In der kommenden Saison sollen die eigenen Talente den nächsten Schritt gehen. Allein zehn Jugendliche werden in die U 23 befördert, die in der Regionalliga spielt. Einer von ihnen ist U-19-Nationalspieler Shawn Parker, ein begnadeter Offensivspieler mit "herausragenden Qualitäten", wie Kersting sagt. Aber: "Er muss lernen, diese konstant abzurufen und sich 90 Minuten lang auch am Spiel gegen den Ball zu beteiligen."
Dass Kersting dies so explizit anspricht, verwundert nicht. Bei allem Talent: Jeder Spieler muss sich dem FSV und seinem Fußball-Dogma unterwerfen. Der sportliche Leiter Stefan Hofmann ist dafür zuständig, dass dieser von allen Spielern, aber auch von allen Jugendtrainern umgesetzt wird. Hofmann nennt es die "Mainzer Prinzipien".
Ausgehend von Wolfgang Franks Vision, der Mitte und Ende der 90er zweimal den FSV trainierte (Kersting: "Er war der Ursprung des professionellen Mainz 05"), über dessen Schützling Jürgen Klopp und nun Tuchel entwickelte sich ein Fußball-Verständnis, das sich mit einigen Schlagwörter zusammenfassen lässt: "Früh nach vorne verteidigen, aktiv sein, Flachpassspiel, Direktspiel", sagt Hofmann.
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Die drei Säulen der Nachwuchsarbeit
Daher wird den Jugendtrainern ein Katalog an Übungen an die Hand gegeben, um genau das trainieren zu lassen. So mache es wenig Sinn, Elf- oder Zwölfjährige mannschaftstaktische Inhalte zu vermitteln, aber Dreieckübungen seien prädestiniert, um beispielsweise das Direktspiel zu erlernen.
Neben der fußballerischen Ausbildung ruht die FSV-Nachwuchsarbeit auf zwei weiteren Säulen: schulische Erziehung und Charakterlehre - was miteinander einhergeht.
So ist es eine Vorgabe beim FSV, dass jeder Jugendspieler die Schule mit dem Abitur, Fachabitur oder einer berufliche Ausbildung abschließen muss. Wer abbricht, wird aussortiert. Kersting drückt es etwas diplomatischer aus: "In so einem Fall werden wir intensivste Gespräche führen und erklären, was wir als Gegenleistung für unseren Einsatz von ihm erwarten."
Es klinge zwar wie ein Klischee, aber Kersting meint es ernst, wenn er sagt: "Die Eltern eines Spielers geben ihr Kind in unsere Obhut. Wir sind quasi Ersatzeltern. Daher haben wir einen klaren Auftrag, der über den Fußball hinausgeht."
Kolpinghaus statt Internat
Und dazu gehört, einen Nachwuchsspieler bei der Mannwerdung nicht nur als Fußballer und als Schüler, sondern als ganzheitlichen Menschen zu verstehen und ihm einen Weg durch die Adoleszenz zu zeigen.
Es gibt unter den Jugendlichen zwei Gruppen: Jene, die wie Schürrle aus dem Umkreis von Mainz stammen und daher pendeln können. Und solche, die in Mainz übernachten müssen, weil die Eltern zu weit weg wohnen.
Für die zweite Gruppe konzipierte der FSV ein Modell, das einzigartig sein dürfte in Deutschland. Statt wie die anderen Bundesligisten ein eigenes Internat zu betreiben, leben die Teenager im sogenannten Kolpinghaus. Kolpinghäuser sind über ganz Deutschland verteilte Wohneinrichtungen, in denen Auszubildende und Schüler untergebracht sind. In Mainz aber eben auch einige Fußballer.
Zwar sei diese Lösung etwas teurer, so Kersting, aber sie würden einen unersatzbaren Vorteil mit sich bringen: "Die Jungs werden als Mensch und nicht als Fußballer gesehen." So wäre es für den Werdegang eines Leistungssportlers unabdingbar, sich nicht nur auf dem Vereinsgelände aufzuhalten, sondern auch den "Blick für das Leben an sich" zu schärfen.
"Die Spieler sollen die reale Welt erleben - auch Mädchen"
Deswegen ist es eine bewusste Entscheidung des FSV, seinen Nachwuchsspielern mehr Freiheiten zu geben als andere Klubs. Sie müssen sich zwar selbst um die Wäsche oder das Putzen der Küche kümmern, andererseits wohnen sie weitestgehend ohne Kontrolle der Vereins in ihren Apartments, häufig auf einem Stockwerk mit den weiblichen Bewohnern des Kolpinghauses.
"Wir würden nie unangekündigt auftauchen und die Zimmer inspizieren. Sie sollen die reale Welt erleben - mit allem, was dazu gehört, auch Mädchen. Wie sollen Fußballer selbstständig auf dem Platz sein, wenn sie in ihren vier Wänden nicht selbstständig sein dürfen?", sagt Kersting.
Verbleib im Container
Über allem steht ein Wort: Bescheidenheit. Die Zimmer im Kolpinghaus sind genauso funktional möbliert wie Kerstings Büro im Container. Luxus sei auch nicht nötig, viel wichtiger wäre die Atmosphäre: "Viele Eltern schenken uns das Vertrauen, weil man sich bei uns zuhause fühlt. Das Familiäre und Gemütliche ist entscheidend."
Nicht überraschend, dass das Nachwuchsleistungszentrum in seiner behelfsmäßig anmutenden Behausung bleibt, obwohl die Profis aus dem benachbarten Bruchweg-Stadion ausziehen und zukünftig in der modernen Coface-Arena spielen.
Obwohl der Gesamtetat des Vereins von 34 auf 54 Millionen Euro ansteigt. Und obwohl die Container-Landschaft den Charme einer Baustelle hat. "Wir haben doch alles, was wir brauchen", sagt Kersting. "Wir bieten zwar kein Schickimicki, aber ein Gesamtpaket, für das wir uns nicht zu schämen brauchen."
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