Es ist Samstag, der 13. Juni 1998. Früher Abend. Die Dämmerung über Lyon hat schon eingesetzt. Lee Min-sung und Choi Sung-yong hetzen ihrem Opfer hinterher, das wie das Kaninchen vor der Schlange flüchtet.
Und holen es ein. Die Fluchtwege zugestellt, visieren die beiden südkoreanischen Nationalkicker das Objekt ihrer Begierde an. Das runde Spielgerät am Fuß ihres Gegenübers. Beiden ist bewusst: Jetzt wird es ein Leichtes sein, es zu erobern.
Doch es kommt ganz anders. Mit einer raschen Bewegung klemmt Cuauhtemoc Blanco den Ball zwischen den Innenseiten seiner Schuhe ein und springt mit angewinkelten Beinen zwischen den Kontrahenten hindurch, um die Pille wieder freizugeben und sich auf den Weg Richtung Tor zu machen.
VIDEO: Die verrückten Tricks von Mr. White
Bevor Lee und Choi wissen, wie ihnen geschieht, sind sie auch schon ein großer Teil der WM-Geschichte. Es ist das erste Mal, dass Blanco seinen als Cuauhteminha oder Bunny Hop bekannten Trick der gesamten Fußballwelt vorstellt.
Alle lieben den Bunny Hop
Am Tag nach dem Gruppenspiel der WM 1998 überschlagen sich die Medien mit Lobpreisungen für Mr. White. Blanco wird gefeiert, überall auf dem Planeten ahmen Jugendliche seinen Trick nach.
Die eigene Jugendzeit des mittlerweile 37-Jährigen ist dagegen nicht immer einfach. Aufgewachsen in Tepito, einem Problemviertel von Mexiko-Stadt, muss sich Blanco gegen alle Widerstände nach oben kämpfen. Er lernt früh, die Ellbogen einzusetzen, prägt seinen aggressiven und kreativen Spielstil.
Blanco: "Jeden Tag ein Tor"
Mehr als drei Jahrzehnte später ist er eine Legende in Mexiko, vergleichbar nur mit dem großen Hugo Sanchez. Und Blanco weiß, wie er seine Landsleute begeistert. Etwa mit der Ankündigung, er sei bereit, "jeden Tag ein Tor zu schießen".
Auch im hohen Fußballeralter überrascht er Trainer, Mannschaftskollegen und Zuschauer noch immer mit Kabinettstücken. Der Bunny Hop ist nur der bekannteste seiner unglaublichen Tricks. Hohe Bälle legt er schon mal per Rücken oder gar mit dem Hinterteil in den Lauf eines Mitspielers ab oder stoppt die Kugel mit der Schulter.
"Seine Qualitäten sind unbestritten. Cuauhtemoc Blanco, das mexikanische Genie", schreibt die honduranische Zeitung "El Heraldo" ehrfurchtsvoll. Genial auch sein Torjubel: Kniend reckt er den linken Arm leicht schräg in den Himmel, winkelt den rechten einem Bogenschützen gleich hinter dem Kopf an. Eine Ode an Namensvetter Cuauhtemoc, den letzten Kaiser der Azteken?
Doch Blanco hat sich längst sein eigenes Denkmal geschaffen. Im Museum seiner Heimatstadt steht eine Statue des Buckligen, wie er wegen seines Laufstils etwas abschätzig genannt wird.
Dritte Karriere bei El Tri
Besser gefällt da schon ein anderer Spitzname. Temo, was so viel wie Angst bedeutet. Eben jene verbreitet er seit 1995 in den Abwehrreihen der gegnerischen Nationalteams. Zweimal hat er bereits seinen Rücktritt erklärt, doch als sein Land rief, kam Blanco stets zurück.
Zuletzt vor einem Jahr, als Sven-Göran Eriksson, das drohende Quali-Aus vor Augen, seinen Hut nehmen musste und durch Javier Aguirre ersetzt wurde. Der hatte El Tri schon bei der WM 2002 trainiert und führt das Team mit 18 Zählern aus den letzten sieben Spielen zum 13. Mal zu einer Weltmeisterschaft.
Aguirre: "Wollt ihr Geschichte schreiben?"
Dort kamen die Mexikaner zwar abgesehen von den Austragungen im eigenen Land 1970 und 1986 nie über das Achtelfinale hinaus, doch in diesem Jahr ist die Hoffnung besonders groß. 90 Prozent der Teilnehmer einer Umfrage glauben an den dritten Viertelfinaleinzug, 18 Prozent rechnen sich sogar Titelchancen aus.
