Etwas mehr als hundert Meter liegen zwischen der Erinnerung an eine wilde, stimmungsvolle aber eben auch sehr gefährliche Zeit und dem Mahnmal einer unfassbaren Tragödie, die dieser Zeit ein jähes Ende setzte. Mit drei silbernen Landesmeisterpokalen sind die Paisley Gates vor dem Kop, der legendären Fantribüne von Liverpools Anfield Road, verziert. Einem für den Titel 1977, einem für den 1978 und einem für den Titel 1981. Bob Paisley errang sie alle drei als Trainer, als Dank bekam er ein Gate mit seinem Namen.
Es ist die Erinnerung an eine Zeit, in der der FC Liverpool Europa dominierte, sein Stadion als das stimmungsvollste der Welt galt und sich in England als erstem Land überhaupt eine weitverbreitete aktive Fankultur etablierte. Eine Fankultur, die seit den 1960er Jahren für kreative Gesänge und ein buntes Fahnenmeer gleichermaßen stand wie irgendwann auch für unkalkulierbare Gewaltausbrüche. Eine Fankultur, um deren Sicherheit sich der Staat nicht sonderlich sorgte.
Durch die Paisley Gates muss man hindurchspazieren und dann vor dem Kop Richtung Westen weitergehen, vorbei am berühmten Pub The Albert, einmal rechts abbiegen, die Gegentribüne entlang und schon steht man vor dem Hillsborough Memorial. Dem Mahnmal, das an den 15. April 1989 erinnert. 96 Namen sind in goldener Schrift auf eine Marmorplatte eingraviert, stets mit brennenden Kerzen und etlichen Blumen dekoriert.
96 Menschen verloren damals vor knapp 28 Jahren ihr Leben. Ohne eigenes Verschulden, wie sich später herausstellen sollte. 96 Fußballfans, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Im Hillsborough Stadium von Sheffield trug sich beim FA-Cup-Halbfinale zwischen Liverpool und Nottingham Forest eine folgenschwere Massenpanik zu. Sie hätte aber auch in einem der dutzenden anderen großen Fußballstadien des Landes passieren können. Im Old Trafford von Manchester, im St. James's Park von Newcastle vielleicht, im Villa Park von Birmingham oder, ja, oder gar hier in Liverpool an der Anfield Road.
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Lord Taylors 76 Empfehlungen
Die Katastrophe von Hillsborough, sie war jedenfalls der Urknall, der den englischen Fußball so intensiv und nachhaltig in seiner Gesamtheit erschütterte, wie vielleicht kein einzelnes Ereignis je zuvor oder danach.
Die primäre Konsequenz dieser Katastrophe trug neben viel Trauer und auch Wut und Unverständnis den Namen "Taylor Report". "Empfehlungen für Maßnahmen zur Kontrolle von Zuschauermengen und der Sicherheit bei Sportveranstaltungen" sollte er abgeben, verfasst wurde er von einem Richter mit dem herrlich englischen Arbeitsnamen Lord Taylor of Gosforth.
76 Empfehlungen umfasste sein abschließender Report, dessen Ziel es war, das Stadion-Erlebnis sicherer zu gestalten. Unter anderem wurden sofortige Untersuchungen der Sicherheitszertifikate in allen Stadien anberaumt, außerdem sollten in allen Spielstätten Begrenzungszäune beseitigt, der Alkoholausschank verboten und die Kapazitäten pauschal um 15 Prozent verringert werden. Die weitreichendste Folge war aber die Abschaffung der Stehplätze.
Eine Frage der Zeit
Jahrzehntelang prägten die gigantischen Stehplatztribünen die englische Fankultur, die als Vorbild für Fußballfans weltweit galt. Noch bevor in Italien die Ultra-Bewegung entstand und sich von dort über ganz Kontinentaleuropa ausbreitete. Die Engländer waren lange nicht nur Vorreiter, was die Entwicklung des Fußballsports an sich betraf. Die Engländer waren auch Vorreiter, was das aktive Unterstützen ihrer Mannschaften betraf.
Während sich also der Zugang der Fans zu ihrem Sport wandelte, wandelten sich nicht die Bühnen, auf denen sie auftraten, oder die Ordnungshüter, die sie beschützen sollten. Jahrzehntealte Stadien marodierten vor sich hin, Polizei-Strategien entwickelten sich nicht weiter. Die Sicherheit der Fans? Interessiert uns doch nicht!
Die ganz großen Katastrophen, sie waren nur eine Frage der Zeit. 1985 starben im Valley-Parade-Stadion von Bradford bei einem Tribünenbrand 56 Menschen, wenige Tage später im Heysel-Stadion von Brüssel wegen von Liverpool-Fans verursachten Ausschreitungen 39. Die Hilflosigkeit der Öffentlichkeit wurde immer deutlicher, gehandelt wurde aber nicht. Erst die Tragödie von Hillsborough sorgte für einen Schlussstrich. Einen drastischen Schlussstrich.
