1954: Sepp gegen die Unverwundbaren

Uwe Morawe
27. Mai 201418:00
Horst Eckel (r.) im Zweikampf mit Nandor Hidegkuti vor der berühmten Uhr im Wankdorfstadionimago
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Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 5, die WM 1954 in der Schweiz: Kleine Bestechungen, rauchende Ungaren, der Kampf gegen die Hämorrhoiden und die nicht ganz Unverwundbaren.

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Ist schon ein ganz besonders schöner Flecken Erde, dieses Berner Oberland. Sepp Herberger hatte die A6 in Thun verlassen, den Schlenker über die Spiezerstraße gönnte er sich noch. Herberger würde rechtzeitig zum Mittagessen bei der Mannschaft sein. Er schmunzelte in sich hinein. Schon seltsam, die letzten vier Wochen war er ununterbrochen bei seinen Jungs gewesen. Und jetzt am Tag des Endspiels hatte er sich abgesetzt.

Sein Job als Trainer war seit der Mannschaftsbesprechung gestern Abend getan. Nicht Mittelläufer Liebrich würde Ungarns Hidegkuti decken, sondern Eckel. Karl Mai, der Wachhund aus Fürth, durfte Koscics, der in vier Spielen elf Tore erzielt hatte, nicht eine Sekunde aus den Augen lassen. Die Konzentration im Besprechungsraum war zum Greifen spürbar gewesen. Jeder hatte begriffen, um was es ging.

100 Franken sind doch keine Bestechung

Die sollen auch mal durchatmen, hatte sich Herberger gedacht, als er frühmorgens in Richtung Wankdorf aufgebrochen war. Aus Aberglaube und Akribie. Die Kontakte des Bundestrainers reichten bis in die Katakomben der einzelnen Stadien. Er hatte erfahren, dass in Wankdorf in wichtigen Spielen bisher immer die Mannschaft gewonnen hatte, die sich in der rechten Kabine umgezogen hatte. Details, um die sich die FIFA zum Glück noch nicht kümmerte. Herberger hatte sich den Zeugwart geschnappt und persönlich überwacht, wie der die Zettel mit "Deutschland" und "Ungarn" an die richtigen Kabinentüren anbrachte. 100 Franken sind doch keine Bestechung, das ist doch lediglich eine kleine Aufmerksamkeit...

Und dann weiter zur Wetterstation. Die heutigen Aussichten wollte er auf Papier gedruckt haben. Ab 14 Uhr einsetzender Dauerregen. Das war für den Fritz, den Übersensiblen. In jungen Jahren hatte sein Kapitän nie Probleme gehabt, bei heißen Temperaturen zu spielen. Mittlerweile war das Fritz-Walter-Wetter so sprichwörtlich, dass die meisten Leute gar nicht mehr wussten, dass es damit eine ernste Bewandtnis auf sich hatte. Malaria als Soldat im 2.Weltkrieg. Malaria bekommst du ein Leben lang nicht mehr raus aus deinem Körper - und ab 25 Grad lässt die Leistungsfähigkeit rapide ab. Deswegen spielte der Fritz am liebsten im Regen. SPOX

Mit dem Fritz, dem ewig Zweifelnden fing vor vier Wochen das Abenteuer WM an. Mit wem auch sonst? Seit der Bundestrainer den damals 18jährigen spindeldürr in Kaiserslautern spielen sah, empfand er für Fritz Walter Gefühle wie für einen Sohn, den er selbst niemals hatte. Die Selbstzweifel und Versagensängste hatte er ihm aber nicht nehmen können. Zum Beispiel dieser Anruf direkt vor dem Trainingslager der Nationalmannschaft. Chef, hatte Fritz Walter drucksend begonnen, ich muss die WM schweren Herzens absagen? Ajo, warum desch amol?, hatte Herberger verdutzt gefragt.

Kampf den Hämorrhoiden

Die Hämorrhoiden waren es. Fritz Walter hatte sich mit Schmerzen im Gesäß durch die Endrunde der Deutschen Meisterschaft geschleppt und im Finale gegen Hannover 96 beim 1:5 kein Bein auf den Boden bekommen. Da kommen´sch erscht amol nach Grünwald. Während die andere trainiere, machma Ihne, Fritz!, schön frisch Kamille-Umschläg.

Die getrockneten Blütenstände der Matricariae flos hatten Wunder bewirkt. Körperlich war Fritz Walter zu WM-Beginn in Topform. Und auch seine Psyche wurde durch den robusten Zimmerkollegen Helmut Rahn immer stabiler. Dem Helmut waren Selbstzweifel unbekannt.

