Weltmeisterschafts-Halbfinale 1958, Brasilien - Frankreich 5:2
Das Wunder von Bern ist vier Jahre alt. Brasiliens neuer Wunderstürmer 17. Mit dem revolutionären 4-2-4-System und einem schmächtigen Knaben im Gepäck mischt die Selecao die Titelkämpfe im fernen Schweden auf.
Brasilien hatte vorher ganz untypisch die Mission generalstabsmäßig geplant, das Quartier bereits ein Jahr früher ausgesucht, seine Spieler einem Intelligenztest unterzogen (den Garrincha nicht bestand, trotzdem durfte er mitfahren) und vor allen Dingen: In der Heimat noch allen Akteuren die Zähne richten lassen. Überliefert sind 470 Zahnbehandlungen und 32 gezogene Zähne.
Brasilien schlägt sich gegen Österreich, England, die UdSSR und Wales ins Semifinale durch. Erst im Viertelfinale gegen Wales trifft Pele zu seinem ersten WM-Tor überhaupt. Frankreich räumt Paraguay, Jugoslawien und Schottland in der Gruppenphase aus dem Weg und in der Runde der letzten Acht dann Nordirland.
Just Fontaine hat bis dahin in jedem Spiel mindestens einmal getroffen und steht schon bei acht Turniertreffern. In Stockholm kommt es zum Aufeinandertreffen von Gegenwart und Zukunft, Fontaine (24) gegen Pele (17), die Presse erwartet "Monsieur Dynamite" gegen den "Mozart mit Ball".
Dabei sitzt Pele in der Vorrunde zumeist nur auf der Bank, während Fontaine schon uneinholbar in der Torjägerliste führt. In Stockholm aber explodiert der Teenager. Fontaine eröffnet das Duell der Torjäger, als er zum 1:1 ausgleicht. Frankreich hält überhaupt hervorragend mit - dann aber bricht sich Kapitän Robert Jonquet das Bein. Damals durfte noch nicht ausgewechselt werden, also müssen die Franzosen eine Stunde lang mit einem Spieler weniger zu Werke gehen.
Nach der Pause bricht die Equipe Tricolor förmlich ein und Pele erzielt innerhalb von 23 Minuten einen Hattrick. Damit ist er bis heute der einzige 17-Jährige, dem in einem WM-Spiel drei Treffer gelangen. Brasilien siegt am Ende 5:2 und mit demselben Ergebnis dann wenige Tage später auch im Endspiel gegen Schweden. Pele trifft doppelt.
Fontaine reagiert sich im Spiel um Platz drei gegen die deutsche Mannschaft auf seine Art ab und erzielt vier Tore beim 6:3-Sieg der Franzosen. Seine Tore neun bis 13 in diesem Turnier. Auch das bis heute unerreicht.
Weltmeisterschafts-Viertelfinale 1986, Frankreich - Brasilien 5:4 n. E.
Wenn für die Deutschen die Partie gegen Italien 1970 das Jahrhundertspiel war, dann wurde Guadalajara für Brasilianer und Franzosen zum Inbegriff des totalen Fußballs. Selten hatte eine Partie bei einem großen Turnier so viel Spielkultur, Klasse und Drama zu bieten wie jene am 21. Juni im Glutofen von Guadalajara.
Allein die Einzelspieler auf dem Rasen lasen sich wie eine Weltauswahl. Socrates, Falcao, Careca, Platini, Giresse, Tigana - das Beste vom Besten, das der Fußball damals zu bieten hatte.
Brasilien schickte die beste Generation seit dem famosen WM-Triumph von 1970 ins Rennen, Frankreich zwei Jahre zuvor Europameister geworden mit totalem Offensiv-Fußball. Der erste große Titel für die Grande Nation überhaupt.
Brasilien geht trotzdem als Favorit in die Partie. Im Turnierverlauf ist die Selecao ohne Gegentor geblieben, endlich, so hoffte man zu Hause, gab es da eine Mannschaft, die dem spektakulären Offensivstil auch in der Defensive etwas besteuern konnte. Und natürlich waren da noch diese unfassbaren Temperaturen. "Hitze und Höhe sind für uns Gold wert", verdeutlichte Socrates vor dem Spiel noch einmal. "Für die Europäer sind sie der Ruin."
