Der türkische Fußball befindet sich seit diesem 24. September in einer Schockstarre. Auslöser: Die Entlassung von Trainer-Ikone Fatih Terim bei Meister Galatasaray. Würde Borussia Dortmund plötzlich Jürgen Klopp vor die Tür setzen oder Spaniens Verband Vicente Del Bosque die Kündigung per Einschreiben schicken, das Erdbeben wäre kaum größer. Terim ist am Bosporus eine Institution. Umso fragwürdiger sind nun die Umstände der plötzlichen Trennung.
Das Zögern in den Verhandlungen um eine Vertragsverlängerung, die Unentschiedenheit zwischen Klub und Nationalmannschaft, sollen dem 60-Jährigen zum Verhängnis geworden sein, heißt es offiziell. "Nachdem Fatih Terim ein Vertragsangebot über zwei Jahre ausgeschlagen hat, stimmte der Vorstand für die sofortige Trennung," verlautbart die Galatasaray-Presseabteilung. "So soll verhindert werden, dass dem Verein in der öffentlichen Wahrnehmung Schaden zugefügt wird."
Kampf zweier Platzhirsche
Jedoch, größerer Schaden als eben durch die Entlassung hätte nicht entstehen können. Es ist der absolute PR-Gau - hervorgerufen durch einen schon lange schwelenden Konflikt: Vereinspräsident Ünal Aysal hat sich im Pfauenkampf zweier Persönlichkeiten durchgesetzt, die Freunde als stark, Feinde als stur bezeichnen. Der 72-jährige milliardenschwere Unternehmer, seit 2011 im Amt, unterstützt den Klub finanziell, macht Großtransfers möglich. Erst im Juni wurde Aysal mit überwältigender Mehrheit für drei weitere Jahre gewählt. Allerdings war seine Popularität stark mit den Erfolgen des Trainers verbunden, den er einst als erste Amtshandlung holte.
Das Verhältnis zu Terim bekam jedoch schon in der vergangenen Winterpause erste Risse, als der Klubchef die Verpflichtung des Niederländers Wesley Sneijder durchboxte - Terim wollte lieber Kaka von Real Madrid holen. Seit Aysals Amtsantritt soll der impulsive Coach ohnehin immer wieder verärgert gewesen sein, dass über seinen Kopf hinweg Spieler als potenzielle Neuzugänge gehandelt wurden. So war Didier Drogba auch kein Wunschspieler Terims, die Verpflichtung des Ivorers warf die ganze Taktik über den Haufen. Hinzu kommen die ständigen Verunglimpfungen Aysals, die Terim störten. So bezeichnete der Präsident seinen eitlen Trainer öffentlich als "Arbeiter des Klubs".
Dem Vereinsboss stießen die ständigen Wutausbrüche seines Übungsleiters über die Schiedsrichter übel auf - besonders als Terim in der letzten Saison für mehrere Partien gesperrt wurde. Als dann der populäre Trainer im August auch noch die Nationalmannschaft übernahm und sich gegen eine vorzeitige Vertragsverlängerung bei den Gelb-Roten entschied, schienen weitere Reibungspunkte vorprogrammiert.
Pikante Informationen lieferte am Dienstag allerdings Verbandspräsident Yildirim Demirören. Dieser verriet, dass der Galatasaray-Boss dem Verband anbot, Terim in der Winterpause gänzlich freizugeben.
Tochter berichtet über Kündigung
Aysals Vorgehen scheint plötzlich fast schon wie ein Rückfall in eine Ära scheinbar allmächtiger Präsidenten der Istanbuler Großklubs zu sein, die Übungsleiter am Fließband verschlissen und den eigenen Stolz über das Wohl des Vereins stellten. "Ich bin geschockt", sagt auch Stürmer-Legende Tanju Colak, in den 80ern Stürmerstar der Löwen. "Ich verstehe diesen Schritt nicht, er kann nicht gut sein. Der gesamte Vorstand geht ein enormes Risiko ein."
Die Entlassung nahm sogar bizarre Züge an: Terim hatte am frühen Abend noch das Training auf dem Vereinsgelände im Istanbuler Stadtteil Florya geleitet - nach dem Training rief er seine Tochter Merve an. Sie berichtete ihm, dass der Klub ihn soeben entlassen habe. Bis Dienstag hatte der Klub Terim immer noch nicht persönlich informiert.
