Barca machte durch den 4:2-Sieg über Deportivo La Coruna bereits am 35. Spieltag die Meisterschaft perfekt. Schon vor der Partie stellte Depor-Coach Clarence Seedorf klar: "Wir werden Barca mit allem Respekt empfangen, wie sie es verdienen." Was war damit gemeint?
In der Woche zuvor hatte die Mannschaft von Ernesto Valverde mit einem beeindruckenden 5:0 gegen den FC Sevilla die Copa del Rey gewonnen. Und Seedorfs Mannen, als nächster Gegner des frisch gebackenen Titelträgers, erwiesen den verdienten Respekt, indem sie Spalier standen und applaudierten. Eine Tradition im spanischen Fußball, die beinahe 50 Jahre zurückreicht.
Am Sonntag ist Real Madrid der erste Gegner, der auf den neuen Meister Barca trifft. Schon Wochen zuvor wurde dieses Szenario breit und kontrovers diskutiert. Real-Coach Zinedine Zidane befeuerte den Diskurs höchstpersönlich: "Die Antwort ist klar. Wir werden nicht Spalier stehen."
Ex-Madrilene Clarence Seedorf: "Ein tolles Signal an die Kinder"
Es ist Reals gutes Recht. Weder die Statuten des spanischen Verbands noch die der Liga verlangen den Pasillo von einem Team. Das Spalier ist jedoch derart tief in der spanischen Fußball-Kultur verankert, dass es zu einer Norm wurde. Zidanes Statement sorgte daher durchaus für Wirbel.
Seedorf ist nur einer der Kritiker: "Ich bin ein Madridista, aber ich bin auch UEFA-Botschafter und stehe für die Werte des Sports. Fair Play ist wichtig. Ohne Barca wäre Real nicht dasselbe - vice versa. Das hat Tradition in Spanien, es ist ein tolles Signal an die Kinder, die zu uns aufsehen. Ich würde gerne eine Geste sehen, die den Sport über alle Rivalität hebt."
Der erste Pasillo - die Geburt einer spanischen Fußball-Tradition
Rückblick. Gerade eroberten die Beatles mit ihrer Single-Auskopplung "Let it be" ihres gleichnamigen zwölften Studioalbums die deutschen Charts. Zeitgleich feierte Atletico Madrid dank eines 2:0-Auswärtssieges gegen CE Sabadell zum sechsten Mal die spanische Meisterschaft - mit einem Punkt Vorsprung vor Athletic Bilbao. Calleja und Jose Ufarte waren an diesem 19. April 1970 die gefeierten Torschützen.
Rund einen Monat später traf Athletic im Achtelfinale der Copa del Generalisimo, einem Vorgänger der Copa del Rey, auf den Meister aus Madrid. Der Pokalsieger wurde damals noch nach der Meisterschaftsrunde ausgespielt.
Die Basken applaudierten den Rojiblancos vor dem Hinspiel ehrwürdig. Der Pasillo war geboren.
Pasillo im Clasico eine "Demütigung"
Athletic und Atletico verbindet eine gemeinsame Geschichte. Bilbao stieg Ende des 19. Jahrhunderts zur Handelsstadt auf. Englische Schiffe brachten nicht nur Güter und Arbeiter ins Baskenland, sondern auch den Fußball. Aufgrund der baskischen Kolonien in Madrid gelangte diese Kultur auch in die spanische Hauptstadt. Athletic und "Tochterverein" Atletico entstanden.
Die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen Real und Barca aber endet schnell und jäh. "Ich empfinde den Pasillo nicht als Hommage gegenüber dem Sieger, sondern - vor allem bei Barca und Real - als Demütigung", sagte LaLiga-Präsident Javier Tebas der AS.
Die Ehrenbezeugung verkam von einer grandiosen sportlichen Geste zur gleichgültigen, gesellschaftlichen Pflicht und wird bisweilen zum symbolischen Messerstich ins Fußball-Herz instrumentalisiert, nämlich dann, wenn der Pasillo Barca und Real betrifft. "Die Geste verliert an Kraft, wenn es zu einer solchen Rivalität kommt", erklärte Valverde.
