Bei all den Transfers um dutzende Millionen, bei all den Gerüchten und Spekulationen, die täglich diskutiert werden, sollte ein Wechsel für schlappe 500.000 Euro in der hysterischen Fußballwelt eigentlich für keinen Wirbel sorgen. Vor allem dann nicht, wenn dieser Transfer vom FC Bayern getätigt wird. Dem Verein also, bei dem die jährlichen Anschaffungskosten für den neuen Mannschaftsbus diese Summe womöglich übersteigen.
Bei diesen 500.000 Euro aber, die der FC Bayern im vergangenen Sommer für den damals 16-jährigen Timothy Tillman zahlte, war alles anders. Denn sie dienten Vielen als Sinnbild für den ausufernden und eskalierenden Kampf um junge Talente im deutschen Fußball.
"... dann setzt der Verstand aus"
Die Bayern kaufen alles auf und bauen für 70 Millionen Euro ein neues Nachwuchsleistungszentrum im Münchner Norden. Uli Hoeneß, der große Macher, nimmt sich des Münchner Nachwuchses an und wildert bei anderen Klubs. Die Bayern zerstören so die Jugendabteilungen der übrigen Vereine. Das Schreckensszenario war schnell gezeichnet - und von Helmut Hack verbal dröhnend untermalt. Dem Präsidenten der SpVgg Greuther Fürth, für die der angeblich sagenhaft talentierte Tillman vor seinem Wechsel zum FC Bayern einst spielte.
"Wenn es so weitergeht, wird der Fußball nicht mehr funktionieren", sagte Hack der Sport Bild. Es ist "eine Katastrophe" und, "wenn Bayern kommt, setzt bei vielen der Verstand aus". Nachdem auch einige 12- und 13-jährige Jugendspieler des FC Augsburg von den Münchnern abgeworben wurden, legte FCA-Manager Stefan Reuter im kicker nach. Die Entwicklung findet er "problematisch" und das Alter prinzipiell "zu früh für einen Wechsel".
Mittlerweile hat sich der Wirbel weitestgehend gelegt. SPOX fragte bei den bayerischen Rivalen der Münchner nach. Wie denkt man beim 1. FC Nürnberg, dem FC Ingolstadt oder dem TSV 1860 über das Verhalten des FCB? Was bedeutet das neue Nachwuchsleistungszentrum des FC Bayern für die Rivalen? Werden die Münchner immer aggressiver? Gerät der Kampf um Nachwuchsspieler aus dem Ruder?
Einfache Rechnungen und neue Maßstäbe
"In meinen Augen hat sich das Verhalten des FC Bayern am Jugendspieler-Transfermarkt in den vergangenen Jahren nicht wirklich geändert", sagt Ronnie Becht, der Leiter des Ingolstädter NLZ. Auch bei den Münchner Löwen, dem lokalsten aller Lokalrivalen des FC Bayern, blickt man entspannt auf die Entwicklung ein paar Meter weiter im Osten, an der Säbener Straße. "Die Bayern waren vor fünf Jahren auf der Suche nach den besten Spielern, sind das jetzt und werden das in fünf Jahren auch sein", sagt Wolfgang Schellenberg, der dem 1860-NLZ vorsteht.
Die Rechnung, die Schellenberg präsentiert, ist so einfach wie einleuchtend. Mehr als 18 bis 20 Spieler können die Bayern auch in Zukunft nicht pro Jahrgang in einem Kader unterbringen. Die Münchner werden also weiterhin versuchen, die Talentiertesten zu sich zu locken - diese aber besser zu fördern und die Durchlässigkeit zur Profiabteilung zu erhöhen. Leichter gesagt als getan, sicherlich.
Bald werden aber zumindest die infrastrukturellen Rahmenbedingungen erfolgsversprechender sein. 2017 wird das neue NLZ im Münchner Norden eröffnet, 30 Hektar und acht Plätze stehen dann zur Verfügung und das ausschließlich für die Jugend. "Die Bayern sind an der Säbener Straße räumlich einfach an ihre Grenzen gestoßen", weiß auch Becht, der sich sicher ist, dass die Bayern mit der neuen Anlage Maßstäbe setzten werden. "Ob die Arbeit dadurch tatsächlich effektiver wird, bleibt natürlich abzuwarten", sagt Becht.