"Highbury! Library!"
Der Taylor Report wurde umgesetzt und löste eine Kettenreaktion aus, die so wohl nicht ganz gewollt war. Das Resultat des so hehren Versuchs, den englischen Fans ein sicheres Stadion-Erlebnis zu ermöglichen, war nicht nur die erfolgreiche Schaffung eines sicheren Stadion-Erlebnisses, sondern auf lange Sicht auch die weitestgehende Auslöschung der so legendären Stadion-Atmosphären.
Die Klubs wurden nun also angehalten, aus Stehplätzen Sitzplätze zu machen. Viel Geld kosteten die Umbaumaßnahmen und die Folge waren geringere Stadion-Kapazitäten. Oder auch: Höhere Ausgaben, niedrigere Einnahmen. Die Klubs hatten ein Problem, überlegten wohl kurz über mögliche Lösungsansätze und schoben es einfach Richtung ihrer Anhänger weiter.
Weiter und immer weiter wurden die Ticketpreise in die Höhe getrieben. Die Gründung der Premier League 1992 tat ihr Übriges. Teile der traditionellen Anhängerschaft konnten sich den Eintritt irgendwann nicht mehr leisten. Oder wollten ihn sich nicht mehr leisten.
Die Erleichterung über die nun sicheren Stadien war anfangs natürlich groß. Irgendwann, ja irgendwann kam aber auch Wehmut nach den positiven Seiten der alten Zeiten auf. Der legendäre "Roar" wurde leiser oder verschwand ganz. "Highbury! Library!", riefen Auswärtsfans nun bei Spielen gegen Arsenal. Auch wenn es sich dann nicht mehr so schön reimt, ließe sich dieser Gesang auf jedes andere Stadion Englands übertragen. "Anfield! Library!" "Old Trafford! Library!"
Beinbruch trotz Sitzplatz, Beinbruch wegen Sitzplatz
Die gänzliche Abschaffung der Stehplätze war ein drastischer Schritt und einer, der, je länger die großen Tragödien zurücklagen, immer kritischer hinterfragt wurde. Die Regierung "solle Möglichkeiten der Schaffung sicherer Stehplatzbereiche in der englischen Premier League prüfen", forderte der liberaldemokratische Unterhaus-Abgeordnete Mike Hancock in einem Antrag bereits 2006. Dutzende Parlamentarier sollten ihn unterschreiben. Widerstand regt sich natürlich auch von den Fans selbst, etwa mit der Initiative "Stand up, sit down".
Gleichzeitig treffen die Fans - trotz offiziellem Verbot - auch ganz eigenständige Maßnahmen. Sie stehen halt einfach vor ihren Sitzschalen. Anfangs wurde dies sanktioniert, bald aber irgendwie toleriert. "Bei jedem Spiel, in jedem Stadion stehen tausende Leute vor ihren Sitzen und die Verantwortlichen schauen weg", sagt Sean Whetstone, West-Ham-United-Dauerkartenbesitzer und ein bekannter Blogger gegenüber SPOX. Akhil Vyas vom Arsenal-Supporters-Trust äußert sich im Gespräch mit SPOX ähnlich: "Speziell bei Auswärtsspielen ist das die inoffizielle Regel und keiner hindert einen daran."
Sicherer als normale Stehplätze ist diese fragwürdige Praxis des Stehens vor den Sitzschalen wohl nicht. Anfang dieser Saison brach sich ein Fan von Manchester United beim Spiel gegen Hull City im Stadion ein Bein. Beim ekstatischen Torjubel fiel er über eine Sitzschale.
Verlorene Vorbildrolle
Immer vehementer und zielführender wird nun die Einführung von "Safe Standing" diskutiert. Stehplatzbereichen also, wie sie in Deutschland seit Jahrzehnten üblich sind. Einst nahm man sich hierzulande die englische Stadion-Atmosphäre als Vorbild. Nun hat sich das Blatt gewendet. "Wir sind neidisch", sagt Vyas, "solche Atmosphären wie in Deutschland wollen wir auch". Ironie der Geschichte.
"Safe Standing wäre keine Rückkehr in die dunklen Zeiten des englischen Fußballs", ist die These eines kürzlich erschienen Kommentars im englischen Guardian. Zu Wort kommt darin auch ein gewisser Leo Brooks. Sein Bruder Andrew starb einst in Hillsborough. "Ich weiß, dass es mein Bruder gehasst hätte, im Stadion zu sitzen", erzählt er, "nicht das Stehen, sondern andere Faktoren haben meinen Bruder das Leben gekostet."
Etliche Empfehlungen des Taylor Reports waren richtig und wichtig, um den Zustand in Englands Stadien sicherer zu gestalten. Einige wenige waren zu drastisch und zerstörten unbeabsichtigt und nebenbei eine ganze Fankultur. Ein behutsamer Schritt zurück würde in dieser Hinsicht für das Hochglanz-Produkt Premier League zwei nach vorne bedeuten.
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