Dokumentiert wird diese Sichtweise mit einem Sturmlauf der Brasilianer in der ersten Halbzeit. Im Fünf-Minutentakt erspielt sich die Selecao Torgelegenheiten. Das Problem: Nur Careca trifft. Immerhin ist der Treffer aber zum Hinknien schön. Mit drei Doppelpässen manövrieren Müller und Sokrates fünf Franzosen aus, ehe Careca diesen Traum von einer Kombination veredelt.
Frankreich stellt um und nimmt die Flügelspieler der Brasilianer fortan noch härter in Manndeckung. Vier Minuten vor der Pause segelt ein abgefälschter Querpass von der rechten Seite in den brasilianischen Strafraum. In der Mitte verpassen Torhüter und Stürmer. Aber das Geburtstagskind ist zur Stelle. Michel Platini feiert an diesem Tag seinen 31. Geburtstag und beschenkt sich mit einem Abstauber selbst.
Die zweite Halbzeit ist ein Irrsinn aus Chancen auf beiden Seiten. Brasilien trifft zum zweiten und dritten Mal nur ans Aluminium, Frankreich scheitert zweimal aus kurzer Distanz. Zico verschießt eine Viertelstunde vor dem Ende einen Foulelfmeter. Verlängerung.
Das Spiel wogt jetzt noch mehr, beide Mannschaften sind mit ihren Kräften fast am Ende. Dann schickt Platini den eben erste eingewechselten Bruno Bellone an der Mittellinie los, kein Brasilianer ist mehr zu sehen. Bellone legt den Ball an Torhüter Carlos vorbei, wird von dem aber gerempelt und strauchelt. Aber er fällt nicht. Schiedsrichter Ioan Igna lässt weiterspielen, die Franzosen rasen vor Wut. Platini setzte seine letzten Kräfte in einen Sprint und verfolgt den Referee, brüllt ihn dabei hysterisch an. Währenddessen fahren die Brasilianer den Konter. Careca steht am Fünfer völlig blank - und haut am Ball vorbei.
Es folgt das Unvermeidbare. Socrates, aus dem Stand, verzögert, schießt halbhoch in die linke Ecke. Joel Bats hält. Yannick Stopyra bringt Frankreich in Führung, Alemao, der Deutsche, gleicht aus. Dann treffen Manuel Amoros und Zico, der sich tatsächlich noch einmal traut und wieder die rechte Ecke wählt. Bellone ist an der Reihe, eben noch um ein sicheres Tor betrogen. Schießt an den rechten Pfosten, der Ball fliegt zurück, an die Schulter von Carlos und von da ins Tor.
Dann Branco. Vollspann. Ausgleich. Platini kommt. Nimmt sich ein Beispiel an Uli Hoeneß 1976 und knallt den Ball weit drüber. Es bleibt beim 4:4, noch eine Runde. Julio Cesar, der später mit Borussia Dortmund große Erfolge feiern sollte, übernimmt mit 23 Jahren die Verantwortung für ein ganzes Land - und knallt den Ball an den linken Pfosten. Wenn Luis Fernandez jetzt trifft, ist Frankreich weiter und Brasilien raus.
Fernandez ist das gute Gewissen der Zauberer Platini und Giresse, er läuft die Lücken zu, die sie eröffnen. Er steht längst zum Schuss bereit, als sich Carlos erst ins Tor bemüht und am Vorbeigehen noch eine Kule neben den Ball am Elfmeterpunkt haut.
Fernandez läuft an und schießt so perfekt, dass Carlos den Ball wohl auch nicht gehalten hätte, wenn er die Ecke geahnt hätte. Frankreich ist im Halbfinale, Brasiliens Traum einmal mehr zerstört. In der Heimat sollen sechs Fans in jener Sekunde einen Herzanfall erlitten haben und daran gestorben sein. Die Rede ist auch von einem Fan, der mit einem Schuss in den Bauch Selbstmord begehen will, ein anderer wird erschossen.
Dieses Brasilien wird für immer in die Geschichtsbücher eingehen als zweitbeste Selecao aller Zeiten. Die aber nie einen WM-Titel errungen hat. Die Spieler wissen das, als Fernandez' Schuss das Netz ausbeult. "Diese Mannschaft ist tot", sagt ihr Gehirn Sokrates danach. "Es gibt sie nicht mehr."