Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 2, die WM 1934 in Italien: Wissenschaft mit Otto Nerz, Trinkverbot und eine verräterische Orange.
spox"Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn..."
Was ist denn das für ein billiger Knittelvers, blühn/glühn, kann doch jede Fünfjährige, da braucht's doch keinen Dichter net. Sigmund Haringer vom FC Bayern München fühlte die Wut in sich hochsteigen. Goethe, du Lackaff, stell du dich mal hier nei in die Gluthitz auf dem Bahnsteig mit dei Frackschössen, Strumpfhosen und Schnallenschühchen, da möcht ich dich hören von wegen dunklem Laub und Goldorangen, dammischer Johann Wolfgang von, dammischer!
Der Haringer Siggi wusste natürlich, dass der Goethe nichts dafür konnte. Aber er hatte halt schon immer auf der obergärigen Seite des Lebens gestanden. Er liebte sein Weißbier, und wennst das Weißbier zu unbedächtig einschenkst, dann schäumt's über. Und genau so war er halt, der Siggi.
WM-Geschichten mit Uwe Morawe - 1930: Eckig vs. T-Förmig
Seit geschlagenen 40 Minuten stand die deutsche Nationalmannschaft nun schon in der grellen Mittagssonne auf dem Bahnsteig in Neapel. In schwerer Mannschaftsuniform mit Schiebermütze. Morgen stieg im San Paolo das Spiel um Platz 3 gegen Österreich.
Der Funktionär vom Fachamt Fußball, wie es neuerdings hieß, sollte sie abholen und hatte sich offenkundig verspätet. Kann vorkommen, doch warum war man nicht in die schattige Bahnhofshalle gegangen? Wie Zinnsoldaten standen sie da, der Szepan, der Lehner, der Janes und sagten kein Wort. Abgemachter Treffpunkt war Bahnsteig, gemeinsames Ausharren sei Ehrensache, Teamspirit - diese zackigen Ansprachen und Bevormundungen von Reichstrainer Otto Nerz waren es, die dem Sigmund Haringer so gegen den Strich gingen.
Ein treuer SPDler
Vor drei Jahren, als der Siggi zum ersten mal zur Nationalelf kam, war der Nerz noch ein durchaus umgänglicher Mann gewesen. Seinen Hang zu britischen Ausdrücken - Teamspirit! - hatte er schon damals, genauso wie seine geliebten Knickerbocker.
Emporgearbeitet aus dem Arbeitermilieu Mannheims war Nerz der SPD treu geblieben - bis Anfang 1933. Da ging es direkt ab in die SA. Und jetzt war der Mann kaum noch auszuhalten, zumindest nicht für Sigmund Haringer. Wenn sich einer für ein bisserl was besseres hielt, wie der Goethe früher sicherlich auch - damit hatte der Haringer nie ein Problem gehabt. Einen flotten Spruch machen, mal schauen, ob der Hochnäsige mitlacht, da weißt wo du dran bist. Doch wenn sich einer gleich für die menschgewordene Neue Zeit hält, da bist machtlos.
Das Training vom Otto Nerz war jetzt Wissenschaft. Behauptete er. Steigerungsläufe, Kraftübungen, Liegestütze, Klappmesser, Kniebeugen, Steigerungsläufe. Den Ball sahen die Fußballer fast nur noch in den Spielen. Hätt´ ich ja gleich Turner oder Leichtathlet werden können, dachte Siggi Haringer. Und das schlimmste, allerschlimmste war die Ernährung. Auf Schweinsbraten oder ähnlich schwere Kost zu verzichten, das leuchtete dem Siggi ja noch ein.
Doch dieses Trinkverbot! Ein halber Liter Flüssigkeit am Tag, mehr bekamen sie nicht. Streng rationiert und überwacht, morgens eine Tasse Kaffee oder Tee und abends ein winzig kleines Flascherl Wasser. Neue Zeiten sind angebrochen, so das Postulat von Otto Nerz. Die Wissenschaft habe erwiesen, dass Wasser die Körperzellen aufschwemme. Wer viel trinkt, der schwitzt viel, und Schwitzen ist ein Ausdruck von schlechtem Körperzustand. Wissenschaftlich erwiesen! Selbst Zitronen oder Orangen durften nicht gegessen werden. Zu viel Flüssigkeit, das wäre Verrat an der Mannschaft, ein Verbrechen am Teamspirit!