Die wahre Gefahr: Neureiche Rivalen
Effektiv war in den vergangenen Jahren nämlich wenig in der Nachwuchs-Abteilung des FC Bayern. Seit David Alaba, der 2010 debütierte, hat sich kein Spieler aus der Jugend mehr nachhaltig in der ersten Mannschaft etablieren können. Die letzte A-Jugend-Meisterschaft wurde 2004 gewonnen. Die hauseigene Reserve steckt seit Jahren in der Regionalliga fest und scheitert Saison für Saison am anvisierten Aufstieg. Nicht zuletzt deshalb wurden neulich die Verantwortungsträger ausgetauscht. Michael Tarnat und Jürgen Jung gingen, Peter Wenninger und der erst 23-jährige Timon Pauls übernahmen mehr Verantwortung.
Auf der Suche nach neuen Talenten wird auch dieses Duo zumindest in näherer Zukunft auf ein großes Faustpfand bauen können. "Bayern ist die Nummer eins in Deutschland", sagt 1860-Mann Schellenberg, "und wenn die Nummer eins anfragt, ist das natürlich für jeden Spieler eine Ehre." Eine Ehre, die viele auch wahrnehmen wollen.
Wie lange die Bayern im Nachwuchsbereich noch als die Nummer eins angesehen werden, ist aber fraglich. "RB Leipzig und die TSG Hoffenheim kämpfen aggressiv um Jugendspieler, da sie über eine gewaltige Manpower verfügen", sagt Michael Köllner, der Leiter des Nürnberger NLZ, "dem Scouting- und Nachwuchsbereich kommt bei diesen Vereinen entsprechend eine große Gewichtung zu."
Durchlässigkeit als Argument
Problematisch für kleinere Vereine, die sich über ihre Nachwuchsabteilung definieren und vor abwerbungswütigen Konkurrenten fürchten müssen, ist also weniger der FC Bayern, der sich schon seit Jahren um die größten Talente bemüht. Problematisch sind vielmehr neureiche, aufstrebende Vereine. Sie drängen auf den Markt. Und verdrängen zunehmend alteingesessene Vereine.
Klubs wie Hoffenheim oder Leipzig rüsten immer weiter auf - und bieten oftmals ideale Entwicklungsmöglichkeiten. "Je mehr Experten man im Einsatz hat und je mehr man im Nachwuchsbereich sichtet, desto mehr Spieler wird man letztlich auch verpflichten", sagt Köllner, "das hat in den vergangenen Jahren durch diese beiden Vereine sicherlich zugenommen."
Und diese beiden Vereine habe den Bayern sogar etwas voraus: Durchlässigkeit und die Chance auf relativ schnelle Einsätze für die Profi-Mannschaft. Genau das war oftmals das schlagende Argument für Vereine wie 1860, Ingolstadt oder Nürnberg, um Jugendspieler mit Angeboten des FC Bayern zum Bleiben zu überzeugen - und wird beim Werben von Leipzig oder Hoffenheim entwertet.
"Nehmen an keinem Wettbieten teil"
Der Kampf um die besten Nachwuchsspieler spitzt sich also zu, das steht außer Frage. "Man muss sich dem Kampf um die Talente stellen, da führt kein Weg daran vorbei", sagt Schellenberg von 1860. Ab einem gewissen Punkt ist dieser Kampf für verhältnismäßig klamme Traditionsvereine ein hoffnungsloser. "Wir nehmen an keinem Wettbieten um junge Spieler teil", sagt Köllner vom FCN. Wenn ein Talent der Meinung ist, er würde den nächsten Schritt bei einem Top-Klub wie dem FC Bayern machen, dann "werden wir ihm das auch nicht mehr ausreden".
Timothy Tillman zog es letzten Sommer jedenfalls von Franken nach München. 26 Spiele bestritt er seitdem für die A- und B-Jugend der Bayern, erzielte sechs Tore und bereitete 15 weitere vor. Eine ordentliche Bilanz für einen offensiven Mittelfeldspieler. Noch lässt sich aber kein Fazit ziehen. Die Weggabelung zwischen erträumter Profikarriere und enttäuschtem Aufgeben steht ihm noch bevor.
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