Die Bundesliga ist mitten in der heißen Phase der Saisonvorbereitung. In den Trainingslagern wurden die Grundlagen für eine lange Saison gelegt. Auch im Amateurfußball bereiten sich die Klubs bis hinunter zur Kreisklasse auf die neue Spielzeit vor. Die spannende Frage: Wie trainiert man richtig? Wie hat sich die Methodik in den letzten Jahren entwickelt? SPOX geht der Frage der Trainingsmethodik theoretisch und in Selbstversuchen auf den Grund. Teil 4: Technik.
Wer wissen will, wie rasant sich der Fußball verändert, dem genügt ein Blick auf ein paar recht beeindruckende Werte: Als die deutsche Nationalmannschaft beim Confed Cup 2005 einen ersten Hauch von neuer Spielkultur versprühte, notierten die fleißigen Helferlein von Jürgen Buschmann allerhand Zahlen, Statistiken, Daten.
Die Abteilung Spiel-Scouting beim DFB steckte noch in den Kinderschuhen, Buschmann, im Hauptberuf Sportpädagoge an der Sporthochschule Köln, und sein Team von rund 50 Mitarbeitern lieferten dennoch schon unzählige Werte. Im Rückblick betrachtet war einer ganz besonders prägnant - weil er mit einer auffällig kurzen Halbwertszeit gesegnet war.
Quantensprung in der Ballkontaktzeit
Es geht dabei um die so genannten Ballkontaktzeiten, also die Spanne zwischen Ballannahme und Abspiel eines einzelnen Spielers. 2,8 Sekunden ermittelten die Späher im Schnitt. Kein absolutes Weltklasse-Niveau, aber ein guter Wert - für damalige Verhältnisse.
Nur fünf Jahre später, bei der WM 2010 in Südafrika, schaffte die deutsche Mannschaft verglichen damit aber einen Quantensprung: Lediglich 1,1 Sekunden verweilte ein Spieler am Ball. In den Spielen gegen England und Argentinien lag der Wert sogar bei 0,9 Sekunden. Nur eine Mannschaft war im Durchschnitt besser: Weltmeister Spanien mit 1,0 Sekunden.
Fußball gilt als das einfachste Spiel der Welt, seine Regeln sind im Grunde simpel zu verstehen. Das Anforderungsprofil an jeden einzelnen Feldspieler aber könnte schwieriger kaum sein: Weil rund 90 Prozent aller Ballkontakte mit Füßen oder Beinen abgewickelt werden.
Es geht mehr als bei jedem anderen Ball- oder Rückschlagspiel um die Minimierung des Faktors Zufall, der je nach Ligenzugehörigkeit von oben (Bundesliga) bis ganz unten (Hobby-Liga) zunimmt. Der Schlüssel dazu liegt in der technischen Ausbildung der Spieler.
Raum und Zeit das knappste Gut
Als Günter Netzer oder Johan Cruyff die Spielfelder ihrer Zeit beherrschten, waren die Parameter Raum und Zeit noch zu vernachlässigende Größen. Ihre Ballkontaktzeiten wären im zweistelligen Sekundenbereich gelegen, hätte sich jemand die Mühe gemacht und sie analysiert.
Heute sind Raum und Zeit das knappste Gut des Fußballers, gepaart mit einer um ein Vielfaches erhöhten Spielgeschwindigkeit und einem aggressiven Gegnerdruck ergeben sie ein komplexes Geflecht an Problemstellungen, aus denen es nur einen Ausweg gibt: die technische Fertigkeit am und mit dem Ball.
Aber wie sieht modernes Techniktraining aus? Es gibt viele Herangehensweisen an die Frage aller Fragen. Eine noch junge, aber von vielen Bundesligisten und teilweise auch der Nationalmannschaft umgesetzte Strategie ist der "differential learning approach", das differentielle Lernen und Lehren.
