Garrincha und seine Peggie

Uwe Morawe
28. Mai 201423:08
Garrincha (l.) schoss Brasilien 1962 fast im Alleingang zur Titelverteidigunggetty
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Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 7, die WM 1962 in Chile: Brasilien gelingt die Titelverteidigung - trotz des Ausfalls von Pele. Eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann und seinem Transistorradio.

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Schlusspfiff - Brasilien war zum zweiten Mal in Folge Weltmeister. Und heute hatte es auch Garrincha begriffen. Vor vier Jahren noch hatte sich Brasiliens Rechtsaußen nach dem Finale einfach nur gewundert, als die Mannschaftskameraden vor Freude in Tränen ausbrachen. Garrincha hatte geglaubt, dass die WM im Gruppenmodus mit Hin- und Rückspiel ausgetragen werden würde und erst begriffen, dass Brasilien Weltmeister war, als Kapitän Bellini den Pokal in die Höhe stemmte. Garrincha war vom Naturell, wie soll man sagen, nun ja: schlicht.

Die Ärzte hatten bei einer Generaluntersuchung härtere Ausdrücke gefunden. Alkoholiker, Analphabet, an der Schwelle zur Debilität. Aber das war Mario Americo piepegal. Garrincha war und blieb sein Liebling.

Mario Americo ging kraftvollen Schrittes auf Garrincha zu. Americo war Masseur der brasilianischen Nationalmannschaft. Wobei Masseur untertrieben ist. Medizinmann mit Wundergürtel, in dem die selbstgemixten Salben steckten. Nie hat er einen verletzten Spieler läppischen Hilfssanitätern mit Trage überlassen, er warf die Fußballer einfach über seine Schulter und trug sie über die Seitenlinie. Der Freund und Vertrauensmann der ganzen Mannschaft. Der einzige Masseur, der über 25 Jahre lang auf fast jedes Mannschaftsphoto einer Nationalmannschaft kam. Meist mit einem riesigen M für Mario auf dem Pulli. Wer mit Mario Americo nicht konnte, hatte keine Chance, in die Selecao zu kommen.

Billigschnaps gegen den Hunger

Damit hatte Garrincha kein Problem. Americo kannte aus seiner eigenen Kindheit viele dieser Garrinchas. Mit sieben, acht Jahren wurde ihnen Billigschnaps eingeflößt, um den Hunger zu bekämpfen. Entkommen kannst du dieser Hölle nur, wenn du dagegen angehst. Americo selber war Rummelboxer gewesen, war als Schwarze Sensation sogar auf Volksfesten in Nazideutschland in den Ring gestiegen, bevor er zum Masseur umschulte.

Garrincha dagegen hatte seine einzige Chance als Fußballer ergriffen. Obwohl sein linkes Bein nach Kinderlähmung sechs Zentimeter kürzer war und stark nach innen gebogen. Manchen Verteidigern wurde schon beim Anblick dieser krummen Haxen schwindelig. Mario Americo war stolz auf seinen Ziehsohn. Nie zuvor hatte ein einziger Spieler seine Mannschaft derart zum WM-Titel getragen wie Garrincha 1962.

Als Pele sich in der Vorrunde verletzt hatte und auch die Hände von Americo nichts mehr tun konnten, schien die Titelverteidigung für Brasilien dahin. Dieses Turnier 1962 war insgesamt ein unsägliches Gehacke und Getrete. Die Teams hatten auf die Torflut bei den WM´s 1954 und 1958 reagiert. Das althergebrachte WM-System ächzte aus allen Löchern, also zogen sich alle Mannschaften so weit zurück wie noch nie. Schauriger Fußball. Vor allem für einen Brasilianer. Und jetzt war auch noch der Mann ausgefallen, der mit seiner Dynamik die taktische Starre hätte auflösen können, Pele.

Ein Kind als Hoffnungsträger

SPOXDer einzige Hoffnungsträger war ab jetzt ein 29-jähriges Kind. Garrincha, übersetzt "der Zaunkönig". Meist fröhlich plappernd und singend, auf langen Reisen und eintönigen Abenden im Hotel jedoch oft auch melancholisch. Mario Americo hatte natürlich bemerkt, dass Garrincha kein Buch zum Zeitvertreib lesen konnte. Auch das einfachste Kartenspiel war zu hoch für ihn. Deshalb hatte der Masseur kurz vor der Weltmeisterschaft eine Investition getätigt, die sich als die sinnvollste in der Geschichte des brasilianischen Fußballs erweisen sollte. Preis/Leistungsverhältnis unschlagbar. Das Modell Peggie der Firma Akkord aus Herxheim bei Landau in der Pfalz. Weltmarktführer im Bereich Transistorradios. Und Modell Peggie war das leichteste und edelste Stück im Sortiment. Mit Echtlederüberzug.

Garrincha liebte seine Peggie. Vielleicht mehr als seine 14 Kinder mit sechs verschiedenen Frauen - das ist nur die Anzahl der offiziell anerkannten. Musik verstand der Dribbler Garrincha. Er spielte Fußball, als würde er tanzen. Und Peggie gab auf UKW-Welle den Takt vor. Das Transistorradio verschaffte Garrincha permanent gute Laune und er spielte bei dieser WM so konstant wie nie. Ein Paradiesvogel auf Langstreckenflug. Der einzige Farbtupfer dieser ansonsten steingrauen Weltmeisterschaft.

