanen im Sommer über 120 Millionen Euro investierten, um einen sanften Umbruch einzuleiten. Mit der gewonnen Breite im Kader war die Zielsetzung klar: Im Idealfall sollte das Double verteidigt und nach der europäischen Krone gegriffen werden. Auch Atletico verstärkte sich namhaft. Es kamen Kevin Gameiro, Nico Gaitan und Sime Vrsaljko; Fernando Torres wurde fest verpflichtet.
Weder bei Barcelona noch bei Atletico sorgten die Neuzugänge aber für die erhoffte Wirkung, zu Stammspielern haben es nur zwei gebracht: Samuel Umtiti bei Barca und Gameiro bei den Rojiblancos. Lucas Digne, Dennis Suarez, Gaitan oder Vrsaljko kommen zwar auf ihre Einsätze, zumeist aber von der Bank. Suarez-Ersatz Paco Alcacer ist gar gänzlich außen vor.
Andre Gomes ist hingegen ein Spezialfall. Der Portugiese kommt auf deutlich mehr Spielzeit als zu Saisonbeginn vermutet, profitiert dabei aber von der langen Ausfallzeit von Andres Iniesta und dem zwischenzeitlichen Formtief von Ivan Rakitic.
Da Gomes noch nicht in der Lage ist, Iniesta oder Rakitic zu ersetzen, hagelt es Kritik am Europameister. "Ein Fiasko von 35 Millionen Euro", titelt etwa die Marca nach der denkwürdigen Nacht in Paris. Das Pfeifkonzert gegen Leganes war vor allem an den 23-Jährigen gerichtet.
Alves-Abgang wiegt schwer
Während die Neuen noch ihren Platz im Barca-Gefüge suchen, wiegt vor allem ein Abgang schwerer als vermutet: Dani Alves. Die rechte Seite gilt in Katalonien seit Saisonbeginn als Schwachstelle. Da Aleix Vidal Trainer Luis Enrique auch in der zweiten Saison nicht wirklich überzeugte, beorderte der Coach Sergi Roberto, einen gelernten zentralen Mittelfeldspieler, auf die rechte Seite.
Mit vier Vorlagen spielt der 25-Jährige eine ordentliche Saison, sein Offensivdrang ist aber nicht so ausgeprägt wie der von Alves. Zudem merkt man dem La-Masia-Absolventen an, dass ihm die Erfahrung als Außenverteidiger fehlt. Zweikampfstärke und Übersicht gehen ihm ab. Es ist bezeichnend, dass sich Vidal genau dann schwer verletzte, als Enrique begann, ihm das Vertrauen zu schenken.
Die Mentalitätsfrage
Natürlich ist der Wechsel eines Spielers zu wenig, um die Probleme dieser Saison zu entschlüsseln. Einen deutlich größeren negativen Effekt als der Abgang Alves' hat die steigende Verletzungsanfälligkeit von Andres Iniesta.
Wettbewerbsübergreifend 18 Spiele verpasste der Kapitän in dieser Saison, ein erneuter Ausfall folgte meist, wenn er kurz vor der Rückkehr zu seinem Leistungsmaximum stand. "Ich kann besser spielen. Ich versuche so viele Minuten wie möglich zu sammeln, um das richtige Gefühl zu bekommen", sagte Iniesta nach den zehn Minuten Einsatzzeit gegen Leganes.
Die aktuelle Spielzeit ist ein Paradebeispiel dafür, wie wichtig ein fitter Iniesta noch immer für die Blaugrana ist. Rakitic und Sergio Busquets suchen ihre Form über weite Strecken der Saison, die Genialität aus dem Mittelfeld geht deshalb häufig ab.
Hinzu kommt die vielzitierte Mentalitätsfrage. "Ich habe das Wort Einstellung nie gemocht und das Thema trifft es auch heute nicht. Es geht um die Frage, ob man gut positioniert ist auf dem Platz", sagte Iniesta in Paris. Nur 44 Prozent gewonnene Zweikämpfe sprechen bei einem 0:4 aber für sich.
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Uninspirierte Führungsspieler
Dabei wirkt das Spiel vor allem gegen vermeintlich einfache Gegner pomadig. Der Auftritt gegen Leganes zwischen der vierten und 89. Minute dient als bestes Beispiel.
Führungsspieler wie Iniesta, Pique oder Busquets wurden geschont; Javier Mascherano fällt mit Achillesssehnenproblemen aus. So war über die kompletten 90 Minuten nahezu keine positive Körpersprache zu erkennen. Vermeintliche Leader wie Messi oder Rakitic waren mit die ersten, die ihren Unmut offen zur Schau stellten.
Hinzu kommt, dass Neymar nach den Olympischen Spielen nicht an seine Leistungen der Vorsaison anknüpfen kann, zwischenzeitlich blieb er elf Ligaspiele in Folge ohne Tor. Deshalb ist Barca mehr denn je abhängig von Messi und Suarez. In der Primera Division war das Duo an 52 Treffern beteiligt.
Abkehr vom gewohnten System
Den Ausfall eines offensiven Schlüsselspielers kann Atletico nicht so einfach kompensieren. Vier Niederlagen setzte es für die Rojiblancos bislang und dabei ist ein klares Muster zu erkennen. Sie alle waren gegen Teams aus den aktuellen Top-Sechs und alle fallen in Antoine Griezmanns neun Spiele andauernder Torblockade.
Außerdem gehen den Rojiblancos aktuell die überragende defensive Stabilität sowie die intensive Spielweise der vergangenen Jahren ab - und das mit Absicht. Simeone will die spielerische Komponente stärken, mit Koke und Saul Niguez hat er in der Zentrale durchaus Kandidaten dafür.
Simeone hat das Spiel mit dem Ball durchaus verbessert und gestaltet das System im Allgemeinen etwas offensiver. Darunter leidet aber die defensive Umschaltbewegung, das Bollwerk der vergangenen Jahre ist deutlich anfälliger. Im Spiel bei Bayer Leverkusen war das phasenweise klar zu erkennen.
Die teils mausgrauen Auftritte verwandelt Atletico vor allem mit einer Methode in drei Punkte: den lange Ball in die Spitze. Spielerisch schwache, teils unmotivierte Darbietungen können also auch von den Rojiblancos zum Guten gewendet werden. Schützenfeste gegen Mannschaften wie Gijon täuschen über die Schwierigkeiten hinweg.
Bis in den Tod
Trotzdem ist die Stimmung beim Tabellenvierten Atletico im Moment besser als bei Barca. Und das, obwohl den Katalanen in diesem Kalenderjahr der Einzug ins Copa-Finale sowie fünf Siegen und zwei Remis in der Liga gelangen. Spätestens seit dem 14. Februar, spätestens seit der Pleite gegen PSG herrscht aber Weltuntergangsstimmung.
Tiefe Gräben soll es zwischen Mannschaft und Trainer geben, Enriques Aus nach der Saison gilt in Spanien als nahezu sicher. Enrique scheint mit der Entwicklung der Mannschaft an seine Grenzen zu stoßen. "Wir gehen mit Enrique bis in den Tod", lautete die martialische Antwort von Pique. Nächster Halt: Vicente Calderon.
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