Bewusst gestreute Bewegungsdifferenzen und Bewegungsfehler
Im Wissenschafts-Deutsch lautet eine Definition: "Die Offenheit, Dynamik und Komplexität des Systems Mensch für das Erlernen von Bewegungsmustern wird genutzt, um durch eine Vielzahl von Übungsdifferenzen (vielfältige Varianten eines Bewegungsablaufs) einen selbstorganisierenden Prozess auszulösen und das Finden des eigenen Bewegungsoptimum zu ermöglichen, ohne ein fremdes Vorbild kopieren zu müssen."
Oder vereinfacht: Selbst die einfachste Übung - zum Beispiel die Ballkontrolle nach einem flachen, wenig druckvollen Zuspiel - wird nicht mehr bis zum Erbrechen in ein- und derselben Variante hundertfach wiederholt. Es gibt keine generalisierten Programme, die durch ständiges Üben eingeschliffen werden können. Vielmehr sollen bewusst gestreute Bewegungsdifferenzen und Bewegungsfehler das motorische Lernen ermöglichen.
Die Grundidee dahinter ist einleuchtend: Kein Spieler führt exakt dieselbe Aktion zweimal aus. Er hat immer mit äußeren Umständen und Störungen zu kämpfen, die er nur schwer oder gar nicht beeinflussen kann. Mit dem Gegner, dem Rasen, dem Wetter, seiner eigenen Bewegungsausführung. Selbst die Standardsituationen sind im Fußball gar nicht so standardisiert.
Zwei gleiche Freistöße? Drei Millionen Wiederholungen
Ein Freiwurf beim Basketball läuft immer nach demselben Muster ab. Der Spieler wird in seiner Aktion nicht abgelenkt durch widrige Witterungsverhältnisse, er muss sich nicht an die Beschaffenheit des Bodens anpassen, er muss den Ball zwar präzise, aber ohne die Variable Druck bzw. Schärfe abfeuern - er hat keinen Gegner mehr zwischen sich und dem Korb.
Selbst die größte Standardchance, die der Fußball bietet, ist da bedeutend schwerer auszuführen und obliegt mehreren Faktoren. Sogar die Massenunwucht eines Balles nahe des Ventils ändert dessen Flugbahn. Aus einem harmlosen Spannstoß kann unter bestimmten Voraussetzungen ein unangenehmer Flatterball werden.
Oder das Stollendesign: Der Winkel des Standbeins und der Druck des ausschwingenden Beines variieren je nach Rasenbeschaffenheit und Standfestigkeit, je nach Noppen bei stumpfem Belag oder Stollen bei nassen Witterungsverhältnissen. Um einen Freistoß aus 20 Metern zweimal exakt gleich zu versenken, bedarf es rund drei Millionen Wiederholungen...
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Um sich auf diese Vielzahl an Bedrohungen anpassen zu können, verfolgen einige deutsche Profiklubs den differenziellen Lehransatz in ihrem Techniktraining. Thomas Tuchel lässt beim FSV Mainz 05 verschiedene Unterarten des klassischen Elf gegen Elf auf ein Großfeld einüben.
Er spielt dabei mit den Parametern Raum und Zeit. Entweder spielen zwei gleich große Gruppen (mit acht, neun, zehn oder elf Spieler) auf einem stark begrenzten Spielfeld (z.B. nur in einer Spielhälfte) mit nur maximal zwei erlaubten Kontakten pro Spieler. Oder aber die angreifende Mannschaft hat für ihren Torabschluss nur einen bestimmten Zeitrahmen zur Verfügung - dann tickt die Uhr wie die Shot Clock beim Basketball.
Arno Michels: "Kein ständiges Wiederholen"
"Differenzielles Lernen versuchen wir mit Spielformen abzubilden. Kein ständiges Einschleifen, kein ständiges Wiederholen, sondern Veränderungen. Es geht darum, immer neue und veränderte Situationen herzustellen. Durch extreme Verengung oder Verbreitung der Räume oder durch das Spielen unter extremem Zeitdruck", erklärt Tuchels Co-Trainer Arno Michels gegenüber SPOX.