Ein Deutscher im Mittelpunkt des ersten Clasico-Spaliers
Und dennoch war das bereits dreimal der Fall. 1988, beim ersten Clasico-Pasillo stand sogar ein Deutscher im Fokus: Bernd Schuster. Der Blonde Engel applaudierte nämlich seinen künftigen Teamkollegen. Drei Monate später wurde sein Vertrag mit Real rechtskräftig.
Schuster schenkt der Thematik heute jedoch keine große Beachtung: "Ich habe es erlebt, es ist komisch, das muss ich zugeben. Aber das interessiert mich nur wenig." Für ihn war der Pasillo für Real keine Demütigung: "Es mag schlimm erscheinen, aber es ist nicht so wild." Es sei doch nur eine sportliche Geste.
Das verwundert nicht. Schusters Wechsel zu den Königlichen illustrierte seine emotionale Bindung zur Rivalität zwischen den Klubs. "Ich bin nicht wirklich sentimental. In dieser Hinsicht bin ich zu einhundert Prozent Deutscher", sagte Schuster später gegenüber der Marca.
Reals Verweigerung des Spaliers ein Racheakt
So "deutsch" sind die Spanier aber nun mal nicht. Real stellt sich quer. "Das Spalier macht man manchmal und manchmal nicht. Das bedeutet nicht, dass wir keinen Respekt Barca gegenüber haben", spielte Sergio Ramos die Diskussion herunter.
Er selbst spazierte 2008 durch ein Spalier der Blaugrana, es war nach 1988 und 1991 (Real applaudierte Barca) der dritte und bisher letzte Clasico-Pasillo. Selbst Ramos dürfte kein Zacken aus der königlichen Krone brechen, würde er Barca in Form eines kurzen Applauses gratulieren.
Jordi Alba meint, die störrische Haltung der Madrilenen rührt woanders her: "Wenn Real nicht Spalier steht, dann nicht, weil es die Spieler nicht wollen, sondern aufgrund einer Entscheidung von oben."
Dass diese Entscheidung eine Art Racheakt ist, wird zwar von offizieller Seite nicht in dieser Deutlichkeit ausgesprochen, ist allerdings allseits bekannt. "Außerdem hat Barcelona mit dieser Tradition gebrochen", fügte Zidane seinem Nein zum Pasillo noch hinzu.
Dabei bezog sich der Franzose auf den Clasico am 23. Dezember im vergangenen Jahr. Real hatte sich soeben zum Klub-Weltmeister gekrönt. Barca verweigerte den Pasillo mit dem Argument, nicht im selben Wettbewerb vertreten gewesen zu sein. Elf Jahre zuvor hatte der Champions-League-Sieger Barca für den UEFA-Cup-Sieger Sevilla allerdings sehr wohl Spalier gestanden.
Die Tradition ist tot, lang lebe die Rivalität
"Die haben zuerst angefangen!" "Nein, die!" So hört sich das in etwa an. Der spanische Sportjournalist Miguel Martin Talavera fasste bei Cadena SER treffend zusammen: "Real macht sich lächerlich, wenn es den Pasillo nicht macht. Fast noch lächerlicher ist, dass es ein Racheakt für die lächerliche Aktion von Barca ist."
Aus einer Tradition entstand ein weiterer Schauplatz für die Rivalität zwischen beiden Klubs. Ein kindischer Hahnenkampf ermordete den Clasico-Pasillo.
Dabei scheint es, dass die Klubs ganz gut damit leben können. Nie wieder zusätzliche Demütigung. "Wenn es kein Spalier gibt, gibt es eben keines. Das ist kein Problem", sagte etwa Barca-Boss Josep Bartomeu.
Trainer Valverde würde das so unterstreichen. Für ihn komme der sportliche Aspekt des vermeintlich größten Ligaspiels der Welt ohnehin viel zu kurz: "Ihr macht mich noch verrückt mit diesem ganzen Pasillo-Gerede. Belassen wir es dabei."