Ein unwürdigerer Abgang hätte also kaum erdacht werden können für das Klub-Urgestein Terim, der als Spieler auf dem Feld und als Verantwortlicher an der Seitenlinie insgesamt über zwei Jahrzehnte beim türkischen Rekordmeister verbracht hat. Sechs Meisterschaften als Trainer, dazu zwei Pokalsiege, der UEFA-Cup-Sieg 2000 - der Imperator steht für die größten Erfolge der Istanbuler, ist von Experten geschätzt, von Spielern mal geliebt, mal gefürchtet, von Fans verehrt.
Sieger Terim, Verlierer Aysal
Folgerichtig sind sich die so leidenschaftlichen Galatasaray-Anhänger wohl selten so einig gewesen wie seit diesem Dienstagabend. Von "völlig unnötig" über "Katastrophe" bis hin zu ratlosem "was soll das?" geht die Meinung der Cimbom-Fans - und gibt einen eindeutigen Tenor wider: Die von der Klubführung beschlossene Trennung ist ein Desaster - mit einem klaren Gewinner: Fatih Terim. Er gilt jetzt als Opfer eines eitlen Präsidenten. Läuft es mit dem noch unbekannten neuen Galatasaray-Trainer nicht absolut überragend, wird sich Aysal kaum im Amt halten können, trotz der kürzlich erfolgten Wiederwahl. "Eine erneute Kandidatur 2016 scheint schon jetzt ausgeschlossen", schreibt auch Mehmet Demirkol von der Sportzeitung "Fanatik".
Terim indes kann sich nun komplett auf die Nationalmannschaft konzentrieren, die er mit zwei Siegen in seinen ersten beiden Partien wieder voll ins Rennen um Platz zwei der WM-Quali-Gruppe D zurückgebracht hat. Erreicht die Türkei das Turnier in Brasilien, wird er endgültig zum Fußball-Götzen der Nation.
Klappt es nicht mit der Weltmeisterschaft, so hat er es zumindest geschafft, das zweifelsohne vorhandene Potenzial der Elf endlich auszuschöpfen - was Vorgängern wie Guus Hiddink oder zuletzt Abdullah Avci nicht im Ansatz geglückt ist. Die türkischen Fans zumindest haben schon jetzt den Glauben an ihre Elf und eine verheißungsvolle Zukunft zurückgewonnen.
"Galatasaray ins Chaos gestürzt"
Dass der türkische Fußballverband TFF den vorerst auf die restliche WM-Qualifikation beschränkten Vertrag nun verlängern wird, gilt als sicher. Terims schon dritte Amtszeit bei der Landesauswahl soll von konstantem Erfolg gekrönt sein.
Ein Optimismus, der in Galatasaray-Fankreisen fehlt. "Mit großer Trauer müssen wir die Trennung von unserem Trainer hinnehmen", erklärte die größte und einflussreiche Fan-Gruppierung "ultrAslan". "Zu oft werden die Verdienste großer Persönlichkeiten vergessen. Durch die Entlassung von Fatih Terim wurde unser Klub ins Chaos gestürzt."
Spontan versammelten sich nach Bekanntwerden der Terim-Entlassung Dutzende Anhänger am Vereinsgelände, skandierten immer wieder "Aysal, tritt zurück!", auch der gesamte Vorstand solle gehen. Am späten Abend warteten dann knapp 200 Fans vor den Toren der Villa ihres geschassten Idols - und Terim enttäuschte nicht, kam bis zum Eingang vor, grüßte und dankte tränenreich für die Unterstützung.
Wer ihm nun als Galatasaray-Trainer nachfolgt ist noch offen, auch wenn Colak vermutet: "Die Vereinsführung muss jemanden in der Hinterhand haben, sonst wäre die Trennung nicht so schnell erfolgt." Der Italiener Roberto Mancini gilt als Topfavorit auf den vakanten Posten, auch Ex-Trainer Mircea Lucescu, Dick Advocaat und selbst Jupp Heynckes werden gehandelt. "Beyaz TV" berichtete Montagnacht von ersten Kontakten zu Heynckes. Geplant sei ein Modell mit Heynckes als Trainer und Erdal Keser als Co-Trainer. Dieser ist aktuell Scout im Klub. Geholt von Fatih Terim.
Die nächsten Termine für Galatasaray