Doppelpack gegen England im Viertelfinale, Doppelpack gegen Chile im Halbfinale. Sein Platzverweis in diesem Spiel wurde annulliert - selbst den staubtrockenen Herren von der FIFA hätte ein Finale ohne Garrincha keinen Spaß gemacht. Er fütterte Vava und Peles Ersatzmann Amarildo mit Vorlagen. Brasilien hatte die CSSR nach Rückstand mit 3:1 geschlagen. Nach dem Abpfiff kam Garrincha lächelnd auf seinen väterlichen Freund Mario Americo zu. Den Spielball in Händen. Hatte Garrincha dem Schiedsrichter abgeluchst. Mit feierlicher Geste übergab er dem Masseur die Lederkugel. War nicht ganz so fein genäht wie die Tasche des Transistorradios, aber immerhin. Du gabst mir Peggie, ich schenke dir den Ball, den ich so sehr liebe.

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WM-Ball? Arschlecken!

Jahre später bekam Mario Americo Post von der FIFA. Der Weltverband forderte ihn auf, den Spielball des WM-Finales 1962 zurückzugeben. Americo sagte Arschlecken und schickte einen anderen Lederball identischen Fabrikats in die Schweiz. Das Original behielt er bis an sein Lebensende und vermachte ihn anschließend dem brasilianischen Verband. Er selber ging in den 70ern in die Politik.

Das Schicksal von Transistorradio Peggie war da schon trauriger. Kurz nach der WM spielte Brasilien ein Freundschaftsspiel in Japan. Als das Team in Tokio gelandet war, machte Garrincha sein Radio an und hörte - welch Wunder - japanische Musik. Garrincha war entsetzt ob der fremden Klänge, glaubte Peggie sei verhext und warf das Radio schweren Herzens in den Mülleimer.

Garrincha selber zog sich nach dem Karriereende in sein Heimatstädtchen 50 Kilometer von Rio entfernt zurück. Keine gute Entscheidung. Er verarmte und starb wie sein Vater an den Folgen seiner Alkoholsucht. Mit 49 Jahren. Die brasilianische Öffentlichkeit war entsetzt, dass sie ihren einstigen Liebling so hatten vergessen können. Über eine Million Menschen säumten die Strecke, die der Leichenwagen von Rio in seine Heimatstadt fuhr.

Garrincha hält bis heute eine Weltrekord. Er blieb in seinen ersten 49 Länderspielen ungeschlagen. Erst sein 50. und letztes gegen Ungarn bei der WM 1966 endete mit einer Niederlage. Dass das WM-Stadion in der Hauptstadt Brasilia nach ihm benannt wurde, geschenkt. Mit Brasilia hatte Garrincha nie was zu tun. Aber auch die Heimkabine im Maracana, in der sich Brasilen umzieht, trägt seinen Namen.

Was sonst noch wichtig war

  • Zwei Jahre zuvor erschütterte das stärkste bis heute gemessene Erdbeben das WM-Gastgeberland Chile. Die Infrastruktur war weitestgehend zerstört. Trotzdem unternahmen die Chilenen alles, um die WM auszuführen. Gespielt wurde lediglich in vier Stadien. Die Touristen blieben aus. 14 der 32 WM-Spiele hatten weniger als 10 000 Zuschauer.
  • Kurz vor dem Turnier lud Sepp Herberger den längst zurückgetretenen Fritz Walter zu sich nach Hause. "Fritz, ich habe sie bei den Alten Herren in Kaiserslautern gesehen. Ich könnte Sie immer noch gebrauchen. Einige schnelle Leute um Sie herum, da müssten Sie gar nicht so viel laufen." Der fast 42jährige schuftete knapp zwei Monate für den Geheimplan eines Comebacks - und sagte Herberger dann doch ab. Das Szenario für den Fall des Scheiterns war ein zu mächtiges Damoklesschwert.
  • Herbergers fatalste Entscheidung fiel einen Tag vor dem ersten deutschen Spiel. Statt des bewährten Hans Tilkowksi, der alle Quali-Spiele absolviert hatte, nominierte er den unerfahrenen Wolfgang Fahrian vom SSV Ulm als Nummer 1. Sicherlich kein schlechter Keeper - aber diese Maßnahme konnte ein Großteil der Mannschaft nicht nachvollziehen. Tilkowski zerschlug noch in der Nacht das Mobiliar auf seinem Zimmer. War nicht schade drum: die Deutschen waren in einer spartanischen Militärschule untergebracht. SPOX
  • Das bis heute härteste WM-Spiel der Geschichte fand zwischen Chile und Italien statt, die "Schlacht von Santiago". Unbedingt mal auf Youtube anschauen, unfassbar und wahnsinnig komisch zugleich. Zwei Meter vor den Augen des Schiris Faustschläge, und der der stellt aus nackter körperlicher Angst keinen Platzverweis aus
  • Diese WM war das vierte und letzte Turnier eines der erfolglosesten und zugleich ohnmächtigsten Trainer, dem Engländer Walter Winterbottom. Als Coach hatte er keinerlei Einfluss auf die Kaderauswahl. Der englische Verband bestimmte die Zusammenstellung und achtete darauf, dass alle Spitzenvereine annähernd paritätisch verteilt waren. Ein echtes Erfolgsmodell! Später wurde Winterbottom zum Ritter geschlagen - wahrscheinlich wegen grenzenloser Selbstgenügsamkeit.
  • Beim Spiel England-Brasilien streunerte ein schwarzer Hund minutenlang über das Spielfeld und konnte nicht eingefangen werden. Erst Jimmy Greaves fand den richtigen Zugang zum possierlichen Köter. Der dankte es ihm allerdings nicht und pinkelte Greaves beim Hinausgetragenwerden aufs Trikot. Fanden die Brasilianer so lustig, dass sie das Tier mit ins Mannschaftshotel mitnahmen und auslosten, wer ihn behalten sollte. Das Los fiel auf, na logo: Garrincha.

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