Für Haringer waren es die schlimmsten zwei Wochen des Lebens. Die Kameradschaft untereinander war Eins A, da gab es nichts. Doch diese immerwährende Trockenheit im Mund, diese Wüste Gobi auf der Zunge, das schlug aufs Gemüt. Zu Hause in München hatte er jeden Abend seine Weisse getrunken. Er mochte gar nicht dran denken...
Trotz alledem hatten die Deutschen bisher ein gutes Turnier gespielt. Siege über Belgien und Schweden, eine achtbare Halbfinalniederlage gegen die starken Tschechen, die seit zehn Jahren Vollprofis waren. Alle waren sich einig, das war die beste
Nationalmannschaft aller Zeiten bisher. Blutjung, mit enormen Perspektiven und herausragenden Einzelkönnern. Und dennoch haderte Haringer auch hier mit dem Reichstrainer. Der hatte fatalerweise das in Mode gekommene WM-System für sich entdeckt. Otto Nerz verlangte absolute Positionstreue auf dem Feld.
Doch wie kann das sein, dachte der Haringer Siggi. Wenn jetzt alle dieselbe Taktik spielen, wie kann da die Taktik der Schlüssel zum Erfolg sein, ist doch unsinnig. Haringer war sich sicher, wenn diese Jungs mit mehr Eigenverantwortung ausgestattet frei aufspielen könnten, dann wäre diese Mannschaft bald noch viel besser.
Doch Nerz verlangte vor allem höggschte Disziplin und presste herausragende Individualisten wie den hochsensiblen Stürmer Edmund Conen oder den zurückhaltenden Otto Siffling in seine Schablonen. Und wer nicht spurte, der war draußen. So wie der Dresdner Richard Hofmann, der sich im DFB-Trikot für eine Zigarettenwerbung hatte ablichten lassen - Verstoß gegen das Amateurstatut und Verrat am Teamspirit! Oder wie der Schalker Dickschädel Ernst Kuzorra, der schon geahnt hatte, auf welchen Kasernenhofdrill das hinauslaufen würde und die WM-Teilnahme von sich aus abgesagt hatte.
Seite 1: Das Land, wo die Zitronen blühn und Otto Nerz
Seite 2: Durchtrainierte brave blonde Jungs und die dicke Orange
Übrig blieben allzu durchtrainierte brave blonde Jungs. So wie sie jetzt sein sollten, rank und schlank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder. Von einer eigenen Meinung und Persönlichkeit war in all den Reden interessanterweise nie die Rede. Sigmund Haringer hatte das Gefühl, da stinkt etwas ganz gewaltig. Wer waren denn diese Herren, die die Neue Zeit ausriefen, die Überlegenheit der deutschen Tugend und der deutschen Rasse. Der Nerz, der konnte doch nichtmal den Ball hochhalten, ein lausiger Kicker war das. Und die neuen Politiker, denen der Reichstrainer nachschwadronierte?
Diese Herrschaften, die zum Beispiel beim FC Bayern den Präsidenten Landauer und den Trainer Dombi vertrieben hatten, nur weil sie Juden waren. Diese neuen Menschen sollten tugendhafter als der feine Landauer sein? Der Goebbels schob sabbernd seinen Klumpfuß unter jeden Schauspielerinnenrock, der Göring war 'ne fette Sau, und der Hitler predigte Blond, sah aber aus wie ein Slawe. Siggi Haringer wurde jetzt so richtig grantig. Von wem lassen wir uns hier eigentlich vorschreiben, was wir zu tun hätten?
"Das ist Verrat an der Mannschaft"
Dem Siggi reichte es. Er löste sich aus der Gruppe, ging auf einen Obststand zu und kaufte sich die dickste und prallste Orange, die er finden konnte. Herrlich, wie der süße Saft die Kehle runterfloss. Da hörte er es schon von hinten. Diese unangenehm schneidende Stimme: "Haringer! Das ist Verrat an der Mannschaft! Das geht hinterrücks gegen den Teamspirit!"