"Wir arbeiten auch mit unterschiedlichen Farben, um neue Spielpartner und Gegenspieler zu finden nach Ballverlust. Zum Beispiel mit drei Mannschaften, bei dem sich zwei Mannschaften je nach Spielsituation zusammenfinden. Das Hauptziel ist, möglichst viele Varianten zu bekommen und durch die Verschiedenhaftigkeit der Bewegungsabläufe zu einer verbesserten Technik zu kommen."
Das Ziel der Übungen ist immer gleich: Die Spieler sollen sich trotz Einschränkungen, Regularien oder Restriktionen so schnell wie möglich der jeweiligen Situation anpassen und die bestmögliche Lösungsmöglichkeit finden. Gerne verwenden Fußballlehrer den inflationären Begriff der Automatismen, die sich einspielen müssen.
Borussia Dortmund trainiert im Käfig
Dabei sind jene Automatismen lediglich als ein Grundgerüst zu definieren, an dem sich der Spieler bei einer bestimmten Bewegungs- oder Passfolge orientiert. Denn: Eine identische Spielsituation tritt nahezu unmöglich zweimal auf. Dafür entwickeln 22 Individuen auf dem Platz viel zu viele Reaktionen und Kombinationen, die niemand vorhersagen und kontrollieren kann. Also müssen die kognitiven Abläufe trainiert werden.
Borussia Dortmund leistet sich bald einen neu konzipierten Käfig, um seinen Spielern im individualtechnischen Bereich noch mehr Handlungsschnelligkeit und technische Fertigkeiten anzutrainieren. Der Spieler steht dabei in der Mitte des Käfigs und erwartet einen Ball, der von einer Maschine mit variabler Geschwindigkeit zum Rezipienten gespielt wird.
Die Bande des Käfigs ist rundherum ausgestattet mit insgesamt 18 Quadraten. Während der Spieler das Zuspiel erhält, leuchtet quasi zeitgleich eins der Quadrate auf. Der Spieler muss den Ball nun schnell und sauber verarbeiten und das aufleuchtende Quadrat mit seinem Schuss treffen.
Sammer: "Technik unter Zeitdruck"
"Ein Aspekt unserer Prognoseleistung beim DFB lautet: Technik unter Zeitdruck", erklärt DFB-Sportdirektor Matthias Sammer. "Wir beginnen heute deutlich früher mit einfachen Bewegungsformen und -mustern und mit einstudierten Abläufen, um diese dann wie ein Puzzlestück in Passformen und positionsspezifische Grundformen einzugliedern. Wir nähern uns hierbei komplexen Spielformen an."
Im Profibereich gibt es allerdings zwei "Probleme": Zum einen sind die Spieler hier technisch bereits nahezu vollständig ausgereift. Wirklich Neues ist kaum mehr zu erlernen, letztlich geht es nur noch darum, das vorhandene Können unter Extrem-Bedingungen abzurufen. Wie bei einem Stresstest.
"Auf Bundesliga-Ebene ist eine reine Verbesserung der eigentlichen Technik nur schwer möglich, weil die Spieler schon über eine sehr gute Technik verfügen. Im Grunde sind es Grundanwendungen, die immer wieder abgerufen werden. Eher geht es darum, diese Grundanwendungen in Stresssituationen abzurufen. Da hilft das differenzielle Lernen", sagt Michels.
Zum anderen ist der Gewinn durch das differenzielle Lernen noch nicht endgültig bewiesen. "Die Untersuchungen des Mainzer Professors Schöllhorn umfassen Amateurspieler. Es gibt noch keine Untersuchung, die valide sagen kann, was differenzielles Lernen im Profifußball und für die Technik wirklich bringt."
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Im Amateurbereich hat sich die Methode allerdings längst etabliert und ist in zahlreichen Versuchsmodellen erwiesen. Die Faustregel dafür, und die hat schon seit Jahrzehnten Bestand, lautet: Vom Allgemeinen zum Speziellen, vom Einfachen zu Schwierigen, vom Hundertsten ins Tausendste. Wobei beim differenziellen Lernen noch das Erfahren aus Fehlern dazukommt.
Hier werden in den Trainingsablauf bewusst Fehlerquellen eingebaut, um den Spieler auf mögliche Spielsituationen vorzubereiten oder ihm im Bewegungsablauf die Unterschiede zwischen fehlerhafter und optimaler Ausführung zu verdeutlichen.
Jonglieren und Passen gleichzeitig
Beim Torschuss kann dies zum Beispiel sein: Das Standbein vor, hinter oder neben dem Ball. Verschiedene Variationen der Oberkörper-, Arm- und Kopfbewegungen, die Variation des Anlaufs oder des Schwungbeins.
In der Ballbehandlung ist folgendes Modell effektiv: Spieler A und B stehen sich gegenüber. Spieler A jongliert einen Ball und spielt ihn hoch und senkrecht in die Luft. Jetzt erhält er einen flachen Pass von Spieler B und spielt diesen direkt zurück. Den herabfallenden Ball nimmt Spieler A sofort aus der Luft wieder auf und jongliert weiter.
Bei beiden Übungen gilt: Die Kombination der Abänderungen ergeben wiederum viele neue Bewegungsmuster, der Spieler erfährt neue Lösungswege.
In der Praxis sieht ein Versuchsaufbau in einer etwas komplexeren Übung mit Dribbling und abschließendem Torschuss wie folgt aus: Der Spieler dribbelt in normalem Tempo durch den Parcours, der Ball wird nach Möglichkeit beidfüßig geführt und die Aktion aus 16 Metern zentraler Position damit auch abgeschlossen. Im Tor steht kein Torhüter. Der Spieler kann sich also komplett auf seine Stärken konzentrieren und kann den Ball ohne großen Zeitdruck im Tor platzieren.
Jetzt dribbelt der Spieler in gesteigertem Tempo durch den Parcours, führt den Ball mit beiden Beinen und schließt aus 16 Metern ab. Im Tor steht jetzt zudem ein Torhüter. Der Spieler hat mehr Zeitdruck und benötigt jetzt schon mehr Ballkontrolle. Der Torabschluss gestaltet sich je nach Positionierung und Verhalten des Torhüters.
Der Spieler hat jetzt Druck durch einen halbaktiven Gegenspieler. Er muss improvisieren, auf die Reaktion die geeigneten Lösungen finden. Unter Umständen wird er in seiner Aktion abgedrängt, der Schusswinkel beim Torabschluss ändert sich. Von der ursprünglichen Ausgangslage sind nur noch rudimentäre Bruchstücke verblieben. Ein hohes Maß an technischer Kontrolle unter zeitlichem und räumlichem Druck ist vonnöten, um die Aktion erfolgreich abzuschließen.
Das Techniktraining ist schon längst eingebettet in andere Trainingsbereiche, die Übergänge dabei sind fließend. Kondition, Koordination, Taktik, Leistungssteuerung - alles nimmt Einfluss auf die technische Ausbildung eines Spielers.
Aus anderen Sportarten können für bestimmte Bewegungsabläufe elementare Dinge übernommen werden, wie zum Beispiel das Seilspringen als Basis für die Armbewegung beim Übersteiger dienen kann.
"Man darf das Thema nicht losgelöst, sondern komplex betrachten. Einst wurde großen Wert auf Ballbehandlung gelegt, auf beidfüßige Ausbildung, trainiert an Prellwänden. Das gehört auch heute noch zur Basisausbildung, die ich nach wie vor für sehr wichtig erachte. Man muss aber auch alters- und entwicklungsgerecht eine neue Methodik aufbauen", sagt Sammer.
Es gibt hunderte, vielleicht sogar tausende Übungen, die einen Spieler im technischen Bereich besser machen können. Aber erst ihre Verknüpfung untereinander oder bewusst eingestreute Differenzen ergeben praxisnahe Lerninhalte und erzielen größere Effekte im motorischen Lernen.
Aber: "Selbst wenn wir eines Tages die beste Technik zur Verfügung haben, ist immer noch Talent gefragt", sagt Buschmann. "Denn wir werden nie aus elf Ackergäulen elf Rennpferde machen können."