Dieser Text erschien erstmals im April 2020.
Am späten Abend des 11. März 2020, als der Ball noch rollte und an Corona-Quarantäne nicht wirklich zu denken war, hatte Jürgen Klopp einen ziemlichen Hals. Sein FC Liverpool war gerade in der Champions League ausgeschieden, und das ausgerechnet zu Hause an der Anfield Road, einer der mächtigsten und magischsten Fußball-Bastionen in Europa, in der für gewöhnlich nur die Heimmannschaft zu Wundern imstande ist.
Der Gegner an jenem Abend, Atletico Madrid, hatte aber wie so oft erst clever verteidigt und dann eiskalt per Konter zugeschlagen. "Ich merke einfach, was für ein beschissener Verlierer ich bin", schimpfte Klopp nach der überraschenden 2:3-Niederlage, die durch drei späte Treffer der Gäste in der Verlängerung zustande gekommen war. "Ich könnte die ganze Zeit darüber reden, wie man mit so einer Mannschaft so einen Fußball spielen kann. Das verstehe ich nicht."
Diego Simeone, der Trainer von Atletico, nahm die Aussagen des Liverpooler Managers gelassen zur Kenntnis. Es war nichts Neues für ihn. Praktisch seit seinem ersten Spiel, einem 0:0 beim FC Malaga am 7. Januar 2012, wird Simeone nachgesagt, den Bus vor dem eigenen Tor zu parken. Unangenehm zu spielen. Oft am Rande des Erlaubten oder darüber hinaus. So, wie er es schon als Spieler tat. Und weswegen sie ihm in seiner Heimat Argentinien den Spitznamen "El Cholo" verpassten.
Simeone trägt die in Südamerika eher abwertend verwendete Bezeichnung für Menschen indianischer Abstammung mit Stolz. Kritik an dem, wofür er steht, ist ihm gleich. Und deshalb sagte er nach dem Duell mit Klopp schmunzelnd: "Wir versuchen, die Defizite des Gegners zu nutzen. Und wir versuchen zu gewinnen. Darum geht es im Fußball doch. Ums Gewinnen."
Gil: "Manche unserer Spieler verdienen es nicht zu leben"
Gewinnen. Ein Privileg, in dessen Genuss sie bei Atletico vor Simeones Ankunft meist nur in längeren Abständen kamen. Der Klub glich viele Jahre lang einer Wundertüte, bei der Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklafften. Mal ging es aufwärts, dann wieder bergab. Das schrecklichste Kapitel in ihrer Historie schrieben die Rojiblancos in der Saison 1999/2000. Es war die Seuchen-Saison, in der alles schief lief, was schief laufen konnte und der Klub zum zweiten Mal seit seiner Gründung im Jahr 1903 aus der Primera Division abstieg - und fast nicht zurückkehrte. Doch der Reihe nach.
1987 übernahm der spanische Bauunternehmer und Politiker Jesus Gil das Präsidentenamt von Atletico. Er sollte aber nicht als Präsident in die Geschichte eingehen. Vielmehr als Patron. Reich und schillernd auf der einen, exzentrisch und cholerisch auf der anderen Seite. "Manche unserer Spieler verdienen es nicht zu leben", sagte er einmal nach einer Niederlage in seinem letzten Präsidentenjahr 2003. Es war eine von vielen Aussagen, die gut beschrieben, wie dieser Mann tickte. Er liebte Atletico. Aber er erweckte nicht bloß den Anschein, größenwahnsinnig zu sein. Er war es.
Stars mithilfe von Stadtgeldern: Als Gil Raul die Tür zusperrte
1992 machte Gil etwa die Jugendakademie des Klubs dicht, weil er glaubte, das Geld dafür könnte er in bessere Dinge investieren. Zum Beispiel in sündhaft teure Spielertransfers, die kurzfristigen Erfolg versprachen, einigen talentierten Eigengewächsen wie einem gewissen Raul Gonzalez aber auch die Tür zu den Profis zusperrten. Gil holte Stars wie Paulo Futre, Bernd Schuster, Juninho, Christian Vieri oder den heutigen Trainer "Cholo" Simeone ins Estadio Vicente Calderon.
Deals, die er auch finanzierte, indem er als Bürgermeister von Marbella die öffentlichen Gelder der Stadt im Rahmen eines Sponsoring-Vertrages jahrelang in die Klubkassen schleuste. Einst stand auch Jürgen Klinsmann auf seiner Wunschliste. Der für seine anrüchigen Bemerkungen bekannte Atletico-Boss erklärte später aber: "Ich habe Klinsmann am Ende nicht verpflichtet, weil ich gehört habe, dass er Öl verliert." Eine mittlerweile in die Jahre gekommene Redewendung in Spanien, die man für jemanden benutzt, der homosexuell ist.
Atleticos Boss war homophob, rassistisch und rechtsradikal
Gil beleidigte auch einen Schiedsrichter vor laufender Kamera als "Schwuchtel" und bezeichnete nach einem Champions-League-Spiel gegen Ajax Amsterdam die Mannschaft der Niederländer als "FC Kongo", weil sie aus vielen afrikanischen Spielern bestand.