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Seite 2: Rauchende Ungarn und die verwundbaren Unverwundbaren

Der Bundestrainer bog auf die Auffahrt des Hotels Belvedere. Auf den letzten Metern zum Parkplatz zogen vor dem inneren Auge die Spiele der letzten Tage vorbei. Die beiden Partien gegen die Türken, die Abwehrschlacht gegen Jugoslawien, das Offensivspektakel gegen die entkräfteten Österreicher im Halbfinale. Vor allem aber das 3:8 gegen den heutigen Gegner, die Ungarn. Seit vier Jahren war dieses Wunderteam nun schon ungeschlagen, Herberger schätzte, von zehn Spielen gegeneinander würde Ungarn sieben gewinnen, zwei vielleicht Unentschieden enden - und bei dem einen Sieg der Deutschen musste alles zusammenpassen.

Die Unverwundbaren sind verwundbar

Der Bundestrainer zählte die Vorzeichen zusammen. Puskas nicht richtig fit. Ungarn hatten in der K.O.-Runde gegen Vizeweltmeister Brasilien und gegen Weltmeister Uruguay mehr Substanz gelassen als die Deutschen. Gegen Uruguay brauchten sie Glück und die kräftezehrende Verlängerung. Die Öffentlichkeit hatte nach dem 3:8 im Gruppenspiel auf die acht Gegentore geachtet. Herberger sah, dass selbst die B-Mannschaft drei Tore geschossen hatte. Hinten, da waren sie verwundbar, diese scheinbar Unverwundbaren.

Herberger stieg aus dem Wagen, nahm federnd die Stufen ins Hotel, Zuversicht ausstrahlen war angesagt...

Der Rest des Tages verging für den Bundestrainer wie im Flug. Ein Flug mit Autopilot. Schon auf der Busfahrt ins Stadion quietschten die Scheibenwischer, herrlicher Landregen. Das traditionelle "Hoch auf dem gelben Wagen" wurde gesungen. Die Spieler glaubten, dass sei das Lieblingslied des Bundestrainers. Stimmte durchaus, allerdings aus einem besonderen Grunde: wer dieses Lied singt, muss es fast schmettern. Und lautes Singen vertreibt etwaige Angst.

Ungaren rauchen im Bus

Ankunft am Stadion, die Ungarn rauchten sogar im Bus! Alles funktionierte wie am Schnürchen, der Toni, der Fritz, der Max und der Helmut. Er selbst hatte 20 Jahre auf diesen Tag hingearbeitet. Nun musste er selbst nur zweimal energisch eingreifen. Als sich zur Halbzeit Turek und Kohlmeyer in die Haare gerieten, rief Herberger die beiden Streithähne zur Ordnung: "Männer, spart Euch die Luft, Ihr werdet Sie noch brauchen." SPOX

Und als der Fritz mit dem Pokal in der Hand auf ihn zukam. Wie ein kleiner stolzer Junge, der seinem Vater den ersten selbstgeangelten Fisch überreicht. "Lassen Sie mal, der gehört Ihnen und der Mannschaft", hatte Herberger gesagt. Sehr viel musste er an diesem Tag nicht tun...

Anmerkung: viele von Euch werden die Geschichte mit den Hämorrhoiden kaum glauben, weil sie nicht in den Kanon dieses mythischen deutschen Fußballtages eingegangen ist. Die Quelle ist das Buch von Bernhard Gnegel, dem engsten Freund von Fritz Walter unter den Journalisten in Kaiserslautern.

Was sonst noch wichtig war:

  • Die deutschen Spieler waren nach dem Triumph trotz aller Hormonschübe noch so voller Drill, dass sie sich bei der Siegerehrung wieder genau in derselben Reihenfolge aufstellten wie bei den Hymnen vor Anpfiff. Selbst darauf hatte Chef Herberger geachtet.
  • Heute undenkbar: Deutschland und Uruguay teilten sich den Trainingsplatz am Thuner See.
  • Heinrich Kwiatkowski ist der wohl unglücklichste Weltmeister aller Zeiten. Weil sich die eigentliche Nummer Zwei, Heinz Kubsch, bei einer Ruderpartie den Arm ausrenkte, weil er als Nichtschwimmer Panik bekam, stand Kwiatkowski beim 3:8 gegen Ungarn im Tor. Vier Jahre später hütete er im Spiel um Platz Drei den Kasten - 3:6 gegen Frankreich. Macht 14 Gegentreffer in zwei WM-Spielen als deutscher Nationaltorhüter. Von Kwiatkowski ist ein großes Zitat überliefert: "Wir waren doch eine Truppe, haben gemeinsam trainiert und gelacht. Aber nachher hieß es überall nur: die 11 Helden von Bern. Als wäre man nicht dabeigewesen..."
  • Warum war die Türkei gesetzt und nicht Deutschland? Nun, im engeren Sinne war die Türkei gar nicht gesetzt. Zwischen den Türken und den viel stärker eingeschätzten Spaniern musste noch ein Entscheidungsspiel ausgetragen werden. Die FIFA war sich vorher schon sicher, dass Spanien siegen würde und gab den Iberern den Status des Gesetzten. Die Partie endete Remis nach Verlängerung, die Türkei kam durch Münzwurf zur WM und übernahm den gesetzten Status Spaniens.

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