Noch auf dem Bahnhofsgleis wurde Sigmund Haringer als erster deutscher Nationalspieler aus einem WM-Kader suspendiert. Er stieg in den nächsten Zug nach München und genoss am nächsten Morgen seine Ruhe und sein Frühstück - a Brezn, a Weißwurst und selbstredend a kühles, frisches Weißbier.
Was sonst noch wichtig war
- Reichstrainer Otto Nerz starb 1949 als Gefangener im sowjetischen Internierungslager Sachsenhausen an Hirnhautentzündung. Antisemitische Hetzartikel aus dem Jahr 1943 hatten zu seiner Internierung geführt. Im Gegensatz zu vielen anderen, die nach kurzen Entnazifizierungsverfahren wieder auf freien Fuß kamen, obwohl sie im Gegensatz zu Nerz auch mit Taten Unrecht und Mord begangen hatten, wurde Nerz ähnlich wie der auch in Sachsenhausen gestorbene Schauspieler Heinrich George als Repräsentant des Nazi-Regimes angesehen. Ob zu recht oder unrecht spaltet in beiden Fällen bis heute die Historiker.
- Zufall oder Auswirkung der neuen gesellschaftspolitischen Umstände? Die beiden größten deutschen Talente Edmund Conen und Otto Siffling schafften nicht den Sprung in die absolute Weltklasse, der ihnen vorgezeichnet schien. Ein Jahr nach der WM litt der zwanzigjährige Conen unter einer Herzneurose und panischer Angst vor Menschen. Er wurde fast fünf Jahre in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik behandelt, bevor er seine Fußballerkarriere danach wieder aufnahm. Otto Siffling, fünffacher Torschütze beim berühmten 8:0 der Breslau-Elf über Dänemark, verstarb mit nur 26 Jahren an einer verschleppten Rippenfellentzündung. Seit Wochen hatten sich die Zuschauer über die nachlassenden Leistungen von Siffling gewundert. Der verschlossene Stürmer hatte niemandem von seinen Beschwerden erzählt und sich nicht in Behandlung gegeben.
- Das Spiel um Platz 3 verzögerte sich um eine halbe Stunde. Deutschland und Österreich hatten beide darauf beharrt, in ihrer traditionellen Spielkleidung Weiß-Schwarz anzutreten und posierten in identischer Montur auch schon auf den Mannschaftsfotos. Der Schiedsrichter fand das nicht so dolle und bat die Mannschaften wieder in die Kabinen. Es konnte noch ein Satz himmelblauer Trikots des SSC Neapel aufgetrieben werden - das Los entschied und Österreich mußte in die fremden Jerseys schlüpfen.
- Die Umstände des ersten italienischen WM-Titels waren skandalös. Die Einflussnahme Mussolinis war enorm und wurde von der FIFA nicht gebremst. Die fünf italienischen Partien wurde ausschließlich von den drei willfährigsten (Un)parteiischen geleitet. Dem Belgier Louis Baert. Dem Schweizer Rene Mercet, der sofort nach dieser WM von seinem Heimatverband auf Lebenszeit gesperrt wurde, weil er den Spaniern im Viertelfinale zwei klare Tore und zwei eindeutige Elfmeter verweigert hatte. Und dem Schweden Ivan Eklind, der im Halbfinale sogar eine gefährliche Flanke der Österreicher aus dem italienischen Sechzehner köpfte! Mit dieser einmaligen Aktion hatte sich der Mann für die Leitung des Finales empfohlen. Am Abend vor dem Endspiel aßen Mussolini und Eklind nachweislich gemeinsam zu Abend.
- Luis Monti ist der erste Spieler der WM-Geschichte, der zwei Endspiele bestritt. 1930 stand er noch in den Reihen der unterlegenen Argentinier. Dann Wechsel zu Juventus Turin und der Staatsbürgerschaft. Monti gilt als einer der härtesten Spieler aller Zeiten und als Begründer der berüchtigten südamerikanischen Innenverteidigerschule.
Seite 1: Das Land, wo die Zitronen blühn und Otto Nerz
Seite 2: Durchtrainierte brave blonde Jungs und die dicke Orange