Dem dunkelhäutigen Kolumbianer Adolfo Valencia, der von 1994 bis 1995 weniger erfolgreich für Atletico stürmte, drohte er: "Diesem Scheiß-Neger schneide ich die Kehle durch." Kein Wunder: Als Vorstand einer rechtsradikalen Partei und langjährigem Unterstützer des spanischen Diktators Francisco Franco waren dem hitzköpfigen Gil alle ein Dorn im Auge, die nicht seinem Weltbild entsprachen - oder aber schlichtweg etwas taten, das ihm nicht gefiel.
Gil verschliss 26 Trainer: "Für mich wie Bier trinken"
Es gab bei Atletico auch keinen Trainer, der einen leichten Stand unter Gil hatte. In seinen 16 Jahren als Präsident verschliss er 26 Übungsleiter, darunter Größen wie Cesar Luis Menotti, Arrigo Sacchi, Tomislav Ivic oder Javier Clemente. "Trainer feuern ist für mich wie Bier trinken", sagte Gil einmal, "ich kann 20 im Jahr feuern, notfalls sogar 100."
Auch im Sommer 1999 sann es dem unruhigen Oberhaupt der Colchoneros nach einem Experiment an der Seitenlinie: Er zeigte Radomir Antic zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres die Tür und verpflichtete Claudio Ranieri. Der Italiener bekam wie so viele von ihm den Auftrag, Atletico wie in den Goldenen Siebzigern zu einer großen Nummer in Europa zu formen - und dafür auch ein durchaus talentiertes Team zur Verfügung gestellt. Jimmy Floyd Hasselbaink, einer der besten Stürmer des Kontinents, wechselte etwa für zwölf Millionen Pfund von Leeds United in die spanische Hauptstadt.
Der Niederländer schlug ein, erzielte bis zum Saisonende 24 Treffer in der spanischen Liga. Die sollten aber nicht reichen, um nur vier Jahre nach dem nationalen Double aus Meisterschaft und Pokal die Klasse zu halten. Die mit einigen guten Kickern wie Ruben Baraja, Juan Carlos Valeron oder Joan Capdevila bestückte Mannschaft legte unter dem planlosen Ranieri eine desaströse Spielzeit hin, in der der Fußball von Woche zu Woche in den Hintergrund rückte.
Seuchen-Saison 1999/2000: Hasselbainks Tore zu wenig
Schuld daran war ausgerechnet Gil, der von der spanischen Justiz wegen mehrerer Delikte wie Steuerhinterziehung, Veruntreuung und Korruption aus dem Verkehr gezogen und durch einen Zwangsverwalter ersetzt wurde. Niemand wusste so recht, wie es mit dem mächtigen Patron weitergehen würde. Und Ranieri hatte im März, als Atletico den 19. Platz belegte, schließlich genug.
"Wenn ich mich schon nicht selbst motivieren kann, wie soll ich dann die Spieler motivieren? Ich weiß nicht, was ich hier noch machen soll und werde sowieso permanent unter Druck gesetzt. Deshalb ist es das Beste, wenn ich den Klub verlasse." Auf Ranieri folgte erneut der Serbe Antic, der zu jenem Zeitpunkt seine Abfindung aus dem Vorjahr noch nicht einmal erhalten hatte. Die Unruhe im Verein war jedoch so groß, dass das Team auch mit dem Double-Trainer von 1996 nicht die Kurve kriegte.
Das 2:2 bei Real Oviedo drei Spieltage vor Schluss, bei dem ausgerechnet Hasselbaink einen Elfmeter verschoss, besiegelte den ersten Abstieg seit fast 70 Jahren. Als Atletico wenige Wochen später dann noch das Finale der Copa del Rey gegen Espanyol Barcelona mit 1:2 verlor, herrschte Endzeitstimmung im Süden von Madrid.
Die Fans gingen auf die Barrikaden, denn der Klub stand nicht nur vor einem sportlichen Chaos. Gil hatte vor allem durch seine ausbleibenden Steuerzahlungen einen gewaltigen Schuldenberg angehäuft, der bis heute noch nicht vollständig abgezahlt ist. Dank der sportlichen Erfolge unter Fan-Idol Simeone und dadurch gestiegene TV- und Sponsoring-Einnahmen, aber auch mittels fragwürdiger Partnerschaften wie mit dem Staat Aserbaidschan, gilt der Klub wirtschaftlich inzwischen aber als relativ stabil.
Nach Abstieg: Atletico zahlte zwei Jahre keine Steuern
Es wäre dennoch alles wohl ganz anders gekommen, hätte der spanische Fiskus nach Atleticos Abstieg 2000 härter durchgegriffen. Miguel Angel Gil, Sohn von Jesus Gil und bis heute Geschäftsführer und Mehrheitsanteilseigner des Klubs, gestand nach dem Tod des langjährigen Präsidenten im Mai 2004, dass man bis zur Rückkehr in die Primera Division 2002 überhaupt keine Steuern an die Finanzbehörden entrichtet habe.
Mindestens 50 Millionen Euro soll der Klub Medienberichten zufolge dadurch eingespart und stattdessen für Transfers und Gehälter ausgegeben haben. Umso kurioser, dass die erste Saison in der zweiten Liga trotz dieses unrechtmäßig erschlichenen Wettbewerbsvorteils sehr holprig verlief.
Im Oktober 2001 stand Atletico sogar auf einem Abstiegsplatz. Nicht auszudenken, was ein Abstieg in die dritte Liga für den damals finanziell am Limit stehenden Klub bedeutet hätte.