Unbegründet scheint die Euphorie nicht. "Ich habe schon an zwei Weltmeisterschaften teilgenommen. Aber die jetzige Mannschaft hat mehr Talent als die in der Vergangenheit", betont Blanco, der nach 1998 auch 2002 im Aufgebot stand.
Auch Aguirre lebt seinen Traum: "Wir haben eine große Generation. Ich habe die Spieler gefragt: 'Wollt ihr Geschichte schreiben?' Es liegt allein in ihrer Hand." Vor allem aber in Kopf und Fuß von Blanco, dem Übervater.
Der Dummkopf unter den Journalisten
Zu ihm schauen alle auf, er bringt Ruhe in die Mannschaft, motiviert die Kollegen. "Wir müssen ihn mit Samthandschuhen anfassen. Denn Cuau ist ein Geschenk für unser Land und unser Team", ist Aguirre begeistert von seinem verlängerten Arm auf und neben dem Rasen.
Da beunruhigt es ihn auch nicht, wenn Blanco in der heimischen Presse Übergewicht angedichtet wird. Immerhin hatten die Teamärzte dem Star während des Kurztrainingslagers der in Mexiko aktiven Nationalspieler Ende April attestiert, "zehn bis 15 Prozent über dem Idealgewicht" zu sein.
Blanco zeigt sich verständlicherweise weniger erfreut. "Ich weiß nicht, wer der Dummkopf war, der gesagt hat, ich sei dick. Er sollte sich mal meine Testergebnisse ansehen. Ich bin bei einhundert Prozent", raunt er der versammelten Journalistenschar während einer Pressekonferenz entgegen.
Blanco, der Fernsehstar
Vor seinen verbalen Angriffen ist niemand sicher. Auf dem Platz gerät er in unregelmäßigen Abständen mit den Unparteiischen aneinander. Mit öffentlichen Verbesserungsvorschlägen für die Kaderzusammenstellung fällt er seinem Coach in den Rücken. Hat dieser doch seine Vorauswahl getroffen, in der neben neun weiteren Europa-Legionären auch der Stuttgarter Ricardo Osorio steht.
Seit dem Frühjahr hat Blanco nun eine neue Bühne, auf der er sich über Gott und die (Fußball-)Welt auslassen kann. In seiner Show "La hora de Cuauhtemoc Blanco" plaudert er mit Prominenten. Schauspieler, Sportler und Politiker geben sich die Klinke in die Hand.
Botschafter und Filmheld
Zugleich kämpft er für die Zukunft seines Sports in seinem Heimatland. Eine Fußballschule ist in Planung. Blanco: "Wir müssen allen Kindern eine Chance geben. Viele haben ein sehr großes Talent, können sich aber nicht optimal entwickeln."
Zudem plädiert das Idol für die Einführung einer Spieler-Vereinigung. Er weiß: Wenn jemand im mexikanischen Fußball Veränderungen schaffen kann, dann er. Zudem wurde er kürzlich zum Botschafter für Tourismus und Sport in Mexiko-Stadt ernannt und soll auch noch Titelheld eines in Planung befindlichen Dokumentationsfilmes werden.
Bloß kein Abschied gegen Uruguay
Doch in den kommenden Wochen gilt sein Blick nur dem Turnier in Südafrika. Es ist Blancos dritte WM, ein Rekord in Mexiko. Und seine letzte. Das hat er immer wieder betont. An eine dritte Rückkehr glaubt - schon des Alters wegen - so recht niemand.
Also wird der Sommer sein letzter großer Auftritt auf der Fußball-Bühne werden. "Die WM ist eine große Motivation. Wir, die Spieler und der Trainerstab, haben eine große Verantwortung", nimmt Blanco das gesamte Team in die Pflicht.
Denn schließen soll sich der Kreis im Nationaltrikot für ihn nur im sprichwörtlichen, nicht aber im übertragenen Sinn. Sein erstes Länderspiel bestritt Blanco am 1. Februar 1995 gegen Uruguay. Der zweimalige Weltmeister ist auch am 22. Juni wieder Gegner - im letzten Gruppenspiel.
Dieses Datum soll bitte nicht das Ende markieren. Weder für Mexikos WM-Traum noch für Blancos Karriere im Trikot der El Tri.
Der Spielplan der WM 